Das Ulmer Münster

Das Ulmer Münster

Von: Anette Pelizaeus / Sabine Tomas

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Einleitung
  2. 2: Die Baugeschichte des Ulmer Münsters
  3. 2.1: Heinrich II. Parler / Heinrich d.Ä.
  4. 2.2: Michael Parler
  5. 2.3: Heinrich III. Parler / Heinrich d.J.
  6. 2.4: Ulrich von Ensingen
  7. 2.5: Hans Kun
  8. 2.6: Matthäus und Moritz Ensinger
  9. 2.7: Matthäus Böblinger
  10. 2.8: Baustopp
  11. 2.9: Burkhard Engelberg
  12. 2.10: Bauhüttenmeister des 19. Jahrhunderts
  13. 2.11. Baumeister des 20. Jahrhunderts
  14. 3: Beispiele für die Überlieferungsdichte in Bezug auf Restaurierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen am Ulmer Münster
  15. 3.1: Die Wiederherstellung des Chorgewölbes 1946 – 1950 nach dem Bombenschaden vom 1. März 1945
  16. 3.2: Die Restaurierung der Trumeaupfeilerfigur am Hauptportal
  17. 4: Zusammenfassung und Ausblick
  18. 5: Quellen und Bilder
  19. 5.1: Quellen
  20. 5.2: Bildmaterial
  21. Anhang

1: Einleitung

Das Archiv der Ulmer Münsterbauhütte wurde ausschließlich einer Plansammlung mit ca. 7000 Plänen und Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, die in der Münsterbauhütte verblieb, am 20. September 2016 von Ulm in das Landeskirchliche Archiv Stuttgart überführt. Der gesamte Bestand, bestehend aus Akten- und Bildarchiv, ist nun komplett erschlossen, so dass Nutzer*innen darin anhand eines umfassenden Findbuches recherchieren können. Das Findbuch ist digital zugänglich, so dass eine Recherche nicht allein im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, sondern auch von zu Hause möglich ist. Akten- und Bildbestand sind durch Indexbegriffe miteinander verzahnt, so dass bei einer Recherche sowohl die entsprechenden Akten als auch die Bilder auffindbar sind.

Münsterbauhütte Ulm Bestandsfindbuch: http://suche.archiv.elk-wue.de/actaproweb/document/Vz_60f70282-d17f-44b3-83c7-813bab78705a

Bereits im Jahr 1377 wurde der Grundstein für das Ulmer Münster gelegt, das 1543 insoweit fertiggestellt gewesen war, als der westliche Hauptturm bis zu einer Höhe von 70 m fortgeschritten war, jedoch das komplette Strebewerk und die östlichen Turmabschlüsse fehlten. Gleichwohl kam es aus verschiedenen Gründen zum Baustopp, der erst 1844 mit der Wiederbelebung der Bauhütte und dem Fortgang der Bauarbeiten aufgehoben wurde. Die Überlieferung der Münsterbauhütte im Landeskirchlichen Archiv bezieht sich auf vornehmlich die zweite Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts.

Durch die hohe Überlieferungsdichte ist es nicht nur möglich, die am Münster durchgeführten Bau- und Restaurierungsmaßnahmen ab der Wiedereinrichtung der Münsterbauhütte zu rekonstruieren; es lassen sich auch tiefere Einblicke in die Zusammensetzung und Arbeitsweise einer Bauhütte im 19. und 20. Jahrhundert gewinnen. Der Schriftgutbestand besteht aus 1801 Verzeichnungseinheiten. Besonders umfangreich erhalten sind die Arbeitslisten und -bücher, Bautagebücher bzw. Skizzenbücher und Bauakten zu spezifischen Restaurierungsmaßnahmen. Auch Rechnungen und ihre Beilagen nehmen einen großen Teil des Archivs ein.

Das Bildarchiv, vornehmlich erschlossen anhand der im Archiv der Münsterbauhütte vorhandenen Listen und Titeln, enthält 7095 Objektnummern, darunter 2535 Glasplatten, 3553 Positive, 884 Dias und 71 Fotoalben und Postkarten. Alle verzeichneten Glasplatten – mit Ausnahme der Duplikate - sowie die verzeichneten Dias wurden digitalisiert, wobei jedes einzelne Digitalisat der jeweiligen Bestellnummer im Findbuch entspricht. In Bezug auf das Bildarchiv gilt festzustellen, dass der Bestand an Aufnahmen zu den mittelalterlichen Kunstwerken wie das Chorgestühl, die Glasmalereien, die Totentafeln, die Hartmannfiguren, das Tympanon des Westportals oder der Schmerzensmann ungefähr ebenso umfassend ist wie der zum Baubetrieb der Münsterbauhütte per se, woraus, und das gilt auch für den Aktenbestand des Archivs, hervorgeht, dass sich die Wahrung des kulturellen Erbes sowohl auf das Sakralgebäude des Ulmer Münsters als auch auf die Organisation der Münsterbauhütte bezieht.

