E 1-E 4 - Ephoratsbestände (1534-2013)

Bearbeitung

Claudius Kienzle, Johannes Grützmacher
Red.: Johannes Grützmacher

Geschichte und Charakter der Teilbestände des Ephorats

Die Ephoratsakten bilden den eigentlichen Kern des Stiftsarchivs. Sie sind zu unterschiedlichen Zeiten bearbeitet worden. Die Aufgliederung des Ephoratsbestands in vier Teilbestände spiegelt die unterschiedliche Geschichte der Registraturteile wider.
Das Kernstück des Bestands bildete der im 1912/13 erstellten Kastenbuch erschlossene und dann fortgeführte ältere Bestand (E 1), ergänzt von den sich seit dem 19. Jahrhundert anlagernden und über die alte Kastenordnung herauswachsenden Registraturschichten (E 2). Die provisorische Erschließung dieser älteren Teile wurde 2006 vom Landeskirchlichen Archiv Stuttgart und dem Bearbeiter Claudius Kienzle leicht verändert übertragen und um die Erschließung unverzeichneter Akten seit 1945 ergänzt (E 3). Im Rahmen des diesem Findbuch zugrunde liegenden Erschließungsprojekt wurde ein ergänzender Residualbestand neuerer Ephoratsakten erschlossen (E 4).
Bestand E 1 (Altes Kastenbuch)
Der Bestand E 1 umfasst den Bestand, den Repetent Albrecht Ströle 1912/1913 bearbeitete und durch ein "Kastenbuch" genanntes Findmittel erschloss. Er umfasst 770 Verzeichnungseinheiten in 371 Archivkartons mit einem Umfang von 39 lfd. m. Zeitlich erstreckt sich der Bestand auf die Zeit zwischen 1534 und 1939 mit einem Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert, aber einem beträchtlichen Teil von Unterlagen auch schon aus dem 16.-18. Jahrhundert.
Der Bestand E 1 bildet das "Herzstück" des älteren Archivs. Insgesamt bildet das Kastenbuch die vielfältigen Tätigkeiten der Stiftsverwaltung detailliert ab. Zudem sind die Stiftsstudierenden sind systematisch von Beginn an bis in die 1930er Jahre mit wenigen Lücken nachweisbar - vor allem in Zeugnisunterlagen und disziplinarischen Unterlagen, aber auch auch in den Rezeptionsbefehlen, Zitationsbefehlen, Vikariatsbefehlen oder den Krankenakten.
Die Ordnung des Bestands bezieht sich auf den Lagerort der Akten in den Fächern der jeweiligen Registraturschränke (Kästen I-VIII). Die Kästen bilden eine grobe und nicht immer stringente sachthematische Einteilung ab. Die Schicht lässt keinen eindeutigen chronologischen Schnitt und damit eine eindeutige Abgrenzung zu E 2 erkennen. Dies ist unter anderem auch deswegen nicht möglich, weil (hauptsächlich im Kasten VIII) auch nach der Anlegung des Repertoriums Eintragungen gemacht wurden.
Bei einer Umsetzung des Bestandes 1985, die auch eine Umverpackung der Akten mit sich brachte, wurde das Gliederungsprinzip nach Kästen und Fächern aufgegeben und die Akten wurden in fortlaufend durchnummerierten Schatullen verpackt. Ein 2006 erstelltes Findbuch der Ephoratsakten übernahm lediglich die Titelaufnahmen aus dem Kastenbuch und fasste alle in einem Archivkarton lagernden Akten als eine Verzeichnungseinheit zusammen. Dadurch entstanden aus mehreren, teilweise inhaltlich völlig unterschiedlichen Akten zusammengesetzte Verzeichnungseinheiten.
In den Jahren 2008-2009 wurde die Erschließung überarbeitet. Die Titelaufnahmen des Kastenbuchs wurden weitgehend übernommen, aber überprüft und ggf. geändert. Die Signaturen wurden denen der anderen Bestände im Stiftsarchiv angeglichen (zweistufiges Nummernsystem). Ein Index wurde erstellt. Als Grundlage der Verzeichnung dienten die Akten des Kastenbuchs. Eine Verzeichnungseinheit entspricht somit wieder einer Nummer im Kastenbuch. Die Akten sind weitgehend, aber (v.a. in den großen Aktenserien) nicht vollständig beschriftet und im Aktenumfang erfasst.
