Johann Georg Rapp (1757-1847) und die Separatisten in Iptingen

Obwohl der Pietismus in Württemberg noch am Ende des 17. Jahrhunderts Eingang gefunden hatte, entstanden in vielen Dörfern erst um 1750 die Privatversammlungen, welche bis heute als ty­pisch für den württembergischen Pietismus gelten. Gegen das Jahr­hundertende kam dann eine starke separatistische Richtung auf, mit der sich Staat und Kirche konfrontiert sahen. Viele Menschen wand­ten sich dieser Richtung zu, um ihren Glauben außerhalb der Kirche zu leben.

Johann Georg Rapp (1757-1847) und die Separatisten in Iptingen

Von: Fritz, Eberhard

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Iptingen
  2. 2: Johann Georg Rapp: Kindheit und Jugend
  3. 3: Die Hinwendung zum Separatismus
  4. 4: Der „Prophet“ von Iptingen
  5. 5: Amerika!
  6. Anhang

Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich in der württembergischen Landeskirche zwei wesentliche Entwicklungen erkennen. Obwohl der Pietismus in Württemberg noch am Ende des 17. Jahrhunderts Eingang gefunden hatte, entstanden in vielen Dörfern erst um 1750 die Privatversammlungen, welche bis heute als typisch für den württembergischen Pietismus gelten. Gegen das Jahrhundertende kam dann eine starke separatistische Richtung auf, mit der sich Staat und Kirche konfrontiert sahen. Viele Menschen wand¬ten sich dieser Richtung zu, um ihren Glauben außerhalb der Kirche zu leben.(1)

Einer der bedeutendsten Separatistenführer war der Leinenweber Johann Georg Rapp aus Iptingen. Er entwickelte eine so starke Anziehungskraft, daß die Zahl seiner Anhänger im Her-zogtum Württemberg selbst von Außenstehenden auf 10000 bis 12000 Personen geschätzt wurde. Seit etwa 1785 bildete sich eine zunehmend größere Separatistengruppe um den Leinenweber, der dann 1803 nach den Vereinigten Staaten auswanderte, um dort seine religiösen Vorstellungen zu verwirklichen. Seine drei Siedlungen Harmony in Pennsylvania, New Harmony in Indiana und Economy, wiederum im Staat Pennsylvania, entwickelten sich zu vielbesuchten Musterwirtschaften.(2)

Im wesentlichen haben sich zwei Forscher grundlegend mit Johann Georg Rapp und seiner Bewegung beschäftigt. Der Iptinger Pfarrer Viktor Rauscher widmete dem bekanntesten Sohn seiner Gemeinde einen längeren Aufsatz. In bemerkenswert ausgewogener Weise würdigt er Rapp, den er nicht nur als Irrenden und Abgefallenen sieht.(3)

Aus einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Geschichte Rapps und seiner Gruppierung heraus entstanden umfangreiche Quellenpublikationen des amerikanischen Germanistikprofessors Karl J.R. Arndt. Arndt wertete auch wiederentdecktes Quellenmaterial aus dem Archiv der Rappisten in Harmony aus. Seine Forschungen haben viele Quellen ans Licht gebracht, welche auch für die Geschichte der württembergischen Landeskirche bedeutsam sind. Alerdings gibt es dabei zwei Einschränkungen: Trotz umfangreicher Auswertung des Aktenmaterials in den kommunalen, kirchlichen und staatlichen Archiven(4) , trotz zuverlässiger Transskription (bei häfig unzureichenden Nachweisen) hat Arndt den Schwerpunkt eindeutig auf die Entwicklung der Gemeinschaft in Amerika gelegt. Die Jahre bis zur Auswanderung nach Amerika werden so zum Vorspiel einer urchristlichen Gemeinde unter der Führung von „Father Rapp“ in Amerika. Kritische Beurteilungen des Separatistenführers schreibt Arndt einem Mangel an religiösem Verständnis und Pietät zu. Über die Anfänge in Iptingen erfährt man nur Unzusammenhängendes, da weder die allgemeine politische Situation noch die örtlichen Voraussetzungen berücksichtigt sind. Diesen Mangel hat Arndt selbst empfunden; im Vorwort seines Buches „George Rapp's Separatists“ beklagt er sich darüber, daß ihm in Württemberg niemand den Aufbau des Dorfes im 18. Jahrhundert und die Funktion verschiedener Amtsinhaber (z.B. Heiligenpfleger, Konventsrichter) erläutert habe. Daraus wird verständlich, warum Arndt aus den Visitationsprotokollen lediglich die Angaben über die Separatisten entnimmt. So entgehen ihm die gesamten Angaben über das Geschehen im Dorf selbst, beispielsweise über das Verhältnis zwischen Pfarrer und Magistrat. Es wird zu zeigen sein, daß darin einige Erklärungen zur Entwicklung des Johann Georg Rapp enthalten sind.

Außerdem hat Arndt in seinem Dokumentenband fast nur Quellen veröffentlicht, die Johann Georg Rapp selbst betreffen. Damit machte er sich die oft geübte Praxis der pietistischen Geschichtsschreibung zu eigen, Spannungen innerhalb der Gruppierung zu ignorieren, um die vermeintliche Geschlossenheit nicht zu gefährden. Arndt sieht die Bedeutung Rapps schon in seinen Anfängen und tendiert dazu, die Ernsthaftigkeit der mit ihm konfrontierten kirchlichen und staatlichen Personen und Organe in Frage zu stellen. Deshalb kann seine umfangreiche Quellensammlung, die zweifelsohne eine immense, für die Forschung sehr wichtige Fleißarbeit - und eine unentbehrliche Grundlage für diesen Aufsatz - darstellt, nur der Anfang einer fundierten Erforschung und Darstellung des Johann Georg Rapp und seiner Anhänger sein.

Eine ortsgeschichtliche Darstellung des Wiernsheimer Altbürgermeisters Karl P. Seeger aus neuerer Zeit enthält einen Abschnitt über die Rappisten, ohne wesentliche neue Erkenntnisse zu vermitteln.(5)  Seeger verengt die Darstellung zu sehr auf Rapp, ohne zu berücksichtigen, daß selbst in Iptingen nicht alle pietistisch-separatistisch Gesinnten zu seinen Anhängern zählten. Nach Rapps Auswanderung bestand in Iptingen weiterhin eine Versammlung der Separatisten.

Mit diesem Aufsatz soll der Versuch unternommen werden, die Entwicklung des Separatistenführers Johann Georg Rapp und der separatistischen Versammlung in Iptingen darzustellen, soweit dies aus den vorhandenen Quellen möglich ist. Dabei dienen die beiden angeführten Arbeiten als Grundlage. Außer den edierten Kirchenkonventsprotokollen wurde weiteres, weder von Rauscher noch von Arndt ausgewertetes Quellenmaterial herangezogen.(6)  Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Einordnung der separatistischen Gruppe in die lokalen Gegebenheiten in Iptingen.

1: Iptingen

Der Ort Iptingen liegt in einem engen Thal zwischen hohen Ge­birgen; es fließt durch das­selbe ein Bach von Südwest gegen Ost; es bildet durch seine Gebäude einen rechten Winkel von Mittag um einen vorstehenden Berg gegen Morgen, gegen Mittag dehnt sich der längere Schenkel, gegen Abend der kürzere aus; beim Zusammentref­fen von beiden steht Pfarrhaus und Kirche, die an das Feld stos­sen.

Der Ort ist gesund, und mit vortrefflichem Wasser versehen. Die nächste Ort sind Mönsheim, 3/4 Stunden entfernt auf ebenem Weg. Wiernsheim, 3/4 Stunden entfernt, man hat 2 Berge bis dahin zu übersteigen. Grosglattbach, 3/4 Stunden entfernt, ein ziemlicher Berg trennt beide Orte. Auf Nußdorf, 3/4 Stunden entfernt, führt ein Weg immer bergan. Weisach ist eine Stunde entlegen, man muß über einen Berg durch den Wald dahin kommen, die Wege sind nicht gut.