Die Baugeschichte des Ulmer Münsters zeigt, dass dieses nicht in einem Guss entstanden ist. Die vielen Wechsel der Baumeister haben einerseits zu Planänderungen geführt, andererseits aber auch Bauschäden verursacht, die es schon zur Bauzeit zu beheben galt. Umso erstaunlicher darf gewertet werden, dass der Kirchenbau im ausgehenden 19. Jahrhundert dann doch noch zur Vollendung gelangte, ein Ereignis, welches das Gedenken an das Bauwerk und seine Kunstschätze umso verständlicher macht.(1)  Da es sich um einen ausschließlich von der Bürgerschaft finanzierten Bau handelt, stand neben den liturgischen Bedürfnissen und den religiösen Zeugnissen auch schon von Beginn an das Gedenken an die Bürgerschaft im Vordergrund, die sich um den Bau verdient gemacht hatte. Nach einem kurzen Abriss der Baugeschichte möchten wir gerade auf diese Erinnerungskultur exemplarisch eingehen und dabei den Fokus auf das Gründungsrelief, die Skulptur des Bürgermeisters Hans Ehinger, die Totentafeln, die Gedenktafeln der Münsterbaumeister, die Glasmalereien, die Pfeilerskulpturen des Langhauses und die Jubiläumsfeste zum Gedenken an die Gründung oder die Vollendung des Ulmer Münsters legen.  

2: Die Baugeschichte des Ulmer Münsters

Ansicht des Hauptturms im 19. Jahrhundert

Das spätgotische Bauwerk des Ulmer Münsters wurde anstelle der Pfarrkirche über Feld vor den Mauern der Stadt nun im Zentrum derselben erbaut und ausschließlich von der Ulmer Bürgerschaft finanziert.(2)  Die alte Pfarrkirche wurde abgebrochen und besonders wertvolle Teile in die neue Kirche integriert.(3)  In Bezug auf das Baugebiet galt es, Verhandlungen einerseits mit dem Kloster Reichenau zu führen, welches das Patronatsrecht über die alte Pfarrkirche innehatte und andererseits mit dem Grafen von Württemberg, da ein Teil des Baugrundes der neuen Kirche in seinem Besitz lag.(4)  Der Grundstein für den Kirchenbau wurde am 30. Juni 1377 gelegt.(5)  Die drei ersten Münsterbaumeister werden in einem Rechnungsblatt von 1387 erwähnt: einen Heinrich selig, einen Michael und einen zweiten Heinrich.(6)  Es gilt als gesichert, dass alle drei aus der berühmten Baumeisterfamilie Parler stammten.

2.1: Heinrich II. Parler / Heinrich d.Ä.

Bei dem zuerst genannten Heinrich handelte es sich vmtl. um Heinrich II. Parler, Sohn von Heirnich I. Parler, der in Schwäbisch Gmünd tätig gewesen war. Heinrich II. Parler, auch als Heinrich d.Ä. bezeichnet, hatte die Bauleitung von 1377-1383 inne.(7)  Die Bauarbeiten setzten 1377 am Chor ein.(8)  Heinrich II. plante die Kirche folgendermaßen: Der Chor sollte etwas niederer als der heutige Chor sein und nahezu dieselbe Höhe wie das Langschiff aufweisen. Chor und Langschiff sollten vollständig gewölbt werden, die Seitenschiffe kaum niederer als das Mittelschiff und so breit wie dieses sein, das Mittelschiff sollte keinen Obergaden haben. Die Baugestalt mit nahezu gleicher Höhe von Chor und Langschiff, mit drei gleich breiten Schiffen und ein kaum die Seitenschiffe übersteigendes Mittelschiff ohne Obergaden lässt auf das Gestaltungsprinzip einer gestaffelten Hallenkirche schließen.(9)  Das Kirchenmodell im Denkmal zur Grundsteinlegung im Inneren des Kirchenschiffes zeigt ebenfalls die ungefähr gleichhohe Trauf- und Firsthöhe von Chor und Langhaus, das Langschiff ohne Obergaden und ein einheitliches Satteldach, was ebenfalls an eine gestaffelte Hallenkirche denken lässt.(10)  Die beiden Chorflankentürme wurden schon gleich mit dem Chor zu bauen begonnen, wobei nach ursprünglicher Planung der Westturm die beiden Osttürme nur unwesentlich übersteigen sollte.(11)

