Luthers Rock und Württembergs Talar

Von: Schöllkopf, Wolfgang

Inhaltsverzeichnis
  1. Einleitung
  2. 1: Luthers Rock
  3. 2: Preußens Rock
  4. 3: Württembergs Rock
  5. 4: Das Beffchen
  6. 4.1: Schwarz und Weiß: die Albe
  7. 4.2: Schwarz-Weiß-Sehen?
  8. 4.3: Es rockt weiter
  9. Anhang

Einleitung

Württembergischer Talar mit Überschlags-Beffchen

Privatbesitz

Im Gottesdienst tragen Pfarrer und Pfarrerinnen traditionell einen Talar, ebenso zu den kirchlichen Amtshandlungen wie Trauung oder Bestattung. Zu diesem Talar gehören das Beffchen, der kleine weiße Kragen, das Barett als Kopfbedeckung im Freien und zuweilen auch als weißer Überwurf das Chorhemd, die Albe. Was haben diese Teile der Amtstracht für eine Geschichte und Bedeutung - und: Was haben sie mit Luthers Rock gemein?

Selbstredend sind in der Tradition der evangelischen Kirche Texte wichtiger als Textilien. Dennoch sind „Äußerlichkeiten auch Äußerungen".(1) Und diese Äußerungen werden im visuellen und medialen Zeitalter aufmerksam wahrgenommen. Erfahren sie jedoch innerhalb der Kirche eine ähnliche Aufmerksamkeit, die einen sensiblen Umgang mit der Amtstracht zur Folge hätte? Dem sollen folgende historische Spuren und praktisch-theologische Anmerkungen dienen. Wozu gibt es überhaupt eine Amtstracht? Eine aktuelle Publikation zu einer Talarausstellung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gibt zusammenfassend Auskunft:

"Liturgische Kleidung gewährt denjenigen, die im Gottesdienst öffentlich die Feier der Gemeinde leiten und ihr bei der Verkündigung und der Austeilung der Sakramente gegenübertreten, Sicherheit und Schutz. Sie macht der feiernden Gemeinde gegenüber die liturgische Rolle sichtbar und bestätigt den zur Ausübung erforderlichen kirchlichen Auftrag."(2)

Der Talar hat somit die Funktion, die individuelle Person zu überkleiden und damit den liturgischen Dienst für die Gemeinde und die Einheitlichkeit des kirchlichen Amtes zu betonen. Aber die für viele Betrachtenden geradezu verwirrende evangelische Vielfalt und Provinzialität zeigt sich auch und gerade in der Geschichte der Amtstrachten der einzelnen Landeskirchen und Territorien, zuweilen gar von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf unterschiedlich geprägt. Deshalb konzentriert sich diese Darstellung auf Württemberg und seine Besonderheiten, wobei die Altwürttemberger beinahe schon klischeehaft als liturgische Kaltblütler dargestellt werden. Das mag auch damit zusammen hängen, dass sie zwar mit der Reformation die lutherische Lehre in ihren Grundsätzen übernommen und weiterentwickelt haben, nicht aber die an der Messe orientierte lutherische Liturgie, sondern bei der schlichten Form des Predigtgottesdienstes geblieben sind. Christoph von Kolb, Prälat und letzter württembergischer Hofprediger, summiert es in seinem Standardwerk zum württembergischen Gottesdienst so:

"Der Gottesdienst der evangelischen Kirche Württembergs unterscheidet sich von dem anderer lutherischer und selbst reformierter Kirchen durch seine Armut an liturgischen Bestandteilen. Das hat jedoch, soweit mir bekannt, bis ins 19. Jahrhundert weder den auswärtigen Kirchen noch der eigenen einen Anstoß bereitet, und selbst jetzt noch wird, wenigstens weitaus in der Mehrzahl der Gemeinden dies nicht als Mangel empfunden. Doch wohl ein Beweis dafür, dass diese Einfachheit der Eigenart des schwäbischen Stammes entspricht. Gleichwohl: die Geschichte des württembergischen Gottesdienstes bietet einen größeren Reichtum dar, als die liturgische Armut vermuten ließe.(3)

Das muss nun aber nicht heißen, dass die wenigen liturgischen Besonderheiten Württembergs im Strudel von ästhetischen Gesichtspunkten oder individuellen Vorlieben vollends untergehen. Deshalb sei die historische Entwicklung hier nachgezeichnet.