Der Nahrungs-Stand des Orts ist ziemlich gut. Es sind gegen 180 Morgen Wiesen vorhanden, die Aeker liegen zwar größtentheils auf den Bergen, sind mit vielen Steinen besät, doch ist der Ertrag bei vielen gut. Es wächst ein ziemlich guter Wein an dem Berge, der von Abend gegen Morgen sich zieht, wenngleich die Pflanzung etwas vernachläßigt wird. Es sind auch hinlänglich Waldungen vor­handen. (7)

So lautet die geografische Beschreibung des Dorfes Iptingen im Pfarrbericht 1828. Mit Sicherheit wird das Dorf im Pfarrbericht recht optimistisch ge­schildert. Wie zu allen Zeiten bestanden sehr große soziale Unterschiede zwischen den ver­schiedenen Bevölkerungsgruppen. Zwar warf der Weinbau in der Regel bessere Erträge ab als Ackerbau und Viehzucht, aber er erforderte einen wesentlich höheren Arbeitsaufwand. Als Folge der Realteilung herrschte eine starke Güterzersplitterung, wodurch die Bewirt­schaftung erschwert wurde. Wie überall im Herzogtum Württemberg waren viele Männer waren genötigt, neben ih­rer Landwirtschaft noch ein Handwerk zu betreiben, das freilich wegen der Überbesetzung der Handwerksberufe nicht genügte, um den Lebensunterhalt für eine Familie zu bestreiten.

Besonders während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich die Situation in den Dörfern drastisch verschärft. Als Folge eines starken Bevölkerungswachstums lebten nun wieder mehr Menschen als vor dem Dreißigjährigen Krieg.(8) Da die Ausweitung der landwirt­schaftlichen Nutzfläche nicht mit dem Wachstum der Bevölkerung Schritt hielt, sanken zahl­reiche Einwohner in die Unterschicht ab. Bei der stän­dischen Gliederung der gesamten Ge­sellschaft bedeutete dies ein Leben in Armut, aber auch ohne jeden Einfluß auf die Geschicke des Dorfes. Die vermögendsten Männer des Dorfes saßen in Gericht und Rat. Vielfach mit­einander versippt und verschwägert, vertraten sie die Interessen ihres Familienverbandes. Magistratus et officia publica (öffentliche Ämter) sind meistens mit des Schultheißen nächsten Freunden und Vettern(9) besetzt, klagte Pfarrer Göz in Iptingen anläß­lich einer Visitation.(10) Anhand des erhaltenen Bürgerbuches lassen sich die engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Gerichts- und Ratsverwandten nachweisen.(11) Darunter litten nicht nur die Ar­men, son­dern auch der Pfarrer bekam im kirchlichen Bereich viele Mängel zu spüren. Häufig vernach­lässigten die Heiligenpfleger den Einzug der kirchlichen Abgaben und Zinse. In Iptingen war freilich auch bei vielen Abgabepflichtigen wegen ihrer hohen Schulden nichts zu holen; die Ausstände des Heiligen mehrten sich ständig.

Auch von seiner Person her bekam mancher Pfarrer Schwierigkeiten mit dem Schultheißen oder den Gerichts- und Ratsverwandten. Der Geistliche kam von außen ins Dorf; er war ein gebildeter, in man­cher Hinsicht häufig aber auch etwas weltfremder Mann. Die meisten Pfar­rer hatten seit ihrer Jugend kirchliche Bildungsanstalten besucht, die ihnen eine eigene Prä­gung verliehen hatten: die Seminare und das Tübinger Stift. Viele kamen selbst aus einem Pfarrhaus, waren mit einer Pfarrerstochter verheiratet. In der Regel besaßen sie ein beträchtli­ches Vermögen, das zu einem großen Teil aus verlie­henen Kapitalien bestand.(12) Was sich für die Landeskirche zum Vor­teil auswirkte - ein relativ einheitlicher geistlicher Stand -, konnte in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Dorf sehr nachteilig für den Pfarrer selbst sein.

Schon Pfarrer Wilhelm Christian Faber (13), während dessen Iptinger Amtszeit Johann Georg Rapp geboren wurde, beklagte sich über das Ärgernuß, welches der Schultheiß Johannes Krämer und die Ge­richtsverwandten durch ihren anstössigen Wandel bei der Gemeinde er­regten.(14) Wahrscheinlich meinte Pfarrer Faber damit einen schlechten Kirchenbesuch und fehlende Hilfeleistung bei der Verse­hung seiner kirchlichen Aufgaben. Zwar besserten sich die Dorfho­noratioren angeblich nach einer Zurechtweisung des Pfarrers, aber von einem guten Verhältnis konnte trotzdem keine Rede sein.

Nach dem Tod Fabers 1761 folgte der pieti­stisch gesinnte Pfarrer Friedrich Christian Göz. Inzwischen war das Amt des Schultheißen von Johann Krämer auf dessen Sohn, den Schulmeister Johann Friedrich Krämer (1724-1799) übergegangen. Krämer hielt sich den Provisor Johann Michael Mammel (1742-1803), dem er die Schule ganz überließ.(15) Erneut kam es zu Auseinandersetzungen zwi­schen dem Pfarrer und dem Schultheißen. Bei der Visi­tation 1773 erhob Pfarrer Göz schwere Vorwürfe gegen Krämer: Geht dem Pfarr­amt wenig an die Hand; sorgt nicht sonderlich vor das pium corpus; ist ein geringer Schulfreund; gibt in Be­suchung des Gottesdienstes kein so gutes Beispiel als die Richtere. Der Spezial von Dürrmenz schrieb an den Rand: Schultheiß setzt sich über jedermann, auch sein bißheriges Oberamt hinaus; ist heimtückisch, listig, gefähr­lich. Visitator sprach ihme freundlich zu, er möchte doch dem Frieden, den Pastor so sehnlich wünsche, nichts mehr in den Weg legen.(16)

Den Hintergrund dieser schlechten Urteile über den Schultheißen bildeten schwere Streitig­keiten zwischen Pfarrer und dörflicher Ehrbarkeit. Friedrich Christian Göz warf Schultheiß und Richtern vor, sie würden dem Widdumgut schweren Schaden zufügen, indem sie das Vieh der Iptinger Bauern unrechtmäßig darauf weideten und dar­über hinaus die Zäune be­schädigten. Überdies bemängelte er, daß die Bauern bei Kulturveränderungen auf ihren Fel­dern keinen klei­nen Zehnten mehr entrichteten. Besonders von Wicken oder Esper wollten Schultheiß und Richter keinen kleinen Zehnten mehr verab­folgen lassen. Die Bürger zäunten ihre an das Widdumgut grenzenden Grundstücke nicht mehr ein; ließ der Pfarrer einen Zaun errichten, so rissen sie ihn ein, um einen Fußweg zu erhalten. Lediglich Christian Hörnle, der sich später von der Kirche separierte, traf eine private Vereinbarung mit dem Pfarrer über seine Berechtigun­gen auf dem Widdumgut. Durch diese Behinderungen wurde das Einkom­men des Pfarrers, dem der kleine Zehnt zustand, geschmälert. Alle diese Beschwerden führten zu einer gründlichen Untersuchung des Oberamts Vaihingen, welche die Span­nungen zwi­schen Pfarrer Göz und der dörflichen Ehrbarkeit noch verschärfte.(17) Als Göz im Jahr 1779 starb, zog Andreas Genter (18) als Pfarrer in Iptingen auf. Er nahm eine ganz andere Haltung zu den führenden Männern des Dorfes ein als sein Vorgänger: In den Visitationspro­tokollen fiel sein Urteil über sie recht gut aus, sämtliche Klagen hörten auf. (19)

