Ländliche Frömmigkeit im frühen 20. Jahrhundert: das Beispiel Unterjettingen

Quelle: LKA A 29, 4805 Pfarrbericht Unterjettingen 1920

Pfarrbericht für die auf den 8.April u. 13. Juni ausgeschriebene Visitation der Pfarrei Unterjettingen

I. Schilderung der Gemeinde

1. Die Pfarrei umfaßt die geschlossene Gemeinde Unterjettingen und das selbständige Predigtfilial, die frühere Hof-, jetzt Staatsdomäne Sindlingen

2. Charakter der Gemeinde

a) Frömmigkeit

Unterjettingen ist ein Dorf von altwürtt[embergischen] Charakter. Die Frömmigkeit ist typisch bäuerlich. Das starke Abhängigkeitsgefühl von der Witterung ist religiös gefärbt. Gott ist zunächst der, der Wolken, Luft und Winde gibt, Wege, Lauf und Bahn. Bei nahendem nächtlichen Gewitter steht man auf und betet. Einer der ärgsten Trinker sucht dann Schutz beim Sprecher der Gemeinschaft. Nach einem lauten Fest mit viel Lärm und Betrunkenheit kam (vor Jahren) im Sommer ein Hagelschlag – eine göttliche Strafe. Von einem früheren Pfarrer wird gerühmt, daß er ins Feld „geknuibet“ (gekniet) sei und um Bewahrung gefleht habe. Um seinetwillen kam lange Jahre kein Hagel. Gegen die göttliche Hand im Wetter soll man sich nicht durch Hagel-Versicherung schützen. Die ältesten Bauern sind nicht versichert. Andere Versicherungen sind erlaubt. Daß die Witterung ihre natürlichen Gründe habe, wird zugegeben, aber wunderbare Eingriffe werden darin doch angenommen. Daß die Meteorologie im Krieg nicht viel entdeckt hat, ist selbstverständlich. Gott läßt sich doch nicht in die Karten gucken. Überhaupt ist vieles in der Natur, z.B. das Wachsen des Keims, etwas Unerklärliches. Die Wissenschaft weiß überhaupt nicht viel. Studierte Bauern machen höchstens mehr Torheiten als andere. Daß Schwindsucht von Bazillen herrühre, wird nicht geglaubt.

Die Allmacht ist die hervorragendste göttliche Eigenschaft. Auf sie wird alles zurückgeführt. Demgemäß ist die Furcht der Grundcharakter der Frömmigkeit. „Gottesfurcht“ ist der Ausdruck für Frömmigkeit. Auch von der weltlichen Obrigkeit erwartet man Strenge. „Das gibt Furcht“. Die gegenwärtige Regierung wird darum gering geschätzt, weil sie auf das Erregen von Furcht verzichtet.

Jedoch ist der Gedanke an die göttliche Allmacht mitunter auch tröstlich. Man weiß sich in ihr geborgen. Sie wird alles recht machen ohne menschliche Nachhilfe. Daher wehren sich die Alten, z.B. der Stundenhalter, der an Blinddarmanfällen leidet, gegen eine Operation. Nach schmerzlichen Todesfällen sagt man: „Es ist nur gut, daß man weiß, wers getan hab.“

Die rel[igiöse] Haupttugend ist dementsprechend der Gehorsam. Der göttliche Wille ist in der Bibel, 10 Geboten, Gewissen klar gegeben. Probleme gibt es da keine. Pflichtenkollisionen sind unbekannt. Der gehorchende zwölfjährige Jesus ist eine beliebtere Figur als der Bergprediger mit seinem: „Ich aber sage euch.“ Der Gehorsam gegen ältere Brüder wird in Gemeinschaftskreisen bes. hoch geschätzt. Von der Jugend wird nicht bloß Ehrerbietung, sondern auch Unterordnung verlangt. Den Gehorsam segnet Gott. „Denen, die mich lieben und meine Gebote halten, bin ich wohl bis ins 1000. Glied“ – ist ein Spruch, über den die Gemeinde nicht müde würde, Christenlehre anzuhören. Der göttliche Segen wird sehr massiv als Gedeihen in Feld, Stall und Familie gedacht. Umgekehrt ist aber auch Unglück die Folge des Ungehorsams. Besonders bei Sünden gegen das 6. Gebot wird festgestellt, daß die aber nicht vorwärts kommen. Ein Sprüchlein wird gern zitiert: Junges Blut! Spar dein Blut! Armut weh im Alter tut!