2.2: Michael Parler

Der Nachfolger Heinrichs II. Parler war Michael Parler (1383 – 1387), ebenfalls ein Sohn von Heinrich I. Parler, der 1383 aus Prag kam. Unter seiner Federführung konnte der Chor mit dem ersten Kranzgesims abgeschlossen werden. Es gilt als ziemlich wahrscheinlich, dass Michael auch mit dem Bau des Langhauses begonnen, dabei aber bereits einen ersten Planwechsel vorgenommen hatte. Er nämlich sah nach dem Vorbild des Prager Veitsdoms das Langhaus mit einem basilikalen Aufriss vor, d.h. mit deutlich überhöhtem Mittelschiff und mit Obergaden.(12)  Um dabei aber das Mittelschiff nicht zu hoch werden zu lassen, reduzierte er die Höhe der Seitenschiffe, beließ aber deren Breite, was zu Folge hatte, dass die Pultdächer über den Seitenschiffen ziemlich hoch anfallen mussten. Um die Last der Hochschiffwände abzufangen, verstärkte er die Mittelschiffspfeiler in beide Richtungen, allein die östlichen Pfeiler sollten das alte Maß behalten. Nach diesem Plan führte Michael die vier östlichen Joche des Kirchenschiffes aus.(13) 

2.3: Heinrich III. Parler / Heinrich d.J.

Heinrich III. Parler (1387 – 1391), vmtl. ein Sohn von Heinrich II. Parler, der auch als Heinrich d.J. bezeichnet wird, oblag der Bau der westlichen Joche.(14)  Er kam vmtl. ebenfalls von Prag nach Ulm und zwar zusammen mit dem sogenannten Reißnadelmeister, der sieben Konsolen der westlichen Langhauspfeiler signierte.(15)  Mit dem Abschluss der westlichen Joche waren auch die drei von der alten Pfarrkirche über Feld übernommenen Portale, so das Südostportal, das Nordost- und das Nordwestportal, versetzt.(16) 

2.4: Ulrich von Ensingen

Mit dem Fortgang Heinrichs III. Parler nach Mailand wechselte die Bauleitung 1392 an die Baumeisterfamilie Ensinger.(17)  Ulrich von Ensingen leitete den Bau bis zu seinem Tod 1419, obwohl er 1399 nach Straßburg berufen wurde und ab 1400 auch für die Arbeiten an der Esslinger Frauenkirche verantwortlich war.(18)  Sein Ulmer Hauptwerk war der Bau des Westturmes, basierend auf seinen Erfahrungen aus Prag, Straßburg und Wien. Von ihm stammt der Riß A des Westturmes, in welchem die Baugestalt in seinen Grundzügen festgehalten ist.(19)  In Bezug auf den Turmaußenbau lehnte sich Ensingen an die Freiburger Lösung an, sich auszeichnend durch die deutliche Hervorhebung des Turmes bei nachrangiger Behandlung der Seitenschiffsfronten. Es existieren zahlreiche Pläne des Westturmes ohne Bezug auf den Gesamtbau, obwohl der Turm nicht vor das Langschiff gesetzt, sondern in dieses integriert werden sollte. Vollendet wurden unter seiner Bauleitung indes nur das Turmerdgeschoss, die Vorhalle und der Ansatz des Obergeschosses.(20)  Abgesehen vom Turmbau war auch die Aufstockung des Chores Ensingers Verdienst.(21)  Gleichwohl stammen der Ausbau der Chorgalerie und die Strebepfeiler aus dem 19. Jahrhundert.(22) 

Am 25. Juli 1405 konnten das Münster und der Frontaltar im Chor geweiht werden. Es ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt die Seitenschiffe unter Dach standen und das Mittelschiff mit einem Notdach versehen war.(23) 

2.5: Hans Kun

Der Schwiegersohn Ulrichs, Hans Kun, dürfte die Bauleitung bereits vertreten haben, als Ulrich nach Straßburg berufen wurde, übernahm diese dann aber spätestens nach Ulrichs Tod.(24)  Er vollzog den Weiterbau des Westturmes, setzte das zweite Turmgeschoss auf und schloss in 40 m Höhe den Bogen zwischen Kirchenschiff und Turmhalle.(25)