Bestand E 2 (Ephorat: Zweite Registraturschicht)
Der Bestand E 2 enthält die zweite Schicht der Ephoratsregistratur. Er umfasst 395 Verzeichnungseinheiten in 199 Archivkartons mit einem Umfang von 19 lfd. m. Zeitlich erstreckt sich der Bestand auf die Zeit zwischen 1752 und 1982 mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Grundlage des Bestands sind die Akten, die nicht mehr in den Archivkästen untergebracht werden konnten. Für sie wurde die Systematik des Kastenbuchs leicht verändert fortgeführt (Kasten IX und X, allerdings ohe Angabe von Fächern). Ein entsprechendes Verzeichnis wurde von Elfriede Götz erstellt und später ergänzt.
Der Bestand wurde 2006 von Claudius Kienzle grundlegend neu verzeichnet, wobei die Ordnung des Bestands modifiziert wurde. Für das vorliegende Findbuch wurde jene Verzeichnung leicht verändert übernommen. Weil die Datenbank der Erschließung von 2006 nicht mehr vorlag, musste der Index neu erstellt werden. Auf Umfangsangaben wurde verzichtet.
Charakteristisch für den Bestand E 2 sind nicht umfangreiche Aktenserien (mit der Ausnahme der Stiftsexamina), sondern vielmehr die kleinschrittigere Dokumentation der unterschiedlichsten Tätigkeiten der Stiftsverwaltung im betreffenden Zeitraum.
Bestand E 3 (Ephorat: Dritte Registraturschicht)
Der Bestand E 3 enthält die dritte Schicht der Ephoratsregistratur. Er umfasst 387 Verzeichnungseinheiten in 111 Archivkartons mit einem Umfang von 11,5 lfd. m. Zeitlich erstreckt sich der Bestand auf die Zeit zwischen 1866 und 1994, wobei der Kern der Überlieferung die Jahre 1930-1987 umfasst.
Die Grundlage für den Bestand E 3 bildet im Wesentlichen die Ephoratsregistratur, wie sie nach dem Ende des Ephorats von Friedrich Hertel und nach dem Umbau von 1991/92 ins Archiv übergeben wurde. Der Bestand wurde 2006 von Claudius Kienzle grundlegend neu verzeichnet. Dabei wurden umfangreiche Aktenserien aus der Fortführung der Kastenregistratur (Kasten X und XI) integriert: Semesterakten, Semesterberichte, Prüfungsakten. Bei den neueren Prüfungsakten wurde pauschal eine Sperrfrist von hundert Jahren nach Laufzeitende angesetzt, um den Vorschriften für personenbezogene Unterlagen Genüge zu tun (Zugang 30 Jahre nach Tod bzw. 120 Jahre nach Geburt, unter der Annahme, dass die Prüflinge zum gegebenen Zeitpunkt wenigstens 20 Jahre alt waren).
Für das vorliegende Findbuch wurde jene Verzeichnung leicht verändert übernommen. Weil die Datenbank der Erschließung von 2006 nicht mehr vorlag, wurde auf Umfangsangaben vorerst verzichtet.
Der Charakter des Bestands E 3 wird vor allem von den angesprochenen Aktenserien bestimmt. Er erlaubt weniger einen systematischen oder thematischen, sondern vielmehr einen chronologischen Zugriff.
Bestand E 4 (Ephorat: Vierte Registraturschicht)
Der Bestand E 4 enthält diejenigen Unterlagen aus der Ephoratsregistratur, die während des Erschließungsprojekts "Archiv des Evangelischen Stifts" 2007-2009 dem Stift übergeben wurden. Der Bestand umfasst 185 Verzeichnungseinheiten in 32 Schubern mit einem Umfang von 5,5 lfd. m. Zeitlich erstreckt er sich auf die Jahre zwischen 1901 und 2007 mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Neben einigen Korrespondenzakten bilden Personalakten der Musikdirektoren und der Repetenten, Akten des Stiftsumbaus 1987-1991, Bibliotheksangelegenheiten und Austauschprogramme Schwerpunkte des Bestandes.