1: Luthers Rock

Martin Luther in der Schaube

St. Andreas-Kirche in Erfurt

Für den Reformator war bekanntlich die Verkündigung des Evangeliums wichtiger als die Kleiderordnung.(4) Luther selbst trug den bürgerlichen Rock, die sogenannte Schaube, auch auf der Kanzel. Dieser weite schwarze Übermantel mit Kragen reichte bis über die Knie. (Deshalb trugen die Altvorderen auch ihren Talar in dieser Länge, bzw. Kürze.) Daraus entwickelte sich eine schmäler geschnittene Variante, die bis zum namengebenden Knöchel (lat.: talus) reichte und zum Talar der Professoren wurde. Die evangelische Amtstracht war also eigentlich kein liturgisches Kleid, sondern ein Lehrgewand und wies die Pfarrer als „Lehrer" des Evangeliums aus. Zur Feier der Sakramente jedoch scheute sich Luther nicht, die altkirchlichen Messgewänder zu tragen, wobei er im Sinne seines neuen Amtsverständnisses nicht mehr die Stola anlegte, die den Stand des geweihten Priesters auszeichnete, wohl aber die festliche Kasel, den Überwurf über das Untergewand. Der württembergische Reformator Johannes Brenz war dagegen für eine deutliche Unterscheidung:

"Der klaidung und ornatt halben (…) ist wenig daran gelegen, welcherley weiss dasselb geschehe. (…) So bringt es kein nachteill, wan schon die kleidung der weysen Chorröck wie biss hieher gebraucht füro hin bleiben; nit das ain heiligkeit in das kleid zu setzen sey, Sonder das underschidlich ordnung zur einigkeit gehalten wurd. Aber dweill der babst sich gantz in das messgewand geflickt hatt und sonst auch für sich selbs ein ungeschickt kleid erscheint, So wer es gut, dass die kleidung des messgewands underblibe"(5)

Während die Reichsstädte und reformierten Gebiete als Zeichen der Abgrenzung schon früh auf die traditionellen Gewänder der Messe verzichteten, behielten sie die meisten lutherischen Kirchen noch bis ins 18. Jahrhundert bei und in Skandinavien sind sie gar bis heute in Gebrauch.

2: Preußens Rock

Um der verwirrenden textilen Vielfalt und zugleich der grundsätzlichen liturgischen Kritik der Aufklärung und der individuellen Amtsauffassung des Pietismus eine verbindende Einheit entgegenzusetzen, verfügte das erstarkende Preußen nicht nur eine neue Liturgie im Geist der Union zwischen Lutheranern und Reformierten, sondern auch einen Talar per Kabinettsordre durch König Friedrich Wilhelm III. vom 20. März 1811. In der zugleich antikatholischen Stimmung wurde allen nichtkatholischen Geistlichen der gleiche Rock verordnet, was auch dazu führte, dass der jüdische Kantor als Leiter des Synagogengottesdienstes denselben Talar trug und bis heute noch trägt! Dennoch bildete die trotz preußischer Dominanz erhalten gebliebene Vielfalt der deutschen Landeskirchen eigene Eigenarten der Talarformen unter Preußens Rock aus.

3: Württembergs Rock

Das Barett gehört zu den Amtshandlungen im Freien

Amtsblatt der evangelischen Kirche Württemberg, 1888

Schon am 29. Oktober 1811 erließ König Friedrich I. von Württemberg folgende Verordnung:

Seine Königliche Majestät haben sich bewogen gefunden, in Absicht der Kleidung der evangelischen Geistlichkeit im Königreiche Folgendes zu verordnen: Sämmtliche Geistliche dieser Confession ohne Unterschied, nebst den Candidaten, sollen bei kirchlichen Verrichtungen und bei feierlichen Gelegenheiten den bisher eingeführten Kirchenrok, jedoch mit einem stehenden Kragen, und auf der Brust, statt den Haften (= Haken), mit Knöpfen zu tragen. Nur den Feldpredigern ist, wenn sie mit den Truppen ins Feld ziehen, das Tragen kurzer Mäntel gestattet. Der Überschlag, welcher beibehalten wird, soll etwas länger sein, als bisher. Die Prälaten, sowie der Hofkaplan, tragen den Kirchenrok von Seide; die übrigen Geistlichen von Wolle. Zu dieser Kleidung wird ein Barret, und zwar von den Prälaten und dem Hofkaplan von Sammt, von den übrigen Geistlichen aber von Filz getragen. Die Haare dürfen nicht gekräuselt sein, sie werden glatt getragen, am Hinterhaupte rund abgeschnitten, und reichen bis an das Ende des auf stehenden Kragens; Perüken sind zu tragen gestattet. (…) Diese neue vorgeschriebene Kleidung, deren kostenunbemittelten Predigern aus dem sogenannten Heiligen-Fonds zu ersezen sind, soll am eintretenden Neujahrstag durchgängig eingeführt sein. Sämmtlichen evangelischen Geistlichen im Königreiche wird diese allerhöchste Verordnung zur genauesten Nachachtung hiemit bekannt gemacht, und haben insbesondere die Generalsuperintendenten und Dekane nicht nur selbst die hier gegebene Vorschrift zu befolgen, sondern auch über der pünktlichen Beobachtung derselben von Seiten der ihnen untergeordneten Geistlichen und Candidaten mit allem Ernste zu wachen, auch von jedem Contraventionsfall Bericht an das königliche Ober-Konsistorium zu erstatten.(6) 

Aus diesem Erlass geht zugleich indirekt hervor, was bis dahin die übliche Amtstracht der Geistlichen in Württemberg war: Die im 17. und 18. Jahrhundert weiterentwickelte Schaube mit Kragen, darüber das weiße Chorhemd, samt einem Barett. Das Konfessionsbild in der Kirche von Ulm-Jungingen zeigt dies bei allen Amtshandlungen.(7) Diese Kleidung aber war noch immer mehr eine Amtstracht, die die Pfarrer (ohne Chorhemd) auch außerhalb des Gottesdienstes trugen, denn ein liturgisches Gewand. 

Die weitere Entwicklung für Württemberg dokumentiert das Amtsblatt von 1888 in einer nun nicht mehr vom König, sondern vom Konsistorium erlassenen Ordnung:

In Bezug auf die Amtskleidung der evangelischen Geistlichen wird angeordnet:

1) Das Barett hat aus einem 4 1/2 Zentimeter breiten zylindrischen untern Teil und aus einem fünfeckigen, 6 Zentimeter weit überstehenden, leicht wattierten, nicht gesteiften Oberteil mit einem 4 Zentimeter breiten Knopfe in seiner Mitte, zu bestehen. Der Stoff des Baretts ist schwarzes Wollenzeug. Der untere Teil des Baretts erhält Einfassung oben und unten mit einem schwarzseidenen Bändchen. Das Barett der Dekane hat Unterteil und Knopf aus schwarzem Sammet. Das Barett der Prälaten, Hofgeistlichen und geistlichen Mitglieder des Konsistoriums besteht ganz aus schwarzem Sammet. (…) Musterbarette sind in der Kanzlei des Konsistoriums hinterlegt.

2) Der bisher eingeführte Kirchenrock, den die Prälaten, Hofgeistlichen und die geistlichen Mitglieder des Konsistoriums aus schwarzem Seiden-, die übrigen Geistlichen aus wollen Zeug zu tragen haben, ist mit liegendem Kragen und offenen Ärmeln in einer Länge bis an die Knöchel zu fertigen.(8)

Konfessionsbild Ulm-Jungingen, 1711

Foto: Dieter Peters

Damit ist die heute noch gültige Grundform der württembergischen Variante des preußischen Talars erreicht (einmal abgesehen von Samt und Seide): Der württembergische Talar hat einen Umlegekragen. Seine Fältelung wird in einer Leiste röllchenartig gefasst. (Die Falten sind somit nicht glatt gezogen, wie etwa die Variante Hannovers.) Als einziger unter den landeskirchlichen Formen sind bei ihm die Knöpfe im sog. Sattel, d.h. dem Brust- und Schulterstück, sichtbar und nicht verdeckt.(9)

Aus diesem Erlass geht zugleich indirekt hervor, was bis dahin die übliche Amtstracht der Geistlichen in Württemberg war: Die im 17. und 18. Jahrhundert weiterentwickelte Schaube mit Kragen, darüber das weiße Chorhemd, samt einem Barett. Das Konfessionsbild in der Kirche von Ulm-Jungingen zeigt dies bei allen Amtshandlungen.(10) Diese Kleidung aber war noch immer mehr eine Amtstracht, die die Pfarrer (ohne Chorhemd) auch außerhalb des Gottesdienstes trugen, denn ein liturgisches Gewand.