Bereits in den späten dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts entstand in Iptingen eine pietistische Bewegung. Mit Pfarrer Wilhelm Chri­stian Gmelin (1684-1746) (20) kam im November 1738 ein Anhänger des separatistisch gefärbten Pietismus ins Dorf. Als Vikar in Holzgerlingen war Gmelin wegen seiner separatistischen Gesinnung aufgefallen und 1708 aus dem Dienst entlassen worden. Gmelin hatte zwei separatistische Schriften verfaßt und verbreitete bei seinem Bruder in Herrenberg kirchenkritische Gedanken.(21) Deshalb mußte er das Land verlassen. (22) Erst nachdem er sich bei seiner Rückkehr von den separatisti­schen Gesinnungen losgesagt hatte, erhielt er eine Anstellung in Württemberg. Im Jahr 1717 wurde er Pfarrer in Ochsenbach, geriet aber bald in Schwierigkeiten mit seiner Gemeinde, weil er zahlreiche Gemeindeglieder wegen ihrer Verfehlungen vom Abendmahl ausschloß. Spezial und Kirchenleitung mußten Gmelin zur Mäßigung ermahnen. Aber die Auseinander­setzungen verschärften sich, und Gmelin konnte sich schließlich nicht mehr in Ochsenbach halten. (23) Zwanzig Jahre wirkte Wilhelm Christian Gmelin in Ochsenbach, bevor er 1738 nach Ip­tingen versetzt wurde. Dort soll er wie auf seiner vorigen Pfarrstelle das Abendmahl nach so strenger Vorbereitung gehalten haben, daß er viele abschreckte und sich deshalb anläßlich der Visitation verantworten mußte. (24) Allerdings wird von ihm auch berichtet, er habe sich fast zu Tode gearbeitet und einen großen Teil seines Vermögens den Armen gegeben. Pfarrer Gmelin muß eine anziehende Persönlichkeit gewesen sein. (25) Kurz nach seinem Amtsantritt in Iptingen richtete er auf Verlangen einiger Gemeindeglieder eine Privatversammlung ein. Schon im ersten Winter gehörten ihr 18 Personen an. (26) Bald stieg die Besucherzahl an. Der Maulbronner Spezial berichtete 1742 über die Versammlung: Pfarrer Gmelin hält über das noch an Sonn- und Feyertagen eine private Versammlung in seinem Haus, darin 20 biß 30 Personen von der Gemeinde kommen, und sich in Singen, Beten, Lesung der H[eiligen Schrift, Repetition der Predigt üben. (27)Vielleicht läßt sich die geistesgeschichtliche Wurzel des Iptinger Sepa­ratismus auf Pfarrer Gmelin zurückführen. Sollte Pfarrer Gmelin tatsächlich seine Überzeugungen vollständig geändert haben, als er in den Pfarrdienst trat?

Nach dem Tod von Wilhelm Chri­stian Gmelin 1746 übernahmen Gemeindeglieder aus Iptingen die Leitung der Privatversammlung. Über die Gesinnung des Pfarrers Wilhelm Christian Faber ist nichts bekannt, aber mit Friedrich Christian Göz (28)wirkte seit 1761 erneut ein überzeugter Pietist auf der Iptinger Pfarrstelle. Schon in seiner vo­rigen Gemeinde Bernloch auf der Schwäbischen Alb hatte Göz eine sehr große pietistische Versammlung begründet.(29) Göz war ein sehr wohl­habender, aber auch überaus belesener Mann mit einer umfangreichen Bibliothek.(30) In seiner neuen Gemeinde fand der Pfarrer die an­sehnliche Privatversammlung vor. Im Visitationsprotokoll von 1760 hatte Pfarrer Faber darüber allerdings recht kritisch berichtet: In Privat-Versammlung kommen 15 biß 20 Personen, so wohl die Wochen durch in gewissen Tagen als sonderlich an Sonn- und Feyertagen, zusammen; lesen zuweilen ein Capitel aus der Bibel, zuweilen etwas aus einem andern, willkührlich erwählten Buch. Singen ein Lied aus dem Ebersdorfer Ge­sangbuch, beschliessens mit einem sogenannten Hertzens-Gebet. Führen einen erbaren Wandel und hüten sich für groben, in die Augen fallenden Sünden. Bey den meisten scheinet solich ihre äusserliche Übung ein opus operatum zu seyn, worin sie sich sehr wohlgefallen. Wanns aufs schibboleth des Zeitlichen ankommt, so ist zwischen ihnen und andern irdisch Gesinnten ein schlechter Unterschied. Doch ist sonst mehr Gutes bey ihnen zu suchen, und zu hoffen, als bey der rohen Welt, von welcher sie sich durch ihr Wesen unterscheiden, darin sie sich jenen nicht gleich stellen.(31)Bald begann Pfarrer Göz, wieder selbst im Pfarr­haus „Stunden“ zu halten; wenn er abwesend war, fanden die Ver­sammlungen im Haus des Ratsverwandten Jo­hannes Weber statt.(32)Göz muß wie sein Amtsvorgänger Gmelin eine anziehende Persönlichkeit gewesen sein, denn in seiner Amtszeit wuchs die Privatversammlung erneut sehr stark an.

2: Johann Georg Rapp: Kindheit und Jugend

Eintrag im Taufregister von Iptingen für den 1.11.1757 für Johann Georg Rapp

LKAS, Kirchenbucharchiv, Iptingen, Band 2, Mischbuch 1700-1788

Am 1. November 1757 wurde dem Ehepaar Johann Adam Rapp und seiner Frau Rosine als zweites Kind ein Sohn geboren, der nach dem Großvater den Namen Johann Georg er­hielt. (33) Um Verwechslungen mit einem anderen Iptinger Bürger gleichen Namens auszu­schließen (der ebenfalls das Weberhandwerk ausübte), rief man den Sohn des Johann Adam Rapp später allgemein „Räpple“ - ein Name, dessen sich auch seine späteren Anhänger be­dienten. Nach der Geburt des Jungen folgten noch drei weitere Kinder, zwei Töchter und ein Sohn.(34)

Die Familie war sehr arm. Schon auf dem Vermögen des Großvaters Hans Jörg Rapp (1678-1751) hafteten sehr hohe Schulden, was in der Even­tualteilung nach seinem Tod eigens be­merkt wurde. (35) So gehörte der Vater Johann Adam Rapp (1720-1771) der Unterschicht des Dorfes an.(36) Fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters heiratete er eine arme Bür­gerstochter aus Mönsheim, Rosine Berger. (37) Schlecht und recht konnte das Ehepaar die Familie erhalten; es wird häufig Hunger ge­herrscht haben. In der Schule soll Johann Georg Rapp aufgeweckt, aber auch eigensinnig gewesen sein. Leider sind aus dieser Zeit keine Aufzeichnungen über die Schulleistungen der Kinder erhalten.(38) Pfarrer Genter schrieb später, der Separatistenführer sei schon als Schuljunge ein Grübler gewesen.(39) Früh scheinen narzistische An­liegen mit einer starken religiösen Motivation sowie der Drang, andere zu beherrschen, zum Vorschein gekommen zu sein. (40) Viktor Rauscher erzählt eine - keineswegs unglaubwürdige - Anekdote, wonach Johann Georg Rapp schon als Junge andere für sich arbeiten ließ, während er ihnen „predigte“. Auch später führten selbst seine Gegner die immense Anziehungskraft der separa­tistischen Versammlungen hauptsächlich auf die Rednergabe von Johann Georg Rapp zu­rück.

Als Pfar­rer Friedrich Christian Göz nach Iptingen kam, war Johann Georg Rapp ge­rade vier Jahre alt. Der dreizehnjährige Junge verlor am 16. Mai 1771 seinen Va­ter, der im Alter von 51 Jahren starb und seinen Erben wie schon der Großvater ein überschuldetes Vermögen hinter­ließ. Im Frühjahr darauf, am Sonntag Quasimodogeniti, dem 26. April 1772, wurde Johann Georg Rapp von Pfarrer Göz mit vier weiteren Jungen und fünf Mädchen konfirmiert.(41) Gleichzeitig kam er „aus der Schule“ und erlernte das Handwerk des Leinenwebers.