2.6: Matthäus und Moritz Ensinger

Matthäus Ensinger, Sohn von Ulrich von Ensingen, war ab 1446 Bauleiter. Er kümmerte sich zunächst um die 1449 fertiggestellte Einwölbung des Chores, ferner um die Einwölbung des nördlichen Seitenschiffes und schließlich um die der drei westlichen Vorhallen.(26)  Dass unter Matthäus Ensinger auch das südliche Seitenschiff eingewölbt worden wäre, ist nicht belegt, möglicherweise lassen sich aber mehrere Steinlieferungen von 1455 darauf beziehen.(27)  1465 wurde Moritz Ensinger, ein Sohn von Matthäus Ensinger, Münsterbaumeister. Ihm oblag neben der Errichtung des Obergadens auch die Einwölbung des Mittelschiffes(28),  so dass 1471 der gesamte Innenraum des Ulmer Münsters eingewölbt gewesen war.(29)

2.7: Matthäus Böblinger

Sein Nachfolger, Matthäus Böblinger, wurde 1477 nach Ulm berufen. Er legte zwar für den Turm einen neuen Plan vor,(30) ausgeführt wurde im Mittelalter jedoch lediglich das zweite Turmobergeschoss mit der Vierecksgalerie und ca. fünf Meter des Oktogons.(31) Es blieb also bei einem letztlich unfertigen Turmabschluss, der in der ältesten Stadtansicht von Ulm in der Schedel‘schen Weltchronik von 1493 abgebildet ist.(32)  Dieser Turmabschluss sollte bis zum Turmausbau im 19. Jahrhundert bestehen bleiben.

2.8: Baustopp

Bereits 1492 lösten sich zwei Gewölbesteine aus dem Turm und ein Jahr später waren merkliche Brüche im Mauerwerk sichtbar. Dazu schrieb der Ulmer Schuhmacher Sebastian Fischer (1513 – ca. 1555) in seiner Chronik: „Im Jahr 1492 hat sych das Meinster anfahen sencken, das man gfircht hat es wird vmfallen, ainmal an aim Suntag, waren die leutt an der predig zu Mittag, da fielen zwen stain herab vß dem gwelb, da flohen die leutt vß der kirchen, da, sy mainten das Meinster welt vmfallen aber die stain hetten niemants troffen…“(33)  und entsprechend berichtete auch Elias Frick im templum parochiale: „Daß aber die Ulmer nachgelassen den Thurn höher zu führen / hat ein beschwerlicher Zufall verursachet / der sich Anno 1492 ereignet / als in welchem der Thurn um etwas zu sincken begunte / daß man besorgte er möchte einfallen / wie dann einsten an einem Sonntag zu Mittag unter der Predigt zwey Steine aus dem Gewölb herab gefallen / worüber groß Schrecken / wie jeder leicht erachten kann / entstanden / daß die Leute häuffig aus der Kirche geflohen / indem sie besorgt / der Thurn möchte einfallen / ob schon niemand Schaden geschehen…“(34)  Eine rasch eingesetzte Kommission von 28 Gutachtern beschloss den Baustopp am Turm und die Einsetzung von Burkhard Engelberg, der Mitglied in der Kommission und bisher Baumeister an St. Ulrich und Afra in Augsburg gewesen war, als zukünftigen Baumeister am Ulmer Münster. Er sollte die nun aufgetretenen Bauschäden beheben.(35)  Nach Wortmann waren diese indes nicht auf Matthäus Böblinger, sondern vielmehr auf Ulrich von Ensingen zurückzuführen, der wegen der engen räumlichen Verbindung zwischen Turmhalle und Mittelschiff die beiden östlichen Freipfeiler des Turmes zu schwach ausgeführt und bei deren Fundamentierung zu wenig Sorgfalt hatte walten lassen, denn die Fundamenttiefe lag lediglich bei 3,5 m. Auf der Nordostseite wurde zudem ein Kellergewölbe in die Fundamentierung einbezogen.(36)