4: Das Beffchen

Das Beffchen (lat.: biffa, der Kragen) entstand aus dem großen weißen Kragen über der Schaube, ganz rundum laufend und vorne geschlossen (auch spanischer oder niederländischer Kragen genannt, wie man ihn etwa aus den Gemälden von Franz Hals kennt). Die praktische Funktion bestand darin, den Puder der Perücke vom schwarzen Kragen abzuhalten! Dieser Kragen in vielen Varianten war eine allgemeine höfische und auch bürgerliche Sitte. Die gleiche Funktion hatte die Halskrause, die als Talarkragen heute noch in den Städten der Hanse („Mühlstein") oder in der kleineren Fassung als Stehkragen zum Beispiel in Augsburg in Gebrauch ist. Als der praktische Nutzen des Kragens nicht mehr im Mittelpunkt stand, wurde er immer kleiner. Das Beffchen zeichnete schon im 18. Jahrhundert den höheren Hofbeamten aus. (Es gehört deshalb heute noch zu manchen Richterroben.) Für den evangelischen Talar wurde das Beffchen in der preußischen Reform auf eine Größe und drei Grundformen vereinheitlicht, die die innerkonfessionelle Situation des Protestantismus im 19. Jahrhundert und bis heute kennzeichnet: Das offene Beffchen mit seinen beiden Streifen steht für die Lutheraner, das halb geschlossene für die Unierten und das ganz geschlossene für die Reformierten. (13)(Abb., evtl. mit Küstenmacher-Karikatur) Der Kieler Pastor und führende Neulutheraner Klaus Harms, der zum Reformationsjubiläum 1817 eigene 95 Thesen veröffentlichte, fügte in seiner Pastoraltheologie dieser Kennzeichnung der evangelischen Konfessionen eine kämpferische Deutung hinzu: Nach ihr stehen die beiden Streifen des Beffchens für die theologischen Grundkategorien Gesetz und Evangelium. Die Lutheraner vermögen, diese ganz zu unterscheiden, das lutherische Beffchen ist deshalb ganz gespalten; die Unierten bringen diese Differenz nur zur Hälfte auf (Beffchen deshalb halb geschlossen) und die Reformierten trennen beide Kategorien gar nicht, weshalb ihr Beffchen ganz zusammengenäht ist! Zuweilen ging man unter steilen Neulutheranern sogar so weit, den Winkel der Spreizung des Beffchens vorzuschreiben!

Zu Württemberg gehörte auch eine besondere Befestigungstechnik dieses in der Praxis oft widerspenstigen Beffchens, weshalb es hier häufig „Überschlag" genannt wird: Es wird in die Innenseite des Talarkragens eingeknöpft und vorne übergeschlagen. Inzwischen haben sich allerdings neue Halterungen entwickelt, die etwas einfacher zu handhaben sind, wie das Steckbeffchen. Dieses erfüllt immer noch den Tatbestand des Überschlags, wogegen andere Formen, wie die Einknöpf- oder Bindeformen unter dem Talarkragen kein klassischer Überschlag mehr sind.

Nun sei die weitere Entwicklung skizziert, die immer noch auf diesen Grundsätzen von 1888 fußt, besser gesagt, sich darin kleidet:

Im Jahr 1930 nahm ein Erlass des Oberkirchenrats zur Amtskleidung der Pfarrer Stellung und wehrte ausdrücklich einer Anpassung an die politischen und militärischen Sitten (und Unsitten) jener Jahre:

1. Das Barett ist ein Teil des Amtsornats für Amtshandlungen im Freien und wird während einer Beerdigung nicht abgenommen, auch nicht beim Gebet, Vater Unser und bei der Begräbnisformel. Es ist schon eine ästhetische Unmöglichkeit, das Kirchenbuch und das Barett zugleich in der Hand zu haben.

2. Das Grüßen im Amtskleid geschieht durch Verneigen ohne Abnehmen des Baretts. Auf jeden Fall ist die militärische Grußform zu vermeiden.