Dieser alttestamentlichen, zur Gesetzlichkeit neigenden Frömmigkeit entspricht ein Zug zur Werkgerechtigkeit. Die Justitia civilis wird als hinreichend empfunden, um vor Gott zu bestehen. Auf „ein gutes Ort“ hofft man für Sterbende fast stets; eine Mutter einmal mit der Begründung: ihre 18jährige Tochter habe ja noch nicht einmal ein Verhältnis gehabt. Einem Trinker, der sich erhängen wollte, brach der Strick. Er erzählte nachher einem Freund, ihm sei es schon grün und blau vor den Augen gewesen. Der Freund trug das weiter mit der Bemerkung, das seien die grünen Auen von Ps. 23.

Hier setzt nun das Gemeinschaftschristentum mit starker Gewissensschärfung ein (1). Es trägt gegenüber der bisher geschilderten, am A.T. orientierten Frömmigkeit entschieden christl[ichen] Charakter. Zwar schätzt es das A.T. gleich hoch ein wie das N.T. – nur vom Zeremonialgesetz sind wir frei – als Rechtfertigung für das Erschießen feindseliger Belgier 1914 wird das Bannen kananäischer Völker angeführt – , aber doch hängt diese pietistische Frömmigkeit durchaus an der Passion Christi. Das Wort „Heiland“ wird öfter gebraucht als das Wort „Gott“. Hierin hat der Pietismus die ganze Gemeinde beeinflußt. Der Heiland regiert die Welt, die Völker, die einzelnen. Er „kommt“, um Sterbende abzuholen, er schenkt neue Herzen, führt Liebende zusammen, segnet die Natur. Ein regnum naturae und ein regnum gratiae wird nicht unterschieden. Vor allem wird Christus als Versöhner gefeiert. Das Sündenbewußtsein bei den Gem[einschafts]leuten und den ernsteren Kirchenchristen ist ernst und tief, wenn sie auch nur selten davon reden. Eine sterbende Bäurin sagte: „Ich hab nicht gelebt, wies der Brauch ist.“ Sterbende verlangen d[ie] Versicherung, daß ihre Sünden tatsächlich getilgt seien und verlassen sich rein auf die Gnade. Dabei haben natürlich die paulinischen Gedanken über die metaphysische Bedeutung des Todes Christi ihre Geltung. Doch gibt es keine Fanatiker der Orthodoxie; vielmehr ist es die Eigentümlichkeit der hahnischen auch hier, daß sie weniger auf Rechtgläubigkeit als auf Bewährung im praktischen Leben sehen. Und so dringen die Gem[einschafts]leute bei sich und anderen neben der Annahme Christi als Versöhner – das gilt als Frucht des Konfirm[anten]unterrichts und des Predigthörens – auf die Nachfolge Christi. Darin sich zu stärken ist der Zweck der Stund. „Jagen nach der Heiligung“, Ringen um den Eingang durch die enge Pforte“ sind spezifische hahnische Werte. Wie notwendig diese Vertiefung der Frömmigkeit bei der bäuerlichen Neigung zur Selbstgerechtigkeit ist, ist oben berührt worden, und darum ist auch die Kehrseite des hahnischen Typus der ständige schwere Bußernst, das unfrohe Schaffen, das menschliche Werk mit Furcht und Zittern, die strenge Verurteilung harmlosen fröhlichen Lebensgenusses mit in Kauf zu nehmen.

Das Gebetsleben blüht zweifellos beim ernsten Teil der Gemeinde, nicht bloß bei den Vorbetern in der Stund. Manche Häuser werden gezeigt, in denen früher besonders viel gebetet worden sei. Mancher Keller könne viel erzählen.

