Jakob Otter und die Reformation in Esslingen

Von: Schröder, Tilman Matthias

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Der Weg nach Esslingen
  2. 2: Die Anfänge der Reformation in Esslingen
  3. Ein schlechter Beginn Der Predigerstreit von 1533/34
  4. Otters zweiter Beginn
  5. Anhang

"Otther ist ein ungewöhnliches Männlein; sein männlicher Sinn und die seltene Würde in Lebensführung und Lehre wird von allen verehrt."(1) Mit diesen Worten beschrieb Ambrosius Blarer respektvoll seinen Nachfolger in Esslingen, Jakob Otter ca.1485-1547 Otters offensichtlich wenig beeindruckende Gestalt passt dabei zunächst zu seiner Einordnung als einer der sogenannten "Kleinen Reformatoren", die im Schatten der "Großen", wie Luther, Melanchthon, Zwingli, Blarer oder Brenz, in einem räumlich sehr begrenzten Rahmen ihr Werk vollbrachten. Dass eine solche Arbeit mitunter nicht weniger kräftezehrend war, unterstreicht Otters fünfzehnjähriges Wirken in Esslingen, der Reichsstadt am Neckar.

1: Der Weg nach Esslingen

Otters Biographie spiegelt in ihrer durch häufige Anfeindungen bedingte Ruhelosigkeit beispielhaft das Leben eines protestantischen Geistlichen im 16. Jahrhundert wieder.(2) Um 1485 wurde er im elsässischen Lauterburg geboren, das zum Gebiet des Hochstiftes Speyer gehörte. Die Familie selber stammte aus Udenheim (Philippsburg). Otters Vater Hans war Schneider und Ratsherr in Lauterburg. Von der Mutter Brigitta ist leider nur ihr Name überkommen. Sie starb, als ihr Sohn gerade 6 Monate alt war, aber auch der Vater überlebte sie nur um zweieinhalb Jahre. Der zurückbleibenden drei Kinder des Ehepaares nahmen sich nun die Brüder ihres Vaters an. Jakob zog zu seinem Onkel Michael Otter nach Speyer, einem Buchhändler, der den Jungen bereits früh mit der Welt der Bücher und der Gelehrsamkeit vertraut machte. Genauso prägte den jungen Otter der humanistische Geist, der zu dieser Zeit in Speyer eine Blüte erlebte. Als Domprediger wirkte einer der bedeutendsten Vertreter des süddeutschen Humanismus, Jakob Wimpfeling 1450-1528 Dazu kamen die Humanisten Jodokus Galtz (Gallus) und Johann Wacker (Vigilius), die Otter während seiner Schulzeit kennenlernte. 1505 begann er sein Studium in Heidelberg, erlangte zwei Jahre später den akademischen Grad eines Baccalaureus und empfing die Priesterweihe. Im gleichen Jahr 1507 zog Otter nach Strassburg, wo er Sekretär des großen Volks und Sittenpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg 1445-1510 wurde. Als Geiler 1510 starb, übernahm Otter die Herausgabe von Werken seines Meisters. Viel entscheidender aber war, dass Otter durch seine humanistischen Lehrer in Speyer und nun auch durch Geiler mit der weit verbreiteten Kritik an Missständen innerhalb der Kirche und vor allem auch im Klerus vertraut worden war. Teilweise betraf diese Kritik sogar ihn selber. Obwohl zum Priester geweiht, hatte Otter ja keine eigentliche theologische Ausbildung durchlaufen, die ihn zu diesem Amt besonders qualifiziert hätte. Dies suchte er nun nachzuholen und begann in Freiburg mit dem Theologiestudium, das er 1517 erfolgreich als Licentiat der Theologie abschloss. Ein Jahr später wurde Otter die Pfarrei Wolfenweiler bei Freiburg übertragen, doch wechselte er bereits 1522 auf die größere Pfarrstelle von Kenzingen im Breisgau.