3. Bei gemeinsamem Auftreten einer Anzahl von Geistlichen im Ornat ergibt sich ein unerfreulicher und unerwünschte Bemerkungen herausfordernder Anblick, wenn die Barette in verschiedene Richtungen schief aufgezogen sind.

Ebenso fällt bei solchen Gelegenheiten die Verschiedenheit im Anlegen der Überschläge auf; auch hier sollte auf Gleichförmigkeit geachtet werden; die Überschläge werden als solche über dem Kragen des Talars angelegt.(14)

Von einer anderen Zeitsituation sprechen die Regelungen aus den Jahren 1950 und 1951: Durch „den starken Zustrom von Pfarrern, die früher in anderen Landeskirchen tätig waren", dokumentieren sie das Bedürfnis, die in Württemberg vorgeschriebene Amtskleidung der Geistlichen auf Grund des erprobten Herkommens noch einmal festzulegen. (Dabei ging es nicht zuletzt darum, den importierten liturgische Sitten, die bis dahin als unwürttembergisch galten, zu wehren. Dazu gehörte die sog. Elevation der Elemente bei der Abendmahlsfeier, d.i. das In die Höhe Heben von Brot und Wein, das ursprünglich den Moment der Wandlung signalisierte. Dies war hier nur im Fränkischen üblich, mit dem deutlichen Hinweis, diese Sitte bei Pfarrerwechseln nicht ins Altwürttembergische zu transferieren! Andere Importe waren etwa das Kreuzzeichen, die Altarkerzen, der Ringwechsel bei der Trauung oder die Segensgeste.)(15)

Detailgenaue Schnittmuster für Talar und Beffchen werten nicht nur das ansonsten buchstabenreiche Amtsblatt von 1951 optisch auf, sondern haben die Vereinheitlichung zum Ziel. Erstmals wird das Einsteckbeffchen zugestanden, allerdings mit dem deutlichen Hinweis, auch dieses immer über dem Kragen zu tragen.(16) Der den ganzen Gottesdienst regelnde Erlass von 1950 führt dann endgültig den Altardienst ein, da der württembergische Predigtgottesdienst bis dahin noch in vielen Gemeinden ausschließlich von der Kanzel aus geleitet wurde und damit auch die Wendung des Liturgen zum Altar beim Stillen Gebet, der bedeutsamsten liturgischen Erfindung Württembergs! Sie dürfte jedoch keinesfalls „erfolgen in der Absicht, dadurch dem Altar eine ihm selbst eignende Heiligkeit zuzuschreiben"!(17)

Und wieder geht es um Knopf und Kragen, denn die unendliche Diskussion um die Überschläge wird sehr grundsätzlich noch einmal aufgenommen, gar mit einer geistlichen Note und einer deutlichen Anweisung versehen:

Die Überschläge werden (sicher aus Gründen leichterer Handhabung) vielfach nicht sinngemäß getragen. Daraus ergibt sich bei gemeinsamem Auftreten von Geistlichen im Amtskleid eine unmittelbar in die Augen fallende Verschiedenheit, die zu berechtigter Kritik von Seiten der Teilnehmer an den betreffenden gottesdienstlichen Handlungen Anlass gibt. Auch wenn es sich nur um eine Äußerlichkeit handelt, so wird dies jedoch von den Gemeindegliedern mit Recht als Zeugnis des vorhandenen oder fehlenden Willens zur Beachtung einer gemeinsamen Ordnung gewertet. Damit tritt die Frage unter die Regel Jesu: „dass wir sie nicht ärgern". Die Amtsbrüder werden darum gebeten, den falschen Gebrauch der Überschläge ein für alle Mal aufzugeben und sie durchgehend nach der Vorschrift zu tragen, das heißt also nicht unter sondern ü b e r dem Kragen des Talars.(18)

Die Schnittmuster und Herstellungshinweise der Verordnung von 1951 lassen keinen Gestaltungsspielraum hinsichtlich Form und Größe – und das auf den Zentimeter genau: So wird festgelegt, dass die Gesamtlänge des Talars so auszugehen hat, dass er „12 cm vom Boden entfernt" endet, wobei sich das ja jeweils nach der orthopädischen Konstitution des Geistlichen schnell einmal ändern kann! Für das Beffchen wird festgelegt, dass die beiden Streifen je 5, 5 cm breit und außen 15, 5 cm lang sein sollen. (Abb.) Dagegen hat man später eher den Eindruck, als stünden Beffchengröße und Pfarrgehaltsstufe in irgendeinem Zusammenhang zwischen Gestalt und Gehalt!