2.9: Burkhard Engelberg

Die Maßnahmen von Burkhard Engelberg zur Sicherung des Kirchenbaus(37) veränderten diesen maßgeblich, insofern er nicht nur die Turmfundamente, sondern auch deren Widerlager verstärkte. Dies führte dazu, dass alle Arkaden der Turmhalle zugesetzt, mehrere Arkadenpfeiler im Mittelschiff ausgetauscht, die zu weit gespannten Seitenschiffsgewölbe ausgebrochen, Rundpfeiler in den Seitenschiffen eingefügt und schließlich neue Seitenschiffsgewölbe eingefügt wurden. Daraus ergab sich die heute fünfschiffige Grundrissdisposition, die doch erheblich von der mittelalterlichen Grundrissdisposition abweicht.(38) Bernhard Winkler wurde erst 1518, sechs Jahre nach Engelbergs Tod, als letzter Baumeister des Mittelalters an das Ulmer Münster berufen. Nach seinem Tod um 1550 wurde für lange Zeit kein Münsterbaumeister mehr eingesetzt und dem Stadtwerkmeister oblag die Aufgabe der Überwachung des Münsters.(39) 

2.10: Bauhüttenmeister des 19. Jahrhunderts

Nach einer fast dreihundertjährigen Baupause setzten erst mit der Neugründung der Münsterbauhütte durch Ferdinand Thrän am 21. August 1844(40)  wieder verstärkt Bauarbeiten am Ulmer Münster ein. Die Wiederaufnahme der Bautätigkeit und die Fertigstellung des Münsters war seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts als nationales Anliegen propagiert und gefordert worden.(41) 1841 wurde gemäß dieser Entwicklung von dem Kupferstecher, Lithograph und Kunsthistoriker Eduard Mauch, dem Finanzkammerassessor Friedrich Eser und dem Buchhändler Philipp von Adam der „Verein für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben“ mit dem Ziel der Erforschung und Erhaltung der Kunstdenkmäler in Ulm und Oberschwaben gegründet. Erstes Augenmerk lag aber schon gleich auf der Restaurierung des Ulmer Münsters.(42) Durch die zielgerichtete Berichterstattung über das Ulmer Münster in den Schriften des Vereins, die ab 1843 alljährlich erschienen, aber auch in den Werken Mauchs wurden nicht nur das Interesse an diesem Kirchenbau an sich geweckt, sondern auch Förderer motiviert, die dann über den Verein für die Restauration zu spenden bereit waren.(43) Der Verein unterstützte auch die Wiederbelebung der Bauhütte und übernahm eigentlich die Funktion eines Münsterbauvereins, ohne jedoch sich selbst so zu bezeichnen.(44) Trotz der Zerwürfnisse mit Mauch, der sich schließlich aus der Oberleitung des Münsterbaus zurückzog, setzte sich Thrän mit seinen Vorstellungen in Bezug auf die Restaurierung des Ulmer Münsters durch.(45)  Nach den Vorbildern der Kathedralen in Köln und Straßburg wurde unter seiner Federführung 1856-1870 schließlich doch das Strebewerk über den Seitenschiffen errichtet.(46)  Als er am 13. Februar 1870 im Alter von nur 59 Jahren verstarb, hatte er neben den Arbeiten am Strebewerk auch die am Chorumgang, am Abschluss des Turmvierecks, an der Kranzgalerie der Seitenschiffe, am Gehäuse und am Unterbau der Orgel sowie die Restaurierung der Valentins- und Bessererkapelle geleitet.(47) Unter seinem Nachfolger Ludwig Scheu wurden 1871-1880 die Chortürme, die Galerie des Chores und die Dachstühle über den Seitenschiffen abgeschlossen.(48) Für die Chortürme mussten, da keine alten Risse mehr vorhanden waren, neue Pläne erstellt werden, so dass sich in ihnen deutlicher als am Hauptturm der Einfluss der neugotischen Baukunst zeigt.(49)  In den Jahren 1874-1879 wurden unter vielseitiger Kritik die das Ulmer Münster umgebenden Häuser niedergelegt, um eine möglichst freie Sicht auf das Münster zu gewährleisten.(50)

1885-1890 brachte August Beyer (1880-1890) den Westturm in weitgehender Anlehnung an die Pläne von Matthäus Böblinger und unter Berücksichtigung der Vorarbeiten von Ludwig Scheu zum Abschluss und verdachte das Mittelschiff mit glasierten Ziegeln.(51)  Das Turmachteck wurde auf 32 m verkürzt und der Turmhelm auf 59 m erhöht, so dass der Turm letztendlich 10 m höher als nach den Plänen Böblingers wurde.(52)  Durch die mit der Turmvollendung weiterhin verbundenen Turmsicherungsmaßnahmen einschließlich des Einbaus einer Orgelempore und zwei weiterer Verstärkungsbögen zur Sicherung der Turmostwand musste nun letztendlich doch die einst von Ulrich von Ensingen beabsichtigte Raumeinheit von Turmhalle und Mittelschiff aufgegeben werden.(53) 