Pfarrer Göz dürfte auf den Jungen einen starken Eindruck gemacht haben, vielleicht war er sogar in gewisser Weise ein Ersatz-Vater für ihn. Ob Johann Georg Rapp schon als Jugendlicher vor seiner Wanderschaft die Privatversammlungen bei Pfarrer Göz besuchte, ist unklar.(42) Mit Sicherheit hat die konfliktbeladene Be­ziehung des Pfar­rers gegenüber den dörflichen Honoratioren Rapp nachhaltig beein­flußt. In einer Zeit, in der sich ohnehin starke Auseinanderset­zungen zwischen den Dorfmagistraten und den Angehörigen  der Un­terschicht abspielten - besonders kraß nach der schweren Hungers­not 1771 um die Austeilung der Allmanden -, mußten kritische Äuße­rungen des Pfar­rers über Schultheiß, Gericht und Rat dem armen Dorfjungen besonders imponieren. Am 8. August 1779 starb Pfarrer Göz an apoplectischen Anfällen.(43) Als Nachfolger kam Andreas Genter ins Dorf, der von Anfang an  die Männer der dörfli­chen Oberschicht eher günstig be­urteilte. Nach dem Tod des Pfarrers Göz wurden die Privatversammlungen von Laien im Haus des Bauern Johannes Weber gehalten. Sie liefen ab wie andernorts im Herzogtum Württem­berg auch. Neben den Texten aus der Bibel wurden Abschnitte aus den Erbauungsbüchern von Immanuel Gottlob Brastberger sowie aus Friedrich Christoph Steinhofers „Erklärung der Epistel an die Hebräer“ vorgelesen.(44)

Wahrscheinlich aber befand sich der junge Leinenweber beim Tod des Pfarrers Göz schon nicht mehr im Dorf. Er begab sich auf mehrjährige Wanderschaft.(45) Diese Wanderjahre müs­sen in die Zeit nach 1777 fallen, da der Besuch des Abendmahls für die Jahre 1772 bis 1777 belegt ist.(46) Für den Beruf des Leinenwebers war eine Wanderzeit nicht vorgeschrieben. Wahrscheinlich suchte sich der junge Mann sein Auskommen in der Fremde, um seiner Fami­lie nicht zur Last zu fallen.(47)

Es ist nicht bekannt, wo Johann Georg Rapp sich in der Fremde aufhielt. Besuchte er etwa die Niederlande mit ihren unzähligen religiösen Gruppierungen, oder die Separatisten am Nie­derrhein? Vielleicht kam er während dieser Zeit erstmals in Kontakt mit separatistischen Krei­sen. Andererseits ist nirgends in den Quellen die Wanderschaft als auslösendes Moment für die Trennung von der Kirche angegeben. Rapp selbst berichtete sogar von einem lasterhaften Leben in dieser Zeit; er sei ein wahrer Asoth gewesen. Die Dauer der Wanderschaft läßt sich nicht genau bestimmen; nach den Jahren in der Fremde kehrte der junge Weber in sein Heimatdorf zurück, um dort seinen Beruf auszuüben. Nach seiner eigenen Aussage konnte er sich zunächst nicht an die strenge Ordnung der Kirche mit der zwingenden Verpflichtung zum Gottesdienst- und Abendmahlsbesuch nicht gewöhnen.(48) Er kam als der unartigste Mensch in sein Heimatdorf zurück, worauf ihm der Pfarrer riet, sich vom Abendmahl zu enthalten, bis er sich gebessert habe. Seine Mutter entschuldigte sich bei Pfarrer Genter für das lasterhafte Verhalten ihres Sohnes. Tatsächlich besuchte Rapp wieder die Abendmahlsgottesdienste. (49) Plötzlich jedoch ging ein völliger Wandel mit ihm vor. Er schloß sich der pietistischen Privat­versammlung im Haus des Bauern Johannes Weber an. Nach seinen eigenen Worten erlebte Rapp im Jahr 1780 eine Bekehrung, kam jedoch immer wieder vom Glauben ab. Ausdruck dieser religiö­sen Suche war eine starke innere Unruhe.(50) Äußerlich standen diese Erlebnisse vielleicht auch im Zusammenhang mit des Wahl seiner Braut. Jedenfalls fällt das endgültige Bekehrungser­lebnis in das Jahr seiner Eheschließung.(51)

Im Alter von 25 Jahren schloß Johann Georg Rapp am 4. Februar 1783 die Ehe mit Christina Benzinger, der Tochter des damals bereits verstorbenen Gerichtsverwandten und Heiligenpflegers Johannes Benzinger aus Friolzheim. Im Heimatort der Braut wurde die Hochzeit gefeiert. Sicher hatte Rapp seine Frau in der Friolzheimer Privatversammlung kennengelernt.(52) Unter ihrem Beibringen befand sich auch ein Exemplar des „Schatzkästleins“ von Philipp Friedrich Hiller. In wirtschaft­licher Hin­sicht machte der Leinenweber eine sehr vorteilhafte Partie, da die Braut gut dreimal soviel in die Ehe brachte wie der Bräutigam. Neben einem deutlich besseren und umfangrei­cheren Hausrat besaß sie 500 fl. in barem Geld, welche  sie aus dem Verkauf ihrer Güter in Friolzheim erlöst hatte.(53) Zwar mußte sich der Ehemann verpflichten, seiner Schwiegermut­ter jährlich nicht unbeträchtliche Naturalabgaben zu leisten, aber trotzdem gehörte er mit dieser Heirat nicht mehr zu den ärmsten Leuten im Dorf. Wenn auch sein Vermögen später noch als gering bezeichnet wird, so dürfte im Hause Rapp nicht mehr die nackte Not geherrscht haben.

Mit der Eheschließung verbunden war die Aufnahme Rapps ins Iptinger Bürgerrecht. Schon am 22. Dezember 1783 wurde dem Ehepaar der Sohn Johannes geboren, der in der Kirche getauft wurde. Zwei Jahre später, am 10. Februar 1785, kam die Tochter Rosine zur Welt und erhielt ebenfalls die kirchliche Taufe, obwohl sich die Eltern inzwischen von der Kirche ab­gewandt hatten.(54)

Wie aus den Abendmahlsregistern der Pfarrei Iptingen hervorgeht, besuchten die Eheleute Rapp nach ihrer Heirat noch zweimal den Abendmahlsgottesdienst in der Kirche.(55) Dann separierten sie sich und begründeten ihre eigene Versammlung. Von Anfang an stand Chri­stina Rapp voll hinter ihrem Mann, teilte seine separatistischen Überzeugungen und sah ihn als wahres Kind Gottes.(56) Pfarrer Genter beurteilte sie im allgemeinen Denken der damaligen Zeit als schwaches Werkzeug ihres Mannes, voller Eigensinn und Hartnäckigkeit.{Pfarramt Iptingen: KKP 15.4. 1785; Arndt (wie Anm. 4), S. 70. Im Ge­gensatz zu ihrer Schwiegertochter blieb die Mutter Rapps, Rosine Rapp, bis zu ihrem Tod im Februar 1796 bei der Kirche.

3: Die Hinwendung zum Separatismus

Seite 1 eines 62-seitigen Befragungsprotokolls Rapps vom 18.5.1787 in Iptingen

LKAS, A 26, Nr. 473,2 (Bericht über Johann Georg Rapp von Iptingen)

Bereits als lediger Mann hatte sich Johann Georg Rapp der pietistischen Privatversammlung bei Johannes Weber angeschlossen. Da seine Braut ebenfalls aus pietistischen Kreisen stammte, besuchten beide Eheleute nach der Heirat die Erbauungsstunden. Diese Versamm­lung war nach wie vor recht ansehnlich; nach einem Bericht von 1785 zählte sie 25 Besu­cher.(57) Bald jedoch gerieten Rapp und Weber in heftigen Streit, weil der Leinenweber dem Ratsverwandten Eitelkeit wegen seines Reichtums vorwarf. Johann Georg Rapp bezichtigte Weber des Geizes und meinte, daß einer den Teufel zuerst bei sich selber austreiben müsse, ehe er ihn bei anderen austreiben könne.(58)