Die Hausandachten lassen nach. Schwerlich wird sie noch in der Hälfte der Häuser gepflegt. Doch trifft man Gebetbücher in jedem Haus, freilich kein einziges Neueres, Wurster z.B. ist unbekannt. Bei den älteren Familien findet morgens und abends Andacht statt. Tischgebet ist allg[emeine] Sitte. Wer am Sonntag nicht zur Kirche gehen kann, liest – so war es bisher – zu Hause eine Predigt. Sonntag Nachm[ittags] liest man ein Kapitel. Beim Betglockenläuten spricht Vater oder Mutter einen Vers. Doch ist das nur noch bei wenigen Familien Sitte. Im Wirtshaus die Kappe ab- und die Pfeife aus dem Mund nehmen ist ganz abgekommen. Kranken lesen die Angehörigen täglich ein Lied vor (vom Pfarrer wird das als Selbstverständlichkeit erwartet) hoffend, daß es eine Wirkung im Sinn der Gesundung tue. Selten kommts vor, daß ein Besucher frei betet. Vom Gesundbeten ist noch nichts bekannt.

Die Bibel gilt als unantastbares Gottes Wort. Zwar fehlt es nicht an Zweiflern. Das größte Lügenbuch schalt sie einmal ein Wirtshausbesucher und von einem Bürger erzählt man sich, daß er gar nichts glaube. Der ist – nebenbei bemerkt – der Meinung, er fühle Erdbeben voraus. Einmal controllierte ich ihn; dabei versagte er. Moderne, liberale Pfarrer gelten als Schädlinge. Mein Bekenntnis, daß ich auch durch die moderne Schule gegangen, hat Kopfschütteln, doch wie mir scheint, keine ernstliche Entfremdung hervorgerufen. Kunz [Pfarrer] – Hildrizhausen machte einmal den praktischen Versuch, ein tief rel[igiöses] Weib in kritische Gedankengänge einzuführen. Nach 8 Tagen kam die Frau mit der Bitte, davon abzustehen, ihr falle sonst gar alles hin. Ähnlich würde es auch hier gehen. Ich begnüge nach zugeben, was ich vertreten kann. Ein ganz vereinzelter Versuch, in meinem Männerverein einen textkritischen Gedankengang verständlich zu machen, wurde übrigens freundlich aufgenommen. Die Vorstellungen der Bibel von Himmel und Hölle, Engeln und Dämonen sind in die Köpfe übergegangen. Wenn mein Kirchenpfleger vom Leibhaftigen spricht, schaut er sich ängstlich um.

Der Krieg brachte der Frömmigkeit zwar keine eigentliche Krise, aber eine spürbare Erschütterung. In der Heimat wurde zwar der Widerpart von Krieg und ev. Liebesgebot nicht hart empfunden; der Bauer ist zu a[l]testamentlich] orientiert; auch die Stundenleute beteten um Sieg. Der unglückliche Kriegsausgang wurde sofort als Gericht gedeutet und gab keinen Anlass zu Zweifel. Aber der moralische Niedergang rief die Frage wach, warum Gott ihn dulde. Eine gewisse Auskunft wird in eschatologischen Ideen gesucht. Es gehe eben dem Ende zu, da muß es so kommen. Nicht bloß Gem[einschafts]leute, die ganze ältere Generation lebt in ihnen. Als ein paar Urlauber eine Leuchtrakete steigen ließen, liefen die Weiber zusammen und deuteten den Kometen als Vorboten des Endes. Die Sterne werden von dem Himmel fallen, zitierte ein unkirchliches Weib. Den Hauptanstoß bildet die durch den Krieg verursachte Verschiebung der Vermögensverhältnisse. Ein mittlerer Bauer mag im Krieg 10.000 M verdient haben. Schulden hat niemand mehr. Ist schon vorher die „Mißgunst“ eine Hauptsünde des Bauern, so hat sie sich nun durch das Vorankommen der Gewissenlosen, Stehenbleiben der Gewissenhaften mit dem Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit verbündet. Die Mißgunst nahm teilweise groteske Formen an. Von einem Bauern, dessen Einziger auffallend lang nicht an die Front kam, sagte man: „Er kann nicht mehr in die Kirche kommen, so sieht man auf ihn.“ Fast sagt man es ihm ins Gesicht. Anonyme Briefe gingen ab, um einen beneideten Reklamisten an die Front zu bringen. Die Lebensmittelschmierage tat ihr Möglichstes. Der Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit äußerte sich wenigen Leuten, saß aber tief. Ps 73 half ihn überwinden.