Schlussstein und Turmknopf des nun insgesamt 161 m hohen Westturms wurden am 31. Mai 1890 versetzt. Die anschließenden Feierlichkeiten vollzogen sich vom 28. Juni – 1. Juli 1890 und wurden mit einem Festgottesdienst, einem historischen Festzug, dem traditionellen Fischerstechen und einem historischen Festspiel gefeiert.(54)    

2.11. Baumeister des 20. Jahrhunderts

August Beyer hatte das Amt des Münsterbaumeisters bis zu seinem Tod am 18. April 1899 inne. Auf ihn folgte Architekt Karl Bauer. Zu seinen vornehmlichen Aufgaben zählten Restaurierungsarbeiten am Hauptturm, die 1922 abgeschlossen werden konnten. Münsterbaumeister Bauer verstarb am 31. Dezember 1914, die kommissarische Leitung der Bauhütte wurde in der Zeit nach seinem Tod Münsterwerkmeister Robert Lorenz übertragen, bevor 1918 Baurat Wachter die Leitungsfunktion übernahm.

Als 16. Münsterbaumeister trat 1925 Karl Friederich in den Dienst der Bauhütte. Auch ihn beschäftigten vorwiegend Arbeiten am Hauptturm, ab 1927 begannen unter seiner Führung Sicherungsarbeiten am Hauptturm durch Anbringung mehrerer Zuganker. Zudem wurden unter seiner Leitung Sicherungsarbeiten zum Schutz der Kunstdenkmale im Münster vor den Folgen des Zweiten Weltkriegs durchgeführt. Er selbst verstarb am 17. September 1944 in Folge eines Tieffliegerangriffs.

Sein Nachfolger Karl Friedrich begleitete das Amt des Münsterbaumeisters von 1945 bis 1971. Ihm oblag zunächst die Aufgabe der Bausicherung, Aufräumungs- und Wiederherstellungsarbeiten. Ab 1946 veranlasste er die Wiederherstellung des Chorraums, bevor er 1950 die Wiederherstellung des Langhausfensterwerks und der Verglasung angehen und in Auftrag geben konnte. Zudem wurden während seiner Zeit als Münsterbaumeister ausführliche Renovierungsarbeiten nicht nur am Außenbau, sondern auch im Innenraum getätigt. 1971 ging Karl Friedrich in den Ruhestand und übergab das Amt des Münsterbaumeisters an Gerhard Lorenz, der vornehmlich Restaurierungs- und Renovierungsarbeiten durchführen ließ.(55)

3: Beispiele für die Überlieferungsdichte in Bezug auf Restaurierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen am Ulmer Münster

Gerade von den zahlreichen, auch nach der Vollendung des Ulmer Münsters getätigten Restaurierungsmaßnahmen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, seien nachfolgend einige Einzelbeispiele herausgegriffen, anhand derer nicht allein die vielfältige Arbeit der Münsterbauhütte, sondern eben gerade auch der große Aufwand und die Präzision in der Durchführung jeder einzelnen Restaurierungsmaßnahme deutlich hervortritt.

3.1: Die Wiederherstellung des Chorgewölbes 1946 – 1950 nach dem Bombenschaden vom 1. März 1945

Chorgewölbe, Schadensbild 1945

LKAS, Ulm Münsterbauhütte, D4931.

Die Aufnahmen von Foto Blumenschein im Auftrag der Firma Holzmann AG zeigen zunächst auf zwei Abbildungen das Einsturzloch im Chorgewölbe auf der Nordseite, und zwar einmal von unten aufgenommen und einmal vom Dachstuhl aus. Dort wird auch sichtbar, dass man mittels eines Holzgerüstes das noch vorhandene Gewölbe stützte und dann die Fehlstelle erneuerte. Neben dem Holzgerüst bedurfte es noch eines Stahlrohrgerüsts, um die Sanierungsarbeiten durchzuführen. Beide wurden von der Philipp Holzmann Aktiengesellschaft ausgeführt. Konstruktionspläne, Mengenberechnungen (Holz) und statische Berechnungen dazu finden sich in den Akten. Um die Schäden am Chorgewölbe zu reparieren, musste der gesamte Chor eingerüstet werden. Eine genaue Kartographie der fehlenden Rippen und Gewölbebeschädigungen liegt ebenfalls vor. 