Nachträge wurden bis 2013 eingearbeitet. Der Teilbestand wird regelmäßig ergänzt.

Behördengeschichte

Die Heranbildung einer evangelischen Pfarrerschaft war für die Konsolidierung der 1534 in Württemberg eingeführten Reformation von wesentlicher Bedeutung. Dazu gründete Herzog Ulrich 1536 ein Stipendium, das aus Mitteln der neu eingerichteten "Armenkästen" der verschiedenen Amtsbezirke Württembergs finanziert werden sollte. Zunächst fanden die Stipendiaten in der Tübinger Burse Unterkunft, bis das Stipendium 1547 in das wenige Schritte entfernte ehemalige Augustinerkloster verlegt wurde, in dem es sich noch heute befindet. Diese Verschmelzung von Stipendium und Gebäude wurde unter dem Begriff des Evangelischen Stiftes zu einer wichtigen Bildungseinrichtung, die ein tragendes Element der württembergischen Kirche und sogar der Gesellschaft wurde, von der auch wichtige geistige Impulse ausgingen.
Der rasche Ausbau des Stipendiums machte verschiedene Stiftsordnungen notwendig, die vor allem Regelungen zur Verwaltung des Stipendiums, bald aber auch zum sozialen Leben im Stift enthielten. Bereits 1536 wurde mit dem Magister Domus eine Aufsichtsperson über die Studenten installiert, dem durch die neue Ordnung von 1541 ein Lehrer (Präzeptor) an die Seite gestellt wurde.
Die "Statuten" für Stipendiaten von 1547 legten die Regeln des Zusammenlebens fest und benannten die Bedingungen für das Stipendium: Im Evangelischen Stift erhielten die Theologiestudenten ein Stipendium, das aus freiem Wohnen und Verköstigung im Stift, sowie zunächst auch aus Kleidung und Taschengeld bestand. Dies sollte den Begabten ermöglichen, Pfarrer werden zu können. Im Gegenzug verpflichteten sich die Stipendiaten, in den württembergischen Kirchen- oder Schuldienst einzutreten. Das Studium wurde an der Universität Tübingen absolviert.
Die nebenamtliche Leitung der Finanzverwaltung und die Gesamtaufsicht des Stipendienbetriebes oblagen zwei Superattendenten, die zwar keine unmittelbaren pädagogischen Funktionen hatten, sich aber dennoch über den Studienverlauf und den Lebenswandel der Stipendiaten informieren lassen sollten. Einer der beiden Superattendenten sollte Mitglied der Universität, der andere Vertreter der Tübinger Bürgerschaft oder der herzoglichen Bürokratie sein.
Die Große Kirchenordnung Herzog Christophs von 1559 verankerte das "Stipendium zu Tübingen" in der kirchenpolitischen Landschaft Württembergs. In der Kirchenordnung wurde das Schulwesen den Kirchen unterstellt. Kirchen und Schulen sollten die Untertanen zu Christen im Sinne der Reformation erziehen; das Tübinger Stipendium hatte die Aufgabe, dafür notwendiges geistliches Personal auszubilden.
Der klassische Weg ins Evangelische Stift verlief über die Lateinschulen in den Amtsstädten und - nachdem die Männerklöster durch die Klosterordnung von 1556 in Schulen umgewandelt wurden - über die evangelischen Klosterschulen. Sie hatten als Vorstufe zum Tübinger Stift ebenfalls Stipendiumscharakter. Geeignete Jungen sollten bei den jährlich stattfindenden Visitationen von den Ortsgeistlichen gemeldet werden. Zur Aufnahme ins Stift wurde den Bewerbern eine Konkursprüfung abverlangt - und auch weiterhin das verpflichtende Versprechen, in den württembergischen Kirchendienst zu treten.