Die Kriegsteilnehmer lassen durchblicken – außer einigen Stundenleuten –, daß eine Zeitlang für sie unter das Wort „Schwindel“ auch das Christentum gehört habe. Die Feldprediger galten als Aufklärungsoffiziere und wurden sehr kritisch betrachtet. Ich versuchte sofort 1916 mit Ihnen Fühlung zu gewinnen, sandte wöchentlich das Stuttg. Ev. Sonntagsblatt hinaus, das unter 10 zwei gelesen zu haben scheinen, Flugblätter des Ev. Presseverbands, monatlich die Heimatklänge von Unterjettingen. Besonders dies Blatt wurde gern gelesen. Die Heimgekehrten bat ich M(är)z 1919 zu einem Vortrag zusammen über „Christentum und Krieg“. Stimmen aus Stundenkreisen warnten mich einmal des Wirtshaussaales wegen, und dann aus Besorgnis, ich würde nimmer lebend heimkommen. Sämtliche Soldaten waren erschienen und hörten mit Aufmerksamkeit den Vortrag an. Die Ältesten bedankten sich und erklärten, sie hätten wohl gemerkt, auf was ich hinaus wolle: Kirchengehen und beten. Sie wollten das auch üben. Die Ausführung dieses Vorsatzes läßt allerdings zu wünschen übrig. Ein zweiter Vortrag März 1920 fand wenig Zuhörer äußerer Umstände halber. Augenblicklich ist die Stimmung geteilt. Die größere Zahl Kriegsteilnehmer – auch ledige – haben sich ins kirchliche Leben völlig hereingefunden, ein kleinerer Teil schwankt. Einige Unkirchliche sagen, sie hätten nun lang genug auf ein Wunder gewartet. Bei den Heimgekehrten aber, bei den Leuten hier überhaupt, ist es schwer, durch die kirchl[iche] Sitte und die Reden hindurch auf den Grund zu sehen. Sie haben eine Virtuosität darin, dem Pfarrer nach dem Mund zu reden und geben nicht ihre letzten Gedanken preis.

Ein dunkler Schatten auf die hiesige Frömmigkeit ist der Aberglaube. Es will wenig besagen, dass man Hochzeiten Dienstags oder Donnerstags feiert, Montags nicht reist und keine Stellen antritt. Auch des Nachts Kinder und die Mehrzahl der Alten sich nicht durch den Wald nach Nagold an einem Grenzstein vorbei nach Oberjettingen sich getrauen, ist nichts Außergewöhnliches. Der „Arm“ zwischen Sulz und Oberjettingen ist eine gefürchtete Stelle. Am Kirchhof vorbei gehen manche schwitzend. Ein Schneider, der nach Feierabend ans Grab seines Sohnes in der Dunkelheit zu gehen pflegte, wurde bewundert. Bedenklicher ist der blühende Geisterglaube. Verstorbene werden in ihren Wohnungen gesehen; im Wald stehen an bestimmten Stellen Geister in mittelalterlichen Trachten; will man eine Familie kränken, so behauptet man, ein verstorbener Angehörige „laufe“. Bei mir beklagte sich einmal eine Frau darüber. Der Ausdruck „Geist“, „Goistle“ ist sogar den Nagolder Schulkindern wohl bekannt. Sympathie treiben kommt vor. Ein Schuhmacher z.B., der homöopathische Mittel verkauft und überhaupt als Medizinmann vor dem Arzt zugezogen wird, soll den Leuten Zettel mitgeben. Sie verlieren dann den Appetit. Angehörige finden den Zettel und verbrennen ihn, womit geholfen ist. Wieweit bei Viehkrankheiten Zauberkünste vorgenommen werden, weiß ich nicht. Anstreichen von Melkkübeln aus Angst vor Verhexung kommt vor und sonst sicher manches, was dem Ohr des Pfarrers ängstlich verheimlicht wird. Dem Anwünschen von bösen Folgen wird eine gewisse Kraft zugesprochen. Das übelste ist die Neigung, Kartenschlägerinnen nach zu laufen. Als im Apr. 1920 auf dem Rathaus 8.000 M[ark] gestohlen wurden, reisten einige Leute (Gemeinderäte?) zu einem Weib nach Niedernau, die die Kunst des Kartenschlagens verstehe. Das erklärte als schuldig 3 ortsansässige Männer und 1 Mädchen, das bald mit einem Komplizen Hochzeit haben werde. Adlerwirt B., der wegen Schwarzschlachtung gestraft worden war, befrug sich bei einer Stuttgarter Künstlerin nach dem Verräter. Diese strich beim Kartenschlagen auf einen König und spitztragenden Buben; die Karten wurden als Schultheiß und Fleischbeschauer gedeutet; seither hat der Wirt einen Groll auf die beiden. In religiöser Hinsicht macht sich der Aberglaube als Däumeln bemerkbar. Vor jeder Unternehmung wird in der Bibel gedäumelt. Eine Frau schlug ihrem ins Feld gehenden Sohn das Gesangbuch auf und traf ein Sterblied. An einem Sonntag 1917 tat sie es wieder und fand wieder eins. Sie sei „wütig“ geworden, erzählte sie mir, aber an dem Tag sei der Sohn gefallen. Eine andere Mutter, die sich auf einen glückhaften Spruch beim Ausmarsch des Sohnes verlassen hatte (sehr kirchliche fleißige Stundenbesucherin), wurde durch die Todesnachricht schwer enttäuscht.