 Es kam zum Bruch. Zunächst verließ das Ehepaar Rapp die Privatversammlung bei Johannes Weber, Johann Georg Rapp verließ die Privatversammlung, wahrscheinlich, weil er sich selbst zu einem Haupt und Lehrer aufwerfen wollte. Bald aber stellten sich Christian Hörnle und Michael Conzelmann auf die Seite Rapps. Unter der Leitung des Johann Georg Rapp - nach zeitgenössischen Zeugnissen kam ihn diese Aufgabe sauer an - entstand eine eigene Versammlung.(59) Inzwischen hatte Rapp Johann Michael Hahn(60) kennengelernt, als er 1785 in Tübingen kranke Brüder besuchte: Bekennet aber, gesagt zu haben: Es dörffe niemand lehren, wer nicht in Tübingen studirt habe, und er habe seinen er­sten Grund in Tübingen gehohlt, ...indem er durch einen Menschen nahmens Michael Hahn von Altdorf daselbst auf diesen Weg gebracht worden. Hahn lehrte den Iptinger Leinen­weber die verschiedenen Stufen der Reinigung, welche ein Christ durchlaufen müsse. Der Pietismusforscher Hartmut Lehmann sieht den Unterschied zwischen den beiden pietistischen Führergestalten darin, daß Hahn von den sozialen Kräften seiner Zeit nur wenig bewegt gewesen sei, während Johann Georg Rapp aufgrund seines anderen Naturells viel entschiedenere politische Konsequenzen aus den „Zeichen der Zeit“ zog.(61)

Rasch übte die separatistische Versammlung bei Ehepaar Rapp in der Hinteren Gasse eine starke Anziehungskraft aus. Zunächst versammelten sich die drei Männer mit ihren Frauen zu einer „Bibelstunde“ an wechselnden Tagen, aber bald gewann Rapp weitere Anhänger. Mit seiner Beredsamkeit und Überzeugungskraft zog er die Menschen in seinen Bann. Selbst Pfar­rer Genter mußte zugeben: Er hat einen ganz unbescholtenen äusserlichen Wandel, lebhaften Geist, grosse Freymüthigkeit und viele gute Kenntnisse; aber daß eine grosse Dosis von Eitel­keit der Grund seines Benehmens in dieser Sache sey, läßt sich nach allen Protocollen gar nicht verkennen.(62)

Nun war die Separation des Ehepaars Rapp nicht mehr zu verbergen. Am 15. April 1785 wurden beide Eheleute vor den Kirchenkonvent zitiert und verhört.(63) Bereits in dieser ersten Verhandlung trat der Separatist dem Pfarrer und den Konventsrichtern mit einem unerschüt­terlichen Selbstbewußtsein entgegen. Bei dieser Befragung zeigt sich schon die sprachliche Gewandtheit des Separatisten, durchsetzt mit Ironie und Spott. Seine Antworten wählte er so geschickt, daß er zwar nicht log, aber auch nicht die ganze Wahrheit sagte. Beispielsweise antwortete er auf die Frage, ob er seine Grundsätze ausbreite: Nein! Wenn ihn niemand frage, so sage er nichts!(64) Mit einiger Berechtigung verwies Rapp auch darauf, daß pietistische und separatistische Strömungen eng miteinander verwandt seien.(65) Zwei Tage nach der Kirchenkonventsverhandlung übergab Johann Georg Rapp dem Pfarrer ein Schriftstück, in dem er seine religiöse Überzeugung darlegte.(66)

Bereits zu dieser Zeit dürften auch Besucher aus anderen Orten in das Haus des Ehepaars Rapp gekommen sein. Mehrere Eigenheiten der separatistischen Versammlungen zogen die Menschen an. Im Gegensatz zu den vielen, recht eintönigen Gottesdiensten in der Kirche, bei denen eine lange Predigt des Pfarrers im Mittelpunkt stand, redete in den Versammlungen je­der, der sich dazu berufen fühlte. Ein starker Biblizismus vermittelte den Separatisten das Ge­fühl, die wenigen Auserwählten zu sein und den nahen Anbruch der Endzeit als Erlöste zu er­leben. Deshalb nahm die Auslegung der Johannes-Offenbarung einen besonderen Stellenwert in den Versammlungen ein. Als Auserwählte freuten sich die Separatisten auf das Ende der Welt. Dies kam auch in ihren Liedern zum Ausdruck. Viele davon wurden nach Melodien der damals populären weltlichen Lieder gesungen und mit der Zither begleitet.(67) Auch damit hoben sich die Separatisten von den öffentlichen Gottesdiensten ab, in denen man die Lieder zur Orgelbegleitung recht langsam sang. Zu den Versammlungen brachten die Vermögenden so viele Lebensmittel mit, daß es für alle reichte. Notleidende Brüder wurden unterstützt.

Pfarrer Genter reichte eine Abschrift des Kirchenkonventsprotokolls vom 15. April 1785 beim Gemeinschaftlichen Oberamt Maulbronn zur Weitergabe an den Synodus ein, aber er erhielt keine Antwort. Erst als er im folgenden Jahr berichtete, daß sich drei weitere Bürger dem Ehe­paar Rapp angeschlossen hätten, ließ sich der Synodus zu einem Bescheid mit der in solchen Fällen üblichen Empfehlung herbei. Mit Sanftmut und Liebe sollte Pfarrer Genter versuchen, das Ehepaar Rapp von seinen irrigen Ansichten abzubringen; die Anhänger sollte er warnen, sich dem Separatisten anzuschließen.(68)

Inzwischen hatten sich der Bauer Christian Hörnle mit seiner Frau und der Schuhmacher Mi­chael Conzelmann förmlich von der Privatversammlung des Johannes Weber getrennt und sich Johann Georg Rapp angeschlossen. Außerdem bekannte sich der Bauer Johannes Hörnle zu Rapp. Während Pfarrer Genter über Michael Conzelmann nichts Nachteiliges wußte, äußerte er über die anderen beiden Separatisten ein schlechtes Urteil. Christian Hörnle sei ein sehr ha­stiger und dabei blöder Mann, während der Bauer Johannes Hörnle von schlechtestem Ver­stand, schlimmstem Willen, gröbstem Eigensinn, von jeher ein unfleissiger Kirchgänger und Kirchenschläfer sei.(69)

Insgesamt läßt sich seit der denkwürdigen ersten Verhandlung vor dem Kirchenkonvent ein stetiges Anwachsen der separatistischen Bewegung beobachten. Im November 1785 weigerte sich Johann Georg Rapp, den für Bürger vorgeschriebenen Huldigungseid auf die Herrschaft abzulegen. Er versprach aber, seinen bürgerlichen Pflichten genau nachzukommen. Seinem Beispiel folgte Michael Conzelmann. Beide Separatisten - wie auch die übrigen separatistisch Gesinnten - hielten ihr Versprechen. Sie entrichteten zur Beschämung vieler andern pünktlich ihre Abgaben und leisteten gewissenhaft ihre Frondienste.(70)

Ein Jahr später machte der 13jährige Johann Christian Hörnle,  Sohn des Bauern Christian Hörnle, Schwierigkeiten in der Schule und besuchte sie nach einigen Monaten gar nicht mehr, weil er behauptete, Gott habe es ihm geoffenbart.(71) Den 19jährigen Bruder des Johann Christian Hörnle, Israel Hörnle, hielt der Vater von Kinderlehre und Schule fern.(72)  Schließlich weigerte sich der Bauer Johannes Hörnle, sein am 5. Mai 1787 geborenes Kind Joseph taufen zu lassen. Mit seinen separatistischen Gesinnungsgenossen segnete er sein Kind gleich nach der Geburt ein, ohne es zu taufen. Erst nach einigem Widerstand ließ Hörnle seinen Sohn am 5. Juni in der Kirche taufen.(73) Um 1790 zählten 15 Personen zur separatistischen Gruppe in Iptingen; fünf Jahre später hatte sich ihre Zahl fast verdoppelt (29 Personen).

Da Johann Georg Rapp mit seinen Überzeugungen vor allem die Besucher der Erbauungs­stunden ansprach, schrumpfte die Privatversammlung bei Johannes Weber bald stark zusam­men. Bereits 1789 erschien gelegentlich niemand mehr; zwei Jahre später war die Privatver­sammlung so gut wie geendigt.(74)

Konsequent verstießen die Separatisten gegen die Vorschriften des Pietistenreskripts von 1743.(75) Während der Gottesdienste hielten sie an Sonn- und Feiertagen ihre Versammlungen ab. Von Anfang an erregten sie Aufsehen im Ort, weil sie sich um die Verbote nicht kümmerten. Wenn die Versammlungen im Weinberghaus des Christian Hörnle stattfanden, zogen die Separatisten prozessionsartig dorthin und führten die Bibel und ihre Erbauungsbücher mit.(76) Rasch knüpften sie Kontakte zu auswärtigen Gesinnungsgenossen. Von Johannes Hörnle war bekannt, daß er bereits die Separatisten in Ehningen bei Herrenberg besucht hatte.