Die Große Kirchenordnung bestätigte weite Teile der bis dato erlassenen Stiftsordnungen, vor allem die 1557 erfolgte "Ordination" des Stiftes. Allerdings wurden in der Leitungsstruktur Veränderungen vorgenommen. Die Ökonomieverwaltung wurde dem Prokurator übertragen, während zukünftig beide Superattendenten Theologen sein sollten. Fortan gehörte die theologische Ausbildung und die Überwachung des täglichen Lebens der Stipendiaten zu ihrem Verantwortungsbereich. Durch regelmäßige Berichte (Quartalsberichte, ab 1742 als halbjährliche Semesterberichte) wurde die Kirchenleitung laufend informiert. Zur Unterstützung des Magister Domus sollten Studenten, die bereits ihre Magisterprüfung abgelegt hatten, als Repetenten (Magistri repetentes) den Lehrstoff mit den Stiftlern vertiefen.
Das Evangelische Stift erhielt, ebenso wie jede württembergische Pfarrei, regelmäßige Aufsichtsbesuche. Nach abgehaltener Visitation erfolgten herzogliche Anweisungen über vorzunehmende Änderungen im Stipendienbetrieb. Diese Führungsstruktur ermöglichte es der Kirchenleitung, flexibel auf Entwicklungen zu reagieren, ohne die Grundordnung der Kirchenverfassung verändern zu müssen. Auf diese Weise blieb die kirchliche Ordnung Württembergs im Prinzip bis ins 18. Jahrhundert unverändert. Somit war auch die Stiftsverfassung im Grundsatz seit der Großen Kirchenordnung unverändert geblieben. Auch die Verordnung von 1704 bedeutete als Summarischer Extrakt der vorangegangenen Visitationsbemerkungen keine wirkliche Neuordnung des Stipendiums.
Diese erfolgte erst mit den Statuten von 1752, wenngleich die alte Ordnung auch jetzt nicht völlig aufgegeben wurde. Auf der Leitungsebene wurden neue Begriffe etabliert. Der Magister Domus erhielt den noch heute geführten Titel des Ephorus und das Triumvirat der Superattendenten (jetzt Inspektoren) und des Ephorus wurde unter dem Sammelbegriff Inspektorat zusammengefasst .
Neben der Veränderung in der Verwaltung des Stipendiums brachte die neue Ordnung weitere Eingriffe in die Lebensführung der Studenten. Kaffee und Tabak wurden verboten, auf die Notwendigkeit der Subordination unter das Lebensgefüge im Stift wurde extra hingewiesen. Dazu wurden zum Beispiel die Stellung der Repetenten herausgehoben und deren Stellen dadurch etabliert. Eine Reformordnung, die 1793 erlassen wurde und bei der Anklänge an den Geist der Aufklärung zu finden sind, brachte keine strukturellen Veränderungen.
Nach der Erhebung des Herzogtums Württemberg zum Königreich wurde das nunmehrige königlich-theologische Seminar der königlichen Oberstudiendirektion unterstellt und somit aus seiner bisherigen institutionellen Eingliederung in die Kirche gelöst. Im Stift selbst brachte die neue politische Lage keine strukturellen Veränderungen.
Die Statuten von 1826 - sie waren für Seminaristen und Repetenten erlassen worden - gaben die klösterliche Dimension des Zusammenlebens im Theologischen Seminar auf. Das geistliche Leben wurde nicht mehr streng reglementiert, sondern stärker der persönlichen Gestaltung überlassen. Gleichwohl wurde die Rolle der Repetenten als Erzieher und wissenschaftliche Lehrer weiter ausgebaut. Im Jahr 1829 wurden durch eine ministerielle Verfügung die finanziellen Rahmenbedingungen des Seminars unter Einsparungsgesichtspunkten verändert. Unter anderem wurde die Zahl der jährlich aufzunehmenden Seminaristen auf 30 beschränkt und das Stipendium von fünf auf vier Studienjahre herabgesetzt. Gleichzeitig wurde in Ausnahmefällen eine Barauszahlung des Stipendiums möglich.
Im Zuge der Visitation von 1837 wurden die Seminaristen detaillierten Verhaltensvorschriften unterworfen, die in ihrer Ausführlichkeit eigenständigen Statuten gleichkommen. Diese wurden 1842 durch neue Amtsvorschriften für das Inspektorat ergänzt, die anders als die aufklärerischen Zielvorgaben des Statuts von 1793, lediglich formale Abläufe festlegten. Neben dem engeren Inspektorat, das - wie seither - aus zwei Theologen und einem Mitglied der philosophischen Fakultät bestand, wurde das erweiterte Inspektorat eingeführt, in dem zusätzlich die übrigen Mitglieder der evangelisch-theologischen Fakultät saßen.