Der konservative Grundzug der Bevölkerung macht sich überall bemerkbar. Politisch ist Unterjettingen eine Hochburg des Bauernbunds. Keine pol[itische] Größe ist so verehrt wie Th[eodor] Körner. Die von ihm herausgegebene Schwäbische Tageszeitung hat 13 Abonnenten und ihre Sonntagsbeilage beeinflußt das kirchl[iche] Empfinden. In die mitunter starke Kritik an Konsistorium und Pfarrer Welt, die hier aus Gemeinschaftskreisen laut wird, stimmen meine Leute, auch nicht Stundenbrüder lebhaft ein. Die politischen Wahlen im Januar 1919 fielen folgendermaßen aus. Es wählten von

 

 

Stimm-

ber]echtigte]

Abstim-mende

B[auern]b[und]

Wein-g[ärnter]

B[ürger]part[ei]

Soz[ial-demo-kratie]

Un[abh.

Sozial-

dem.]

Dem[o-kraten]

[DDP]

Z[en-trum]

Fr[ei-bund]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12. Jan.

639

583

= 91%

3442

16

412

54

95

6

67

3

0

19. Jan.

639

574

 

367

 

103

6

70

28

0

 

Das merkwürdige Anschwellen des Zentrums kam von dem Wahn, Herr Erzberger werde einen guten Frieden machen.