Weitere Einwohner aus Iptingen schlossen sich der separatistischen Versammlung an. Der Pfarrer schätzte die Zahl der Sympathisanten auf 50 bis 60 Personen, und darunter grund­schlimme Leute. Zwar dürfte der Anteil der separatistisch Gesinnten an der Ortsbevölkerung nie über 5% gelegen haben, aber von Anfang an war die dörfliche Ordnung durch die separatistische Bewe­gung bedroht. Nach Meinung des Pfarrers warteten viele Gemeindeglieder ab, wie sich Ob­rigkeit und Kirche gegenüber den Separatisten verhalten würden. Im Falle einer Duldung be­fürchtete er ein starkes Anwachsen der Versammlungen.

Wie in den pietistischen Privatversammlungen spielten Familienverbände bei der Ausbreitung des Separatismus eine starke Rolle. Im Grunde genommen wurde die Iptinger Versammlung von einigen Familien und wenigen Einzelpersonen gebildet.(77) Deutlich zeigt sich eine Anfäl­ligkeit bestimmter Familien für die separatistischen Gedanken. Obwohl beispielsweise Rosine Rapp, die Mutter des Johann Georg Rapp, den separatistischen Gesinnungen ihres Sohnes kri­tisch gegenüberstand, wandte sich auch ihre Nichte, Elisabeth Dorothea Mann geborene Berger, dem Separatismus zu.

Die Familienmitglieder der Separatisten hatten oft keine andere Wahl, als der Gesinnung von Vater oder Mutter zu folgen. Die beiden Söhne des Christian Hörnle weigerten sich unter dem Einfluß des Vaters und des Johann Georg Rapp, die Schule bzw. die Kinderlehre zu besuchen. Besonders deutlich zeigt sich dies bei dem 13jährigen Christian Hörnle, der vor dem Kirchenkonvent zugab, auf Anweisung Rapps gehandelt zu haben. Als er die Schule noch besucht hatte, durfte er vom Vater aus das Rechnen nicht lernen, weil das nur zur Weltweisheit gehöre.(78)

Interessant ist aber noch ein anderer Fall, weil damit belegt wird, was auch andernorts auffällt: die Radikalität, mit der Frauen der separatistischen Bewegung anhingen.(79) Als der Schuhmacher Jonathan Walz 1792 vor den Kirchenkonvent zitiert wurde, weil er seinen Sohn Friedrich von der Kinderlehre fernhielt, schob er die Verantwortung dafür auf seine Frau Katharina, eine entschiedene Separatistin. Der bedeutende Einfluß der Frauen auf die separatistische Bewegung läßt sich auch an den genelogischen Verbindungen erkennen. Erst wenn man auch die weiblichen Linien mit einbezieht, erhält man ein vollständiges Bild des separatistischen Beziehungsgeflechtes. Obwohl Frauen in den separatistischen Versammlungen nicht das Wort führen durften, spielten sie in der Bewegung nicht nur als Stützen ihrer Männer eine wichtige Rolle, sondern auch als überzeugte Anhängerinnen der separatistischen Richtung.

4: Der „Prophet“ von Iptingen

Johann Georg Rapp

Von Phineas Staunton - U.S. National Portrait Gallery

Das Jahrzehnt zwischen 1790 und 1800 dürfte den Höhepunkt der separatistischen Bewegung um Johann Georg Rapp darstellen. In verschiedenen Gegenden des Landes bildeten sich separatistische Gruppen. Am stärksten fand der Separatismus in den Dekanaten Dürrmenz und Knittlingen Eingang, wo sich in den Orten Gündelbach, Lomersheim und Ölbronn große Gruppen mit einer starken spirituellen Ausstrahlung bildeten. Weitere Zentren der separatistischen Bewegung entwickelten sich im Remstal und im südlichen Teil des Herzogtums Württemberg: auf der Schwäbischen Alb und in der Gegend um Balingen. (80) Außer im Remstal (81) verbreitete sich der Separatismus vor allem in grenznahen Bezirken des Herzogtums.

Mehrere politische Gegebenheiten trugen vermutlich dazu bei. Der aufkommende Separatismus fiel in die letzten Regierungsjahre des Herzogs Karl Eugen (+1793). Seine beiden nachfolgenden Brüder, die Herzöge Ludwig Eugen und Friedrich Eugen, regierten als alte Männer nur je zwei Jahre lang. Erst im Dezember 1797 trat mit Herzog Friedrich II. ein im besten Mannesalter stehender Regent die Regierung an.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde das Herzogtum Württemberg wieder direkt von kriegerischen Ereignissen, von den französischen Revolutionskriegen, betroffen. Hatte die Französische Revolution schon indirekt auf die Stimmung in Württemberg eingewirkt(82), so mußten die neuen kriegerischen Ereignisse wie eine Bestätigung der separatistischen Endzeiterwartung wirken. Die Hoffnungen vieler separatistisch Gesinnter kristallisierten sich um Napoleon Bonaparte, als dessen politische Bedeutung auch über Frankreich hinaus spürbar zu werden begann. Warum aber der Separatismus in den grenznahen Ämtern des Herzogtums Württemberg so stark war, müßte noch untersucht werden. Waren hier die Mängel der staatlichen und kirchlichen Verwaltung besonders zu spüren? Oder wirkten sich Impulse aus dem benachbarten Ausland verstärkt aus?

Manches deutet auf den ersteren Umstand hin. Schon die Tatsache, daß nach der ersten Befragung Rapps durch den Kirchenkonvent fast anderthalb Jahre ins Land gingen, bis die zuständigen Behörden reagierten, spricht für sich. Immer wieder ist ein schleppender Geschäftsgang bei den Behörden in Knittlingen und Maulbronn zu beobachten. Nicht nur die Bequemlichkeit der Beamten oder die Grenzlage des Amtes dürften dafür verantwortlich zu machen sein. Vielmehr wußten die Beamten offenbar nicht so recht, wie sie mit den Separatisten umgehen sollten. Wandten sie harte Mittel an, so wehrten sich die Separatisten mit Verhaltensweisen, die man in der heutigen Terminologie mit „zivilem Ungehorsam“ bezeichnen könnte: Als Johann Georg Rapp 1791 zu einer Turmstrafe in Maulbronn verurteilt wurde, baten zahlreiche seiner Anhänger, mit ihm eingesperrt zu werden. Das erregte Aufsehen im Ort, stiftete bei den Behörden Verwirrung und wird ein gewisses Ohnmachtsgefühl ausgelöst haben. Übrigens tat Rapp gegenüber dem Oberamtmann Seubert gegenüber einen Ausspruch, den man programmatisch für sein Selbstverständnis verstehen kann: Ich bin ein Prophet, ich bin dazu berufen.(83) Allgemein kann man sagen, daß Rapp und seine Anhänger sich durch verstärkte Repressionen der Behörden in ihren religiös-politischen Aussagen bestärkt fühlten.(84)

Hinzu kommt die Tatsache, daß manche Beamten die Anliegen der Separatisten nicht von vornherein als unberechtigt ansahen. Justinus Kerner berichtet von seinem Vater, der mit Rapp konfrontiert war, daß das Verhältnis keineswegs von gegenseitiger Feindschaft und Verachtung bestimmt war.(85) Zu gut wußten die Beamten, daß manche Vorwürfe der Separatisten gegen die Kirche durchaus begründet waren. Als beispielsweise der Iptinger Pfarrer Andreas Genter 1790 bei einer Präparationspredigt für das Abendmahl die Separatisten hart angriff, mußte er die Predigt an das Konsistorium einsenden.(86) Daraufhin erhielt er einen scharfen Verwies, weil er es hatte an der nötigen Liebe und Sanftmut fehlen lassen, wie es von den Geistlichen erwartet wurde.