Frauen-Beffchen

Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung

Als endlich 1968 auch Frauen zum vollgültigen Pfarrdienst zugelassen wurden, den viele dazu Ausgebildete während der Kriegs- und Mangeljahre längst treu versehen hatten, wurde ein Frauentalar einführt, der am Anfang nicht das typische Beffchen, sondern einen eigenen weißen Umlegekragen vorsah (Abb.) und so wieder das Missverständnis einer Zwei(t)klassigkeit mit sich brachte und deshalb bald durch die Praxis korrigiert wurde. (Der Frauenkragen aus der Paramentenwerkstatt war dazu aus grobem Leinenstoff, da die Pfarrerin doch normalerweise keine Pfarrfrau zur Pflege hatte!) Das vorgeschriebene Barett, das mehr einer Baskenmütze, als einer Amtstracht glich, läutete, zusammen mit dem allgemeinen Abgang (oder den Neukreationen!) bürgerlicher Kopfbedeckungen den Niedergang seines Gebrauchs ein, obwohl noch immer gilt: „Das Barett wird bei Amtshandlungen getragen, die im Freien stattfinden."(11)

4.1: Schwarz und Weiß: die Albe

Johannes Brenz in Schaube und Chorrock

Kolorierter Kupferstich, um 1568

Eine altwürttembergische Besonderheit der Amtstracht ist das Chorhemd oder die Albe. Der weiße Überwurf, die Albe (lat.: album, weiß) ist in Württemberg ein Übrigbleibsel aus dem sog. „Interim" von 1548. Da viele Pfarrer sich damals weigerten, die alten Messgewänder wieder zu tragen, ordnete Kaiser Karl V. an, dass über den schwarzen Kirchenrock zu den Sakramenten im Gottesdienst die Albe zu tragen ist. Und obwohl sie somit ein Relikt katholischer Reaktion war, übernahm sie der Reformator Johannes Brenz in seiner Hochschätzung des Sakraments als „Wortzeichen".(12) Und die älteste zeitgenössische Darstellung Brenz‘ zeigt ihn somit auch in der Albe. (13) Wie der Untertitel dieses Bildes ausweist, gab es nach dem Interim im lutherischen Lager Streit um den Chorrock, der als katholisch von den einen verworfen, von den anderen geduldet oder gar geschätzt wurde.(14) Wichtig zum Verständnis dieses zusätzlichen Gewandes zum Talar ist, dass der schwarze Kirchenrock immer noch das Amtskleid des Geistlichen war, das er auch außerhalb des Gottesdienstes zu festlichen Anlässen trug, das Chorhemd aber ein ausschließlich gottesdienstliches Signum darstellte. Seine Form ist typisch württembergisch: Es ist kein Hemd mit Ärmeln, sondern ein Überwurf mit vier weißen Stoffbahnen. Seine Anschaffung überließ eine Fußnote der Verordnung von 1811 bereits den Amtsträgern.(15) Seine Reinigung war Aufgabe der Frauen der Schulmeister! Als diese diffizilen Arbeit einmal an die Frauen der Pfarrer übertragen werden sollte, kam es zu Konflikten: „Die Schulmeister (!) würden das Waschen doch ungern fahren lassen." (Dies wegen der damit verbundenen Gebühr!) „Manche Pfarrfrauen waren willig, andere nicht, es fehle auch häufig am Holz in den Pfarrhäusern (…) Bloß die Pfarrerin (!) von Kochersteinsfeld erklärte, sie sei bereit dazu und wünsche, ihrem Mann noch viele Jahre waschen zu dürfen, nach dessen dereinstigem Absterben würde sie ja doch als Witwe wieder den Genuß davon haben!"(16) Anscheinend brachte der sachgemäße Umgang mit der Albe gar einen Blick in die Zukunft der zu erwartenden Lebenszeit mit sich!