Ausdrücklich wurde 1842 dem Ephorus die selbständige Erledigung der Amtsgeschäfte zuerkannt. Damit wurde die Beziehung von Inspektoren und Ephorus, die im Laufe der Zeit eine Umkehrung erfahren hatte, auch rechtlich neu bewertet. Der Ephorus - traditionell Mitglied der philosophischen Fakultät - rangiert nun vor den Inspektoren, die in der Regel Theologen waren, wenngleich der Vorsitz im Inspektorat nach dem Senioritätsprinzip dem dienstältesten Mitglied zustand. Seit 1850 sind die Ephori Mitglieder der theologischen Fakultät. Um die Bestimmungen der Ordnung von 1742 einzuhalten, wurde seither die zweite Inspektorenstelle mit einem Philologen besetzt. Die wirtschaftliche Leitung wurde durch das ökonomische Inspektorat ausgeübt, dem neben dem engere Inspektorat auch der Ökonomieverwalter (früher Prokurator) angehörte.
Die Revolution von 1848/49 gab den Impuls zur Stiftsreform von 1853, die in ihren Grundzügen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bestand behielt. Bei der Formulierung der Bestimmungen der Hausordnung war man auf deren Soll-Charakter bedacht. Auch das Verhältnis von Repetenten zu den Seminaristen wurde weniger autoritär gestaltet. Die Repetenten sollten gleichsam "älteren Freunde" der Studenten sein. Die Einrichtung des erweiterten Inspektorats wurde wieder abgeschafft und das Mitspracherecht der Fakultät auf den Studienbetrieb und die Besetzung der Repetentenstellen beschränkt. Darüber hinaus wurde die jährliche Aufnahme eines bestimmten Kontingents an Lehramtsstudenten ermöglicht. Diese Statuten für theologische Stipendiaten und Lehramtsstudenten erfuhren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lediglich kleinere Veränderungen.
Erst die Stiftsordnung von 1911 brachte umfassende Neuerungen. Den Stipendiaten wurde ein größerer Freiraum in der Gestaltung ihres Studiums zugestanden. Gleichzeitig orientierten sich die Studienverpflichtungen der Stiftler stärker an den Gegebenheiten der akademischen Lehre und am universitären Studienprogramm. Die organisatorische Struktur des Stiftes veränderte sich durch die Abschaffung des Inspektorats. An seine Stelle trat ein aus je einem Mitglied der theologischen und philosophischen Fakultät bestehender wissenschaftlicher Beirat, der dem Ephorus nur noch beratend zur Seite gestellt wird. Die Verantwortung für die direkte Leitung hatte seither der Ephorus alleine inne.
Zudem wurden 1913 die Stipendienplätze für Lehramtsstudenten abgeschafft (nach dem Zweiten Weltkrieg aber wieder eingeführt). Damit votierte der Staat deutlich für die Zuordnung der alten Bildungseinrichtung zur Kirche. Diese Zuordnung wurde 1928 auch formaljuristisch vollzogen, als das Tübinger Stift an die Kirchenleitung übergeben wurde. Fortan wurde das Stift vom Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart geleitet und mit der Durchführung der Ersten theologischen Dienstprüfung betraut. Die theologische Fakultät erhielt erhebliche Mitspracherechte bei der Personalpolitik des Stiftes - vor allem bei der Besetzung des Ephorats - und bei der Regelung der Studienordnung. Durch die Beteiligung der Fakultät an der Verwaltung und Gestaltung des Stiftes wurde eine exklusive kirchliche Leitung verhindert.