Auch in Schul- und Kirchenfragen ist die Grundrichtung der Gemeinde eine konservative. Daß in den neuen Lesebüchern Märchen enthalten sind, ist den Alten, bes. den Stundenleuten ein Anstoß. „Die Lügenbücher sollte man den Kindern nehmen und sie verbrennen.“ Mit der Einführung des Zeichenunterrichts, der Kosten verursacht, sind die wenigsten einverstanden. Der frühere Kirchengemeinderat war geneigt gewesen, die Stiftung der Einrichtung für elektr[isches] Licht in der Kirche nicht anzunehmen. (Noch nicht eingerichtet). Einen Kirchenchor lehnte er ab, da hier Mädchen und verheiratete Männer zusammensingen würden, daß die Mädchen des Jungfrauenvereins sangen, duldete er. Zu Lichtbilder Vorträgen, auch über Mission, erscheint nur die Jugend, neugieriges Volk und einige geweckte Männer, der Kern der Gemeinde nicht. Die von mir eingeführten Weihnachtsspiele in der Kirche (nach Art des Mittelalters Hirtenspiele), die beim überwiegenden Teil der Gemeinde großen Anklang fanden, werden von Stundenleuten und dem ältern Geschlecht nicht gern gesehen. Doch dauerte es 3 ½ Jahre bis ich das erfuhr. Zahlenmäßig ist die Gruppe der Alten gering. Aber in kirchl[ichen] Dingen überragt ihr Einfluß. Besonders infolge des Kriegs hat sich ein Gegensatz zwischen Alter und Jugend herausgebildet. Die vom Feld heimgekehrte Jugend will – mindestens 70 Mann von den 200 – sonntags tanzen und unbeaugt durch die Polizeistunde bechern. Sie hat sich im Gemeinderat 1919 4 von 14 Sitzen erobert und macht sich überall geltend. Anlässlich der Friedensfeier 5. Apr. 1920 lehnte der Gemeinderat, Festausschuß und Pfarrer die Zuziehung teurer Blechmusik ab. Die Jugend aber forderte sie und setzte ihren Willen durch. Hielt dann aber auch ihr Versprechen tadelloser Führung. Fast kam es über dieser Sache zu einer doppelten Feier. Die Gemüter waren sehr erhitzt. Mir fiel die undankbare Aufgabe der Vermittlung zu. Auch äußerlich zeigt sich der Unterschied der Zeiten. Neben dem Ähne in weißen Lederhosen kann man den Enkel mit gelben Schuhen sehen. Der alte Hirschwirt sagte mir einmal im Blick auf einen verstorbenen Trinker, seinem guten Kunden: „Ein ausgezeichneter Mann! Freilich, was sein Seelenheil betrifft, s‘ ist Schade um ihn.“ Der Sohn läßt jeden Sonntag in seinem Saal tanzen, besorgt auch die Musik dazu und kommt selten zur Kirche.

b) Die Kirchlichkeit

Ist immer noch sehr gut zu nennen. „Wer nicht in die Kirche geht, der gilt hier nichts“, sagte mir am 3. Tag ein alter K[irchen]G[emeinde]R[at] und es ist richtig. Unter den allerhand Gründen, die der Gemeinderat M[är]z 1920 gegen die Person des Hauptlehrers Haarers vorbrachte (I. XVII), war auch der: er gehe nie in die Kirche, ein Vorwurf, der sichtlichen Eindruck auf den anwesenden Bez[irks] Schulinsp[ektor] (Schäfer Böblingen) machte. „Wir fragen bei jedem neuen Lehrer zuerst, ob er in die Kirche geht“, sagen mir die älteren Leute. Doch auch in diese überkommene strenge Auffassung hat der Krieg ein Loch geschlagen. Die Heimgekehrten gehen zum größten Teil sehr unregelmäßig zur Kirche. Manche kommen gar nie. Einer erklärte, ob seine Kinder mit oder ohne Rel[igions]unt[erricht] aufwüchsen, sei ihm einerlei. Doch haben, wie ich höre, alle Familienväter eine Eingabe um Erhaltung der Konfessionsschule, die von Gem[einschafts]kreisen ausging, unterschrieben. Eine gewisse Probe der Kirchlichkeit war die Gründung einer Ortsgruppe des Ev. Volksbundes Mz. 1919. Meine Vertrauensleute gingen umher und sammelten Unterschriften, mit dem Bedeuten, wer noch etwas von der Kirche wissen wolle, solle unterschreiben. Das ganze Dorf unterschrieb. Nur das Stundenhaus zögerte auf Wink von Stuttgart hin.

Es ist das übrigens nicht als Ausdruck persönlicher Überzeugtheit vom Wert der Kirche, sondern als Wirkung des Hordengeistes aufzufassen. Der Dorfbewohner ist – außer in rel[igiöser] Hinsicht – nicht selbständig. Unterschreiben irgendwo ¾, so will keiner mehr zurückbleiben. In den Collegien werden die allermeisten Beschlüsse einstimmig gefaßt. Jeder fragt, was der Nachbar tut. Hat in der Ernte eines mit Schneiden begonnen, so ist kein Aufhalten mehr, mögen die Halme noch so grün sein. Als ich für den Reformationsdank 1917 sammelte, stellte ich den Leuten eine Opferbüchse hin, damit sie unbeeinflußt nach eigener Entscheidung opfern könnten. Die erste Frage war nach der Gabe des Nachbarn. Sie vermißten geradezu eine Geberliste. Ergebnis 300 M[ark]. Bei einer Sammlung zur Anschaffung neuer Glocken stellte ich eine Liste auf und ließ die Wohlhabenden zuerst eintragen. Ergebnis 9467 M[ark].