Schultheiß und Gericht in Iptingen drängten jedoch auf harte Bestrafung der Separatisten. Normalerweise waren die Magistratsmitglieder gehalten, allsonntäglich während der Gottesdienste einen „Umgang“ zu halten, um säumige Gottesdienstbesucher in die Kirche zu schicken und Unordnungen im Dorf während des Gottesdienstes zu verhindern. Mit ihrem provokativen, aufsässigen Verhalten führten die Separatisten den Umgang ad absurdum. Bei der Visitation weigerten sich die Magistratsmitglieder, unter diesen Umständen noch Umgang zu halten.  Nachdem ihre Bitten sechs Jahre lang auf taube Ohren gestoßen waren, drohten sie dem Maulbronner Oberamtmann Seubert damit, direkt beim Herzog zu intervenieren.(87)

Eine Napoleon-Begeisterung wie in anderen Orten ist in Iptingen nicht festzustellen. Mit Johann Georg Rapp hatte man einen wirkungsmächtigen Separatisten-Chef. Seine Wirksamkeit strahlte in das ganze Herzogtum hinaus.(88) Rapp besuchte auswärtige Versammlungen, ohne sich um die Vorschriften des Pietistenreskripts von 1743 zu kümmern. Außerdem führte er eine umfangreiche Korrespondenz mit Gleichgesinnten im ganzen Land und im Ausland, von der nur noch Bruchstücke erhalten sind. Die Markgrafschaft Baden war nicht weit, und auch dort bildeten sich separatistische Gruppen.(89) Aber der Wirkungskreis Rapps ging darüber hinaus. Er korrespondierte mit dem Buchhändler Rudolf Salzmann in Straßburg, den er im Sommer 1801 auch besuchte. Neben Salzmann statteten auch weitere Einwohner von Straßburg dem Separatistenführer einen Besuch in seinem Heimatort Iptingen ab.(90)

Allerdings dürfte Johann Georg Rapp den nördlichen Teil des Herzogtums stärker beeinflußt haben als den Süden. Eine Bewegung eigener Prägung bildete sich nach 1801 um die separatistische Gruppe in Rottenacker bei Ehingen, maßgeblich beeinflußt durch die Schweizer Separatistin Barbara Grubermann.(91) In dieser evangelischen Exklave entstand eine sehr radikale Bewegung, deren Bedeutung die Forschung bislang eher als religiös verbrämten politischen Widerstand sah. Es gingen von Rottenacker aber auch starke religiöse Impulse aus; separatistisch Gesinnte aus diesem Dorf gewannen zahlreiche Anhänger und begründeten Versammlungen in anderen Orten.

Iptingen aber entwickelte sich zum Zentrum des nordwürttembergischen Separatismus. Besonders am Sonntag strömten separatistisch Gesinnte in Scharen herbei und verursachten auch während der Gottesdienste Aufsehen und Unruhe im Dorf. Bald konnte das Haus Rapps die vielen Besucherinnen und Besucher nicht mehr fassen. Manche nahmen stundenlange Wege auf sich, um Johann Georg Rapp predigen zu hören. Nach dem Vorbild der militärischen Einquartierung beherbergten die Iptinger Separatisten jeweils eine bestimmte Anzahl auswärtiger Besucher in ihrem Haus. Im Gegenzug brachten die auswärtigen Gäste Lebensmittel mit. Vorwürfe gegen Rapp wurden laut, wonach er sich persönlich an den mitgebrachten Naturalien sowie am Opfer bereichere. Später erhob sich noch der Vorwurf, Rapp lasse seine Anhängerinnen und Anhänger um geringen Lohn auf seinen Gütern arbeiten, um sein Vermögen zu mehren. Solange Johann Georg Rapp in Iptingen wohnte, konnte er diese Anschuldigungen widerlegen, zumal auch die Iptinger Gemeindevorsteher keine Beweise dafür fanden. Ein Mann, der sich wieder von den Separatisten getrennt hatte, sprach Rapp von den Beschuldigungen frei.

Viele Zeitzeugen, darunter auch die mit ihm konfrontierten Beamten und Pfarrer, berichten von der starken persönlichen Ausstrahlung, die von Johann Georg Rapp ausging. Nach Meinung von Pfarrer Genter fiel schon sein prodiavöster Blick ins Auge.(92) Rapp eignete sich vielfältige Kenntnisse an und konnte überzeugend reden. Überdies hatte sein Vermögen um 1800 so zugenommen, daß er zu den vermögendsten Bürgern in Iptingen gehörte.(93) Dies dürfte das Selbstwertgefühl des in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsenen Bauernsohnes nicht unwesentlich gehoben haben. Außerdem verstand es Rapp, sich mit geeigneten Leuten zu umgeben. Sein Adoptivsohn Friedrich Reichert ist dafür das beste Beispiel.

Auch spirituell muß man die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts als Höhepunkt der separatistischen Bewegung um Rapp ansehen. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte die Bewegung ihre festen Formen angenommen. In den kirchlichen und staatlichen Behörden wurde die Bewegung als eigene Kirche mit einer eigenen Gerichtsbarkeit angesehen. Wieweit diese Beschreibung zutrifft, ist unklar, da die Eigenüberlieferung der Bewegung um Rapp nur noch in wenigen Bruchstücken überliefert ist. Wo der Separatistenführer keine Möglichkeit hatte, auswärtige Versammlungen selbst zu besuchen, wirkte er durch Briefe, welche wohl dann in den verschiedenen Gruppen zirkulierten. Ob aber Rapp auch disziplinarische Gewalt über seine Brüder und Schwestern ausübte, läßt sich heute nur noch schwer verifizieren.

In seinem Heimatort dominierte die überragende Persönlichkeit Rapps naturgemäß stark. Bei den Iptinger Separatistinnen und Separatisten entwickelten sich eine eigene Sprache und eigene Denkweisen, wie in den Kirchenkonventsverhandlungen immer wieder deutlich wird. Neben dem Fernbleiben von Gottesdienst und Abendmahl verstießen die Separatisten vor allem auf dreierlei Weise die kirchliche Ordnung: Sie hielten ihre Kinder von der Schule fern, ließen sie nicht konfirmieren, und schlißlich tauften drei Männer ihre neugeborenen Kinder selbst. In diesem Zusammenhang ist es interessant, im Gegensatz zu vielen anderen württembergischen Gemeinden weder die Separatisten noch die kirchlich gesinnten Gemeindeglieder aus Iptingen Widerstand gegen die Einführung des Gesangbuchs von 1791 leisteten.(94) Allerdings sangen die Separatisten ohnehin eigene Lieder, in denen ihre Einstellung zum Ausdruck kam.

Nachdem Christian Hörnle in den achtziger Jahren  seinen Sohn Christian von der Schule ferngehalten hatte, schickte er auch seine Tochter Susanna nicht mehr dorthin. Seinem Beispiel folgten Johann Georg Rapp mit beiden Kindern, Johannes Hörnle mit seinem Sohn Joseph sowie Johann Michael Conzelmann mit seiner Tochter Maria Dorothea. Johann Georg Rapp unterrichtete diese Separatistenkinder selbst. Betraf die Schulverweigerung nur wenige Kinder separatistisch gesinnter Eltern, so gab es zahlreiche Fälle von Konfirmationsverweigerung. Aus den Akten lassen sich die Namen von 21 Töchtern und Söhnen von Separatisten erschließen, die nicht konfirmiert wurden.(95)

Nicht zufällig nahmen die Selbsttaufen der Iptinger Separatisten im Jahr 1798 ihren Anfang. Zur selben Zeit formulierten sie mit den Separatisten von Lomersheim und Großglatt­bach ein eigenes Glaubensbekenntnis, welches kurze Zeit später in überarbeiteter Form von den Ölbronner Separatisten übernommen wurde.(96) Nun waren die Separatisten nicht mehr bereit, Zugeständnisse zu machen. Manche Ehegatten enthielten sich vom ehelichen Verkehr, um keine Kinder zu zeugen. Drei Iptinger Separatisten tauften je zwei ihrer neugeborenen Kinder kurz nach der Geburt selbst: Johann Georg Bentel (1799 und 1803), Johann Friedrich Kocher (1798 und 1802) und Johann Georg Walz (1801 und 1803). Selbst durch sehr hohe Strafen ließen sie sich nicht abschrecken.