Deshalb wird per Verordnung des Oberkirchenrats noch 1950 festgelegt:

"Wo der Gebrauch eines Chorhemds hergebrachte Sitte ist, ist es bei Taufe (evtl. auch Konfirmation), Abendmahl und Trauung von allen an diesen Amtshandlungen beteiligten Geistlichen zu tragen. Einer Wiedereinführung dieser Sitte in den Fällen, wo sie in den letzten Jahrzehnten abgetan worden ist, steht nichts im Wege.(17)

Festzuhalten ist nicht nur der zunehmende Abgang dieser württembergischen Sitte, sondern auch seine zeittypische Ausweitung: War das Chorhemd ursprünglich streng nur Signet der zwei evangelischen Sakramente, Heilige Taufe und Heiliges Abendmahl, wurde es später zur Konfirmation auch getragen, was der Bezug auf die Taufe vielleicht noch hergibt. Die Ausweitung auf die Trauung jedoch, die ja schon seit Luther kein Sakrament mehr, sondern ein Segnungsgottesdienst ist, weist schon eher auf einen neuen Diskussionskreis in der immer in Bewegung befindlichen Geschichte des württembergischen Kirchenrocks hin.

4.2: Schwarz-Weiß-Sehen?

Stammt die traditionelle Amtstracht eines evangelischen Pfarrers und nun auch einer Pfarrerin nicht noch aus der Zeit des Schwarz-Weiß-Fernsehens: vom Rock über die Liedtafeln bis zu den Orgeltasten, alles (nur) schwarz-weiß? Im Zuge neuer ästhetischer Überlegungen und ökumenischer Begegnungen wurde innerhalb der evangelischen Kirchen die Einführung der hellen Mantelalbe mit oder ohne Stola diskutiert. Dazu kommt, dass die Farbe Schwarz zunehmend ihre festliche Note verloren zu haben schien und zur Trauerfarbe mutiert war, allerdings inzwischen durchaus wieder modisch chic geworden ist. Die beiden Exponenten dieser anhaltenden Diskussion aus dem Fach der Praktischen Theologie, die doch die Aufgabe hat, solche textilen Entwicklungen mit hilfreichen orientierenden Texten zu begleiten, waren Dietrich Stollberg und Friedemann Merkel. Plädierte der eine, Stollberg, im Zuge zunehmender „Sinnlichkeit" für das Ende der Schwarz-Weiß-Zeit und die Umstellung auf die österliche Farbe der hellen Mantelalbe samt Stola(18), hielt Merkel im Sinne einer historisch gewachsenen Wiedererkennbarkeit am klassischen schwarzen Talar fest, der übrigens noch immer vor Missbrauch gesetzlich geschützt ist.(19) In Folge dieser Debatte entstanden bedenkenswerte und bedenkliche Argumentationen:

"Während der schwarze Talar die Körperbewegungen eher zurücktreten lässt und in erster Linie Gesicht und Hände seiner Träger hervorhebt und damit seine spezifische Funktion vor allem in der Predigt erfüllt, unterstützen hellere liturgische Gewänder das Bewegungserleben und gewähren der Körperlichkeit der Vollzüge stärkere Aufmerksamkeit. Die vom schwarzen Talar unterstützte Feierlichkeit der gottesdienstlichen Atmosphäre tendiert damit hin zu Konzentration und Ruhe, während die hellere liturgische Kleidung stärker eine bewegte Freudigkeit und Fröhlichkeit im Gottesdienst unterstützt und die Albe mit Stola eine leuchtende Bewegungsspur im Kirchenraum hinterlässt.(20)

Vor den leuchtenden Bewegungsspuren aber stehen noch einmal die klare historische Spur und die damit einhergehende lebendige Tradition der Landeskirche, die eindeutige Wiedererkennbarkeit und hilfreiche Verbindlichkeit. Haben diese Gesichtspunkte in zunehmenden individuellen und an ästhetischen Sichtweisen orientierten Entwicklungen überhaupt noch eine Chance oder wie kann beides zusammengehalten werden? Oder, anders gesagt:

"Das textile Erscheinungsbild der evangelischen Kirchen wird zunehmend von einem Ineinander unterschiedlichster und nicht homogener Kleiderkulturen bestimmt. (…) Die gottesdienstliche Kleidung bedarf der sorgfältigen gottesdiensttheologischen Reflexion und darf nicht nur persönliche Schmuck und Ausdrucksbedürfnisse ihrer Trägerinnen und Träger bedienen und Ausdruck eines individuellen persönlichen Gestaltungswillens sein.(21)