Im gleichen Jahr wurden - erstmals vom Oberkirchenrat - Vorschriften für die Studierenden des Stiftes erlassen, die aber im Wesentlichen die bestehenden Ordnungen bestätigten. Das heißt aber auch, dass der spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bestehende Stiftsausschuss als Vertretung der Studierenden keine statuarische Erwähnung fand. Erst die Stiftsordnung von 1960 anerkennt eine Mitverantwortung der Stiftsvertretung in der Selbstverwaltung. Die Leitung der landeskirchlichen Einrichtung "Evangelisches Stift" verlagerte sich vom Oberkirchenrat in Stuttgart auf den Ephorus in Tübingen. Das alltägliche Zusammenleben sollte fernab von hoheitlichen Dekreten auf der unteren Ebene zwischen Repetenten und Studierenden geregelt werden. Zudem wurde 1962 das Amt des Studieninspektors eingeführt, der - halb Ephorus, halb Repetent - die stellvertretende Leitung des Stiftes innehat. Die Dauer des Stipendiums wurde auf neun Semester verlängert, um es an die tatsächlichen Bedürfnisse des Studiums anzupassen.
Doch bereits Ende der 1960er Jahre erfolgte eine erneute Diskussion um Struktur der Stiftsleitung, um die Rolle von Oberkirchenrat und Fakultät und um die Repräsentation der Stiftler in der Selbstverwaltung. Im Jahr 1969 wurde eine neue Stiftsordnung "probeweise" eingeführt, die die Leitung des Stiftes einem in Drittelparität besetzten Stiftsrat übertrug: Beteiligt waren zu gleichen Teilen Ephorat (Ephorus und Studieninspektor), Repetentenkollegium und Studierende. Im Erweiterten Stiftsrat saßen zudem Vertreter der Fakultät und des Oberkirchenrates. Damit wurde die operative Leitung des Stifts ins Stift selbst verlegt. Gleichzeitig wurde die noch 1960 bestätigte Autoritätsbündelung beim Ephorus aufgehoben.
Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre stellen eine der einschneidendsten Umbruchphasen der Stiftsgeschichte dar. Die letzten Reste der klösterlichen Disziplin- und Kontrolltradition wurden geschleift (u.a. in heftigen Diskussionen um das Besuchsrecht), auch im Verhältnis zwischen Studierenden und Repetentenkollegium. Das Stift politisierte und verweltlichte sich, etwa durch die Abschaffung des gemeinsamen Tischgebets und in der Auseinandersetzung mit dem 1969 gegründeten Albrecht-Bengel-Haus - ein Trend, der sich Ende des 20. Jahrhundert umzukehren begann. Mit den Verbindungen fielen die jahrzehntelang dominierenden sozialen Ordnungsstrukturen weg. Vor allem aber wurden seit 1969 - mehr als 430 nach Gründung des Stipendiums - auch Frauen als Stiftsstudierende zugelassen. Inzwischen stellen sie die überwiegende Mehrheit.
Die württembergische Landessynode forderte eine Revision der Probeordnung für die landeskirchliche Einrichtung, die mit der Stiftsordnung 1974 ihren Ausdruck fand. Das Stift, das seinen Ort weiterhin in der Landeskirche finden sollte, wurde darin vom Status einer Bildungseinrichtung in die Rolle eines "Studien- und Wohnheimes" mit dem Ziel der wissenschaftlichen Bildung gedrängt. Hausordnung, Verhaltensrichtlinien und eine feste Studienordnung waren aus der Stiftsordnung endgültig verschwunden. Der Schwerpunkt der Ordnung von 1974 liegt auf einer erneuten Reform der Leitungsstruktur. Zwar wurde der Stiftsrat in seiner 1969 eingeführten Form beibehalten, doch wurde die verwaltungsrechtliche und repräsentative Stellung des Ephorus betont. Der Ephorus, in der Regel Mitglied der theologischen Fakultät, wird durch den Studieninspektor vertreten, der in der Regel Pfarrer der württembergischen Landeskirche ist. Als zweiter Vertreter fungiert der Musikdirektor, der beratendes Mitglied des Stiftsrates ist.
Mit dem Kuratorium des Stiftes wurde ein drittes leitendes Organ geschaffen, das als Mitglieder zwei Vertreter des Oberkirchenrats, einen Landessynodalen, einen Vertreter des theologischen Fachbereichs, den Ephorus und einen Repetenten, sowie zwei Studierende aufweist.