5: Amerika!

Auszug der Iptinger Separatisten nach Amerika

LKAS, A 26, Nr. 473,1. Beilage A zur Relation 1804 des Iptinger Pfarrers bezüglich der ausgezogenen Separatisten, Seite 1 von 4.

Um die Wende zum 19. Jahrhundert begann sich ein härterer Kurs der herzoglichen Regie­rung gegenüber den Separatisten abzuzeichnen.(97) Mit der Erhebung des Herzogtums Württem­berg zum Kurfürstentum im Jahre 1803 waren große Gebietszuwächse verbunden, die dem Kurfürsten Friedrich einen erheblichen Machtzuwachs bescherten.(98) Offen wurde diskutiert, ob man Rapp und seine Anhänger nicht zur Auswanderung zwingen sollte.(99) Davon rieten jedoch die herzoglichen Beamten ab, weil sie fürchteten, es könnte sich ein Märtyrerkult entwickeln. Außerdem war ungewiß, ob sich nach Rapps Vertreibung nicht ein anderer Mann zum charismatischen Führer der Separatisten erheben könnte.

Im Ort selbst sah sich Rapp wiederholt schweren Vorwürfen ausgesetzt, wonach er sich an seinen Anhän­gern bereichere. Immerhin hatte er es zu einem bedeutenden Vermögen gebracht und galt nun als einer der vermögendsten Männer in Iptingen. Ein ausgeprägtes wirtschaftliches Den­ken und eine sehr überlegte Verwaltung seines Vermögens konnten ihm jedoch selbst seine Gegner nicht absprechen.(100) Dies rief Neid und Mißgunst hervor, und da die Separatisten sehr zusammenhielten, verbreiteten sich die verschiedensten Gerüchte. Rapp lasse seine Anhänger um billigen Lohn für sich arbeiten, hieß es, und mehre damit sein Vermögen. Beweisen ließen sich diese Vorwürfe nicht, aber es paßte zur Einschätzung des Pfarrers Genter, daß Rapp nicht gerne arbeite. Rapp selbst gab an, seine Arbeiterinnen und Arbeiter deutlich höher zu entlohnen als allgemein üblich.

Um die Jahrhundertwende hatte Johann Georg Rapp den Endersbacher Steinhauer Friedrich Reichert, der 1798 das Iptinger Bürgerrecht erworben hatte(101), adoptiert. Reichert hatte sich schon längere Zeit bei Johann Georg Rapp aufgehalten und war mit der Verwaltung der für die Armen bestimmten Opfer betraut.(102) Bald erwies sich Reichert als unentbehrlicher Ratgeber bei der Organisation der separatistischen Auswanderung im Gefolge Rapps. Außerdem besaß Reichardt bedeutende unternehmerische Fähigkeiten.(103)

Die unruhigen Zeiten und ungünstigen Vorzeichen im Herzogtum Württemberg sah Johann Georg Rapp selbst als Auf­forderung Gottes zur Auswanderung in das Gelobte Land Amerika an. So verkaufte er im Sommer 1803 den überwiegenden Teil seiner Grundstücke in zwei Partien, um die finan­zielle Grundlage für seine Auswanderung zu schaffen. Im Juli 1803 reiste er mit seinem Sohn von Iptingen nach Amerika ab, ohne jedoch sein Bürgerrrecht in Iptingen aufzugeben.(104) Am 7. Oktober 1803 kam er in Amerika an. Als dann im Januar 1804 die neu erlassene Kurfürstliche Verordnung, betreffend die Separatisten, auf dem Rathaus in Iptingen öffentlich verlesen wurde, mußten die Auswanderungswilligen dies als letzten Anstoß für ihr Vorhaben empfinden.(105)

Die Nachricht von der Auswanderung Rapps löste unter den Separatisten in Württemberg eine starke Unruhe aus. Befürworter und Gegner der Auswanderung gerieten in hitzige Auseinandersetzungen. Die Meinungsverschiedenheiten spalteten Eheleute und ganze Familien. Es kam vereinzelt zu Scheidungen; Söhne oder Töchter forderten ihr Erbteil, um mit den Separatisten nach Ame­rika zu reisen.

Aber auch für jene, die einer Auswanderung aufgeschlossen gegenüberstanden, ergaben sich Probleme. Viele Separatisten waren arm und verfügten über keine Mittel, die ihnen erlaubt hätten, sich dem Zug nach Amerika anzuschließen. So hatten sie keine Möglichkeit, aus dem Königreich zu fliehen, in dem sie den Antichristen als gekommen sahen. In den wenigen er­haltenen Briefen des Adoptivsohnes Friedrich Reichert an seinen Vater in Amerika spiegelt sich die schwierige Situation dieser Zeit wider.(106) Selbst bei vermögenderen Separatisten konnte ein Auswanderungsvorhaben scheitern, wenn der Erlös aus der Veräußerung des Vermögens schließlich doch nicht ausreichte, um die Reise nach Amerika zu finanzieren. Dann bedrohten erhebliche Verluste die wirtschaftliche Grundlage der Familie.

Im Gefolge des Johann Georg Rapp dürften schließlich zwischen 1804 und 1807, als die Auswanderung durch königliches Dekret verboten wurde, etwa 700 Personen nach Amerika ausgewandert sein. Welche Spannungen im Zusammenhang mit den Auswanderungen auftraten, zeigt sich beispielhaft in Iptingen. Die separatistische Gruppe spaltete sich in mehrere Lager. Ein Teil der Separatisten verließ ihren Heimatort im Mai 1804, um nach Amerika zu reisen. Andere wiederum blieben in Iptingen, selbst solche entschiedenen Separatisten wie der Bauer Friedrich Kocher, der immerhin zweimal seine Kinder selbst getauft hatte. Hier zeigte sich sehr deutlich, daß Johann Georg Rapp selbst in seinem Heimatort nicht nur Anhänger hatte, sondern auch separatistisch Gesinnte, die ihm kritisch gegenüberstanden oder sich zumindest nicht zur Auswanderung entschließen konnten.

In seinen Siedlungen Harmony, New Harmony und Economy führte Johann Georg Rapp ein fast despotisch zu nennendes Regiment, das an moderne Sektenführer gemahnt. Seinen Anhängerinnen und Anhängern verlangte Rapp härteste Arbeit und völlige Anspruchslosigkeit ab, während er selbst recht aufwendig lebte. Um das Vermögen zusammenzuhalten, verpflichtete er seine Anhängerinnen und Anhänger zum Zölibat. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen. Freilich gibt es unterschiedliche Darstellungen der Rappistensiedlungen in Amerika, je nach dem Standpunkt des Verfassers. In einigen Berichten wird die große Zufriedenheit der Bewohner betont. Der Kern der Gruppe hielt unbeirrt zu Rapp und verehrte ihn als „Vater“.(107) Wirtschaftlich blühten alle drei Siedlungen rasch auf, und die Harmoniegesellschaft verfügte bald über ein bedeutendes Vermögen.(108) Geistesgeschichtlich wurden die Rappistensiedlungen wichtig, weil hier Männer wie beispielsweise Friedrich List oder Friedrich Engels wesentliche Impulse für ihre Überzeugungen erhielten. Nachdem die Geschichte der drei Rappisten-Siedlungen in Amerika sehr gut erforscht ist, soll hier nicht der Ort sein, die dortigen Zustände weiter auszuführen.

In der Heimat drangen unterschiedliche Nachrichten über die Rappisten in Amerika durch, je nach dem Standpunkt des Berichterstatters.(109) Es wäre interessant zu wissen, wie die in der Heimat verbliebenen Separatisten im nachhinein über die Siedlungen der Rappisten in den Vereinigten Staaten dachten.

Erstveröffentlichung in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 95 (1995), Seite 133-207

 

 

Eine Edition der relevanten Iptinger Kirchenkonventsprotokolle und andere relevante Quellen finden Sie hier.

 

 

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Aktualisiert am: 17.12.2021