Daß die kirchl[lichen] Wahlen in konserv[ative] Stimmen fielen, ist nicht verwunderlich. Am 1. Juli 1919 (Landeskirchentagswahl) wählten rund 60%. Es fielen Stimmen auf: Lukas Theurer 321, Prälat Römer 348, Prof. Scheel 38, Stadtpf. Völter 16.

Bei der K[irchen]G[emeinde]R[ats] Wahl am 7. D[e]z. 1919 konkurrierten zwei Wahlzettel, einer, der von Ausschußmitgliedern des Ev. Volksbunds inoffiziell ausging, und einer der Stund. Der letztere siegte etwa im Verhältnis 2:1. Wahlbeteiligung 52 %. Bei der Ersatzwahl für † [verstorbenen] Prälat Römer am 25. Apr. 1920 stimmten 35 % ab, alle für Groß-Holl. In Sindlingen wählten 1. Juli 1919 sämtliche 20 Berechtigten Römer-Theurer, 25. Juli 20 wenigstens 18 Groß, 2 waren krank. Ökonomierat Adlung hat gute Disziplin.

 2. [sic] Die Teilnahme am öffentlichen Gottesdienst

ist gut. Die übergroße Kirche – 680 Sitzplätze auf 1197 Einw[ohner] – ist meist gut besucht. Besonders die männliche Jugend erscheint fleißig. An gewöhnlichen Sonntagen sind die Plätze der Jugend von 14-20 Jahren dicht besetzt. Nach der diesjährigen Konfirmation wissen wir sogar nicht, wohin mit den Neukonfirmanten. Aber auch von den Kriegsteilnehmern kommt ein Teil (1/3)(2) ziemlich regelmäßig. Dagegen zeigen die Bänke der älteren Männer Lücken. Die Feiertagsgottesdienste sind gut besucht. Am 1. Mai 1918, einem allerdings regnerischen Tag, wurden 22 M[änner] 128 Fr[auen] = 150 Pers[onen] gezählt. In der Christenlehre steht immer noch ein Kranz von c[ir]ca 30 Männern, bes. jüngere, auf der Empora, während von den Frauen halb so viel da sind wie am Vorm[ittag]. Die Bußtagsgottesdienste werden als Bibelstunden gehalten. Die gehen das ganze Jahr über fort und sind ordentlich besucht (c[ir]ca 100 Pers.)(3), so gut freilich nicht mehr wie die Kriegsbetstunden. Nachdem der Mann oder Sohn heimgekehrt ist, hat der Kriegsbetstundenbesuch seine Zweck erfüllt. Völliges Meiden der Kirche ist sehr selten. Bei Kriegsteilnehmern scheint dafür Gleichgültigkeit, anderen eher ein böses Gewissen der Grund zu sein. Eine schlimme Sache ist der Kirchenschlaf. Eine ziemliche Anzahl älterer Männer, aber auch Mädchen und Schulkinder „nicken“ regelmäßig, mag predigen wer will. Doch ist die Aufmerksamkeit bei der großen Mehrzahl sehr groß. Vor dem Gottesdienst ist die Ruhe nicht tadellos. Dagegen geht man nach der Kirche schweigend heim. Bei den Schulkindern stellte ich ab und zu fest, daß die wenigsten das Thema der Predigt behalten, dagegen haften Illustrationsgeschichten bei allen. Wie weit die Kirche bei den Bauern das Theater ist und daher besucht wird, kann ich nicht beurteilen.