Aus den Akten geht hervor, dass für die Restaurierung der Chordeckenrippen kein Naturstein, sondern Eisenbeton verwendet wurde. Das hatte statische, aber auch arbeitstechnische Gründe. Eine Konstruktionszeichnung, ebenfalls von der Philipp Holzmann AG, verdeutlicht das geringere Gewicht, dass die Ausführung in Stahlbeton versprach. Das Betongemisch bestand aus Travertinsand, Quetschsand, feinem grauen Grubensand und der Zementzugabe. Dabei wurde vom Bauherrn gefordert, dass eine möglichst geringe steinmetzmäßige Bearbeitung notwendig würde. Die Schalung musste also massiv sein und im Bogen gefräst werden. Man orientierte sich bei der Neuherstellung der Rippen am ursprünglichen Aussteifungssystem.(56)

Chorgewölbe nach der Wiederherstellung

LKAS, Ulm Münsterbauhütte, D4278.

Nach der Wiederherstellung des Chorgewölbes waren die einstigen Schäden vom Bodenniveau aus kaum mehr ersichtlich. In einem Artikel der Neu-Ulmer Zeitung vom 20. August 1969 heißt es: „Der heutigen ‚Mannschaft‘ gebührt ein besonderes Verdienst. Denn sie hatten unter schwierigsten Umständen das Münster wieder zu dem gemacht, was es vor den Fliegerangriffen 1944 und 1945 war: eine majestätische, harmonisch zusammengefügte Baueinheit. Vergessen sind die Kriegsschäden: kahle Fenster, Regen und Schnee drang in das Innere, durch das Chorgewölbe war der Himmel zu sehen, kurz ein trübes Bild der Zerstörung. Von alledem merkt der heutige Besucher nichts mehr.“Vgl. dazu LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 36. Vgl. dazu auch das Zitat von Dekan Seifert von 1969: Dekan Seifert, 1969:
„Diejenigen Ulmer, die di Angriffe im Dezember 1944 und März 1945 miterlebt haben, wissen, wie das Münster damals aussah: kahle Fenster, Regen und Schnee drang herein, durch das Chorgewölbe war der Himmel zu sehen, ein trübseliges Bild der Zerstörung. Der heutige Besucher merkt davon nichts mehr.“. (57)

3.2: Die Restaurierung der Trumeaupfeilerfigur am Hauptportal

Restaurierung Schmerzensmann

LKAS, Ulm Münsterbauhütte, D5738

Im August 1974 wurde die Trumeaupfeilerfigur mit Darstellung des Schmerzensmannes vom Hauptportal des Ulmer Münsters genommen, um sie sachgerecht zu restaurieren. Anlass war die Restaurierung des Portals zur bevorstehenden 600-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Münsterbaues von 1977. Das Unternehmen war von der Münsterbauhütte unter Leitung des Münsterbaumeisters Gerhard Lorenz technisch minutiös vorbereitet worden. In einem Käfig wurde die Figur abgeseilt und in einem Wagen ins Münster transportiert. Heute steht eine Kopie des Schmerzensmannes am Hauptportal, während das Original im Münster befindlich ist.(58)  

Der Beschluss, restaurierungsbedingt dem Schmerzensmann vor anderen Architekturteilen und Kunstwerken den Vorzug zu geben, wurde in einer Sitzung des Jubiläumsausschusses, dem u.a. Dekan Askani, Münsterbaumeister Lorenz und Oberregierungsbaurat a.D. Kienzle angehörten, am achten April 1974 gefasst: „Münsterbaumeister Lorenz entwickelte sein Programm hinsichtlich der notwendigen Restaurierungsarbeiten am Münster bis 1977. Es müssen bis dahin in erster Linie das Hauptportal einschl. dem Schmerzensmann und das Südwestportal … restauriert werden. Nach Restaurierung des Schmerzensmanns soll ein Abguß gemacht werden, von dem eine Kopie angefertigt werden kann. Das Original soll dann im Inneren des Münsters aufgestellt werden, während die Kopie an Stelle des Originals … aufgestellt werden soll.“(59)  Die geschätzten Kosten der Restaurierung beliefen sich damals auf 400 000 DM. Am neunten Januar 1975 beschäftigte sich die Mitarbeiter Dieter Vogler, Fritz Liebig und Otto Steininger mit den Vorarbeiten zur Konservierung des Schmerzensmanns.(60) 

Restaurierung Schmerzensmann

LKAS, Ulm Münsterbauhütte, D5740.