Zunächst aber sei hier die Geschichte zu Ende erzählt, obwohl sie eben kein Ende hat, sondern sich mit der Gegenwart und ihren vielfältigen Sichtweisen verbindet:

Mit einem Erlass des Oberkirchenrats wurde 1993, übrigens mit einer gehaltvollen Zusammenfassung über Werden und Bedeutung der evangelischen Amtstracht, die Mantelalbe und Stola als Alternative zugelassen.(22) Als Voraussetzung galt eine gründliche Vorbereitung des Kirchengemeinderats und der Gemeinde. 2002 dann wird diese Bestimmung ausgeweitet auf andere kirchliche Berufsgruppen im liturgischen Dienst, wie Diakoninnen und Diakone, Prädikantinnen und Prädikanten. Gleichzeitig wird die Mantelalbe mit Stola der Pfarrerinnen und Pfarrer nicht nur für besondere Festgottesdienste, sondern für das ganze Kirchenjahr freigegeben.(23) Ungewöhnlich dabei ist, dass die Stola den Theologinnen und Theologen vorbehalten bleibt, kann sie doch von ihrer eindeutigen Geschichte her im evangelischem Amtsverständnis niemals als Zeichen des geweihten Standes, sondern nur als Parament am Menschen (wie an der Kanzel oder am Altar), das die Zeit im Kirchenjahr farbig signalisiert, getragen werden.

4.3: Es rockt weiter

Im medialen Zeitalter ist das Sehen und die Hauptsinneswahrnehmung geworden – und nicht das Hören, trotz Römer 10, 17! Dies stellt neue Herausforderungen an die Erkennbarkeit evangelischer Geistlicher in der Öffentlichkeit. Dabei geht es gar nicht um den Aufsehen erregenden orangefarbenen Talar, den ein Vikar einst zu seiner Prüfungspredigt trug!(24) Denn nicht nur im spektakulären (!) Einzelfall, sondern ganz allgemein ist die klerikale Kleiderkammer geöffnet: Höhere Geistliche etwa tragen zu festlichen Anlässen den Lutherrock, der Luther unbekannt war und mit Luthers Rock nichts zu tun hat. Er ist vielmehr eine klerikale Weiterentwicklung des Gehrocks, der früher den Amtsträger kleidete. Das Collar (lat.: Halsband) ist eine ökumenische Mode geworden, bei uns eigentlich als Vereinfachung des einmal üblichen Stehkragens; seine Farben variieren, wobei die schwarz-weiße Form eigentlich das Erkennungszeichen des römisch-katholischen Priesters ist. Und beim Talar selbst wächst die Vielfalt, seit Württemberg selbst keine eigene Talar- und Paramenten- Kunstwerkstätte mehr hat und deshalb die Röcke aus den bundesweit orientierten Kirchenbedarfskatalogen bestellt werden und der Anblick solcher Auslagen nicht gekannte modische Wünsche zu wecken vermag. So tragen, nur zum Beispiel, Vikarinnen und Vikare gegenwärtig zunehmend eine Talarvariante mit Stehkragen (historisch hier gesehen, zwar pro 1811, aber contra 1888 und folgende!), die nun einmal Erkennungszeichen der Landeskirchen von Hannover, Bayern und der Pfalz sind oder waren. Dass dies in Absprache mit dem ausbildenden Pfarrseminar der württembergischen Landeskirche geschieht, wirft die Frage auf, wer die Richtlinien im Supermarkt der Möglichkeiten noch zu bestimmen vermag. 

In allen Entwicklungen ist der Gegensatz festzuhalten, dass die Funktion liturgischer Kleidung noch immer die Zurücknahme der Person gegenüber ihrer stellvertretenden Aufgabe für Kirche und Gemeinde signalisieren soll, alle individuellen Varianten und Moden aber eben das Persönliche wieder stark betonen. Die Orientierung am geschichtlichen Gewordensein jedoch könnte helfen, Irrwege und Hauptwege zu unterscheiden in der Entwicklung der Amtstracht und heutige Anforderungen mit der Tradition und ihren Funktionen von Wiedererkennbarkeit und Verbundenheit unter einen Rock zu bringen.

Andrea Kittel, Wolfgang Schöllkopf (Hg.): Luther kommt nach Württemberg. Berührungen, Wirkungen und Bilder, Stuttgart 2017 (Nr. 22),

Aktualisiert am: 26.03.2019