3. Sonntagsfeier

Die Heiligung des Sonntags wird durchaus als Gesetz empfunden, dessen Übertretung mit Strafen: Hagel, Unglück im Stall usw. bedroht ist. Gearbeitet wird nicht, abgesehen von einer unkirchl[ichen] und einer Methodistenfamilie. Man „wandelt“ nachm[ittags] aufs Feld, macht Besuche usw. Die Wirtschaften sind schwach besucht; erst gegen Abend füllen sie sich - seit 1917 wieder - mit jungem Volk, das bei Musikantenuntermal[ung] u[nd] Ziehharmonika tanzt. Auch geht die tanzwütige Jugend nachm[ittags] nach Nagold, wo im Löwen und Pflug bis Mitternacht Gesellschaft anzutreffen ist. Eine gewisse Unruhe bringen auch die Hamster herein, von denen es Sonntags wimmelt. Die Wirtshausbrüder, die auch carfreitags ihr Bier haben müssen, sind nahezu verachtet.

4. Verhältnis zum Pfarrer

Als ich meinem Kirchenpfleger einmal meine Verwunderung aussprach, daß die Gemeinschaften im Gäu so genau nach den Winken von Stuttgart exerzierten, erwiderte er: „So weit können Sie es auch noch bringen, Herr Pfarrer! Wir folgen unserem Hirten“. In der Tat ist die Achtung1 vor dem Pfarrer noch groß. Die alten Bauern stehen am Feierabend von der Bank auf, nehmen die Kappe ab, schieben die Pfeife ein, wenn der Pfarrer sie anredet, mag er selbst noch so jung sein. Die Jugend von heute wird freilich in der Schule nicht mehr zu solcher Reverenz gedrillt und grüßt mich darum auf der Straße kaum, obwohl sie nichts gegen meine Person hat. Es ist reine Lümmelei. Man sieht den Pfarrer in allen Häusern gern und wird eifersüchtig auf ein Haus, das er zu bevorzugen scheint. Ein guter Teil der Familien wünscht, ein Vertrauensverhältnis zum Pfarrer zu haben, und erbittet auch seelsorgerlichen Rat. Doch besteht andererseits eine Scheu ins Pfarrhaus zu kommen; man tut es in der Dämmerung und möchte nicht in den Verdacht kommen als wolle man sich beim Pfarrer wohl dran machen oder andere verschwätzen. Doch gestehe ich zu meiner Beschämung, daß Privatbeichte noch von niemand begehrt wurde. Kranke erwarten unbedingt Besuche des Pfarrers mit seelsorgerl[icher] Besprechung und Gebet.

Die Sitte, ins Pfarrhaus eine kleine Verehrung zu bringen, besteht noch. Einmal brachte mir ein frommes Weiblein die ersten Eier des Jahres mit der Bemerkung, sie denke, wenn sie die ersten ins Pfarrhaus bringe, dann legen die Hühner brav weiter. Leider kam dann kalte Witterung. Andererseits nimmt die Achtung vor dem Amt sichtlich ab. Die Jugend reflektiert auf seine wirtschaftlichen Bedingungen. Ich stieß bei sozialistisch angehauchten Kriegsteilnehmern auf die Meinung, daß ich als Pfarrer abhängig sei von den Kirchenkreisen und darum nicht nach freier Überzeugung handeln dürfte. Meine Teilnahme an der Aufklärungsarbeit gegen Schluß des Kriegs hat die Kriegsteilnehmer stutzig gemacht. „Das glaubten Sie selbst nicht, was Sie uns Sommer 1918 sagten, daß der Krieg noch ordentlich enden könnte“, sagte mir ein kirchentreuer Stundenmann und Kriegsteilnehmer. Bei dem starken Gegensatz von konserv[ativem] Alter und freier sich regender Jugend, die aber auch kirchlich ist, fällt dem Pfarrer die Rolle der Vermittlung zu. Die Gemeinschaft, von früher her geneigt, im Pfarrer ohne Weiteres ihren Mann zu sehen, ist mit meiner Amtsführung, insbes. Führung der Jugend-Vereine nicht ganz zufrieden. Der Jugend bin ich schwerlich liberal genug. Jedenfalls die Sammlung der Mädchen von der Gasse weg, ist den ledigen Burschen recht ärgerlich. Daß mein Privatleben, zumal ich ledig bin, aufs genaueste überwacht und besprochen wird, mitunter in bösartiger, aber nie faßbarer Weise, ist keine Frage.

Aktualisiert am: 16.04.2014

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