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, wo die Figur ihren endgültigen Standort im Inneren finden sollte. Dazu ein Protokollauszug vom 14.3.1975: „Im Hauptportal ist der Schmerzensmann abgenommen worden. Er befindet sich in der Neithardtkapelle, wo er in drei Arbeitsphasen restauriert wird. Dabei ist die Frage noch offen, ob an dem ursprünglichen Standort ein Abguß oder eine Kopie aufgestellt werden soll. Ein geeigneter Standort des Originals im Münster muss seinerzeit festgelegt werden.“(61)  Im Februar/März 1977 konnten die Arbeiten am Schmerzensmann abgeschlossen und eine Kopie der Figur am Hauptportal aufgestellt werden.

Die Figur wurde mit einem Sandsteinverfestigungsmittel, nämlich Kieselsäure-Ester, bearbeitet, komplett in Watte und Folie eingepackt und schließlich die Verfestigung durch den Münsterbaumeister mit Restaurator Walter Hammer fachmännisch geprüft. Die in die Figur eingebrachten Kieselsäure-Ester müssen genau dosiert werden, um zu verhindern, dass sich durch die Witterungsverhältnisse Schalen oder Krusten bilden, die in der Folge zu Spannungen und schließlich zu Fugen im Gestein führen können. Bei der Restaurierung stellte sich heraus, dass die Figur der Verwitterung und den Abgasen überraschend gut standgehalten hatte. Haarlocken und Handlinien waren zwar verschmutzt, aber immer noch sauber gezogen.(62)

Dennoch wies sie ältere, durchgängige Brüche auf, die weitere Transporte erschwerten. Als der Direktor des Stadtmuseums Ulm, Dr. Treu, 1977 für die Ausstellung „Das Christusbild im 15. Jahrhundert“, ebenfalls im Rahmen des Münsterjubiläums, die Figur leihen wollte, wofür er schon die Zusage des Ständigen Ausschusses am Münster erhalten hatte, meldete Münsterbaumeister Lorenz Bedenken an, die Figur könnten aufgrund dieser Brüche weiter Schaden nehmen, zumal sie innen hohl sei und damit anfällig. Dem Antrag wurde dennoch stattgegeben, zumal der Ausschuss seine frühere Zusage nicht zurückziehen wollte.(63)

4: Zusammenfassung und Ausblick

Mit viel Liebe zum Detail, Sorgfalt und immer im Bewusstsein des kulturellen Erbes haben sich die Baumeister seit der Grundsteinlegung dem Bau des Ulmer Münsters gewidmet. Auch nach der langen Phase des Baustopps blieb man sich der Verantwortung bewusst, die eine solche Bausubstanz mit sich bringt. Durch die hohe Überlieferungsdichte erhalten wir einen Einblick davon, wie man im 19. Jahrhundert ein Großprojekt wie die Restaurierung des Ulmer Münsters angegangen ist, welche Ressourcen und Strukturen notwendig gewesen waren und heute immer noch sind, um dieses monumentale Erbe sakraler Baukunst vornehmlich des Mittelalters und des Historismus mit Unterstützung der Institutionen, Einrichtungen und Stiftungen seitens der Denkmalpflege aufrechtzuerhalten. Dabei ist das Ulmer Münster im speziellen als Bürgerkirche das Werk der Ulmer Bürgerschaft, ohne deren finanzielle Mittel und Engagement das Bauvorhaben nicht hätte realisiert werden können. Zahlreiche Ereignisse der letzten Zeit, die uns die Dimension der Zerstörung unseres gemeinsamen Kulturguts auf verschiedene Weise deutlich und schmerzlich vor Augen führen, machen uns bewusst, dass gerade wir sowohl als Bürgerinnen und Bürger, als auch als gemeinsame Verantwortliche für unser Kulturgut eine kulturhistorisch bedingte Aufgabe zur Wahrung unseres kulturellen Erbes haben.

5: Quellen und Bilder

5.1: Quellen

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 16

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 17

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 19

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 36

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 42

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 378

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 472

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte, Nr. 1116 

Stadtarchiv Ulm 372/10, Nr. 1: „Das Ulmer Münster“ – Ein Erinnerungsblatt zu seiner Vollendung im Jahre 1890; Gratis-Beilage zum „Heuberger Boten“

Stadtarchiv Ulm 372/11, Nr. 2: Reparaturen in und am Münster

Stadtarchiv Ulm 372/11, Nr. 4b

Stadtarchiv Ulm, 372/11, Nr. 11

5.2: Bildmaterial

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte D 4931 – D 4932

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte D 3495-3 – D 3495-9

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte D 3968-1 – D 3968-2

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte D 4278

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte D 5738 – D 5741

LKAS, Ulmer Münsterbauhütte P 21503 – P 21504

Aktualisiert am: 24.04.2024