Zu dieser Zeit hatte sich Otter offensichtlich bereits für die Sache Martin Luthers 1483-1546 entschieden, denn er hielt die Messe in deutscher Sprache und teilte das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus. Damit handelte er sich freilich von Seiten der Gegner der Reformation den Vorwurf der Ketzerei und des Aufruhrs ein, aber die Gemeinde in Kenzingen hielt zu ihm. Im Juni 1524 spitzte sich die Lage zu, als die vorderösterreichische Regierung offen mit Gewalt gegen Otter und Kenzingen drohte. Nun musste der Kenzinger Rat Otter entlassen, aber noch einmal suchten die Kenzinger Otter zu schützen. Fast 200 Bürger gaben ihm Geleit, um ihn unbeschadet in badisches Gebiet zu bringen. Kenzingen selber wurde mittlerweile durch Truppen aus Freiburg besetzt und den mit Otter ausgezogenen Bürgern die Rückkehr verweigert. Denen blieb nun nichts anderes übrig, als zusammen mit Otter nach Straßburg ins Exil zu gehen und das Weitere abzuwarten. Währenddessen setzten die Freiburger in Kenzingen die Unterdrückung der Reformation mit brutalen Repressalien durch. Der Bürgermeister wurde verhaftet, der Stadtschreiber am 7. Juli 1524 enthauptet.

Otter ging es zunächst besser. Ritter Hans Landschad, ein eifriger Lutheranhänger, übertrug ihm noch 1524 die Pfarrstelle in Neckarsteinach bei Heidelberg. Auch hier gelang es Otter rasch, die Gemeinde für die lutherische Sache zu gewinnen. Mit Landschad selber und seiner Familie verband Otter bald ein sehr herzliches Einverständnis. Otter blieb jedoch der kaiserlichen Regierung ein Dorn im Auge. Man übte politischen Druck auf den pfälzischen Kurfürsten Ludwig aus, bis dieser im Juni 1526 von Landschad die Entlassung Otters und die Rücknahme aller gottesdienstlichen Reformen verlangte. Durch ein Gutachten von Johannes Brenz gestärkt, blieb Landschad zunächst standhaft. Dann aber zitierte ihn der Kurfürst vor das Hofgericht nach Heidelberg und drohte mit Gewalt. So musste Otter 1529 zum zweiten Mal fliehen und sich nach Straßburg in Sicherheit bringen.

Dort war Otter nun kein Unbekannter mehr. Mit dem Straßburger Reformator Martin Bucer 1491-1551 hatte Otter bereits 1525 ausführlich in Neckarsteinach über die Theologie Ulrich Zwinglis 1484-1531 diskutiert und sich dabei selber der Oberdeutschen Richtung angenähert, wie sie die Straßburger Theologen vertraten. Diese empfahlen Otter deshalb dem Züricher Reformator Zwingli als Prediger für Solothurn. Hier scheiterte Otter jedoch rasch am Widerstand der Bevölkerung und nahm deshalb nach kurzem Aufenthalt in Bern im August 1529 einen Ruf nach Aarau an. In dieser Zeit heiratete Otter, aber merkwürdigerweise wissen wir über seine Frau und seine Familie überhaupt nichts.

Während der Predigerzeit in Aarau wirkte Otter auch auf überregionaler Ebene, beispielsweise bei den Friedensgesprächen zwischen Zürich und den Urkantonen. Durch seine vermittelnde Art erwarb er sich dabei den Ruf, für größere und kompliziertere Aufgaben geeignet zu sein. Bald gab es Überlegungen, ihn nach Kempten oder Augsburg zu holen, aber schließlich setzte sich Ambrosius Blarer 1492-1564 durch und erreichte, dass der Rat von Esslingen Otter am 2. April 1532 zur Fortführung des von Blarer begonnenen Aufbaus eines evangelischen Kirchenwesens in die Reichsstadt berief.

2: Die Anfänge der Reformation in Esslingen

Ansicht Esslingens aus Matthäus Merians Topographia Suaviae (1643/1656)

Gemeinfrei

Bereits 1522 war in Esslingen zum ersten Mal evangelisch gepredigt worden. Die städtische Obrigkeit hatte sich jedoch angesichts der schwierigen politischen Lage der Stadt, die inmitten des von einer österreichischen Regierung verwalteten Württembergs lag, damals zu keiner eindeutigen Stellungnahme zugunsten der Reformation durchringen können. Eine Reihe von Ratsherren und vor allem der einflussreiche Stadtschreiber Johannes Machtolf standen jedoch auf der Seite Luthers. Was aber der evangelischen Bewegung fehlte, war eine starke und charismatische Führungspersönlichkeit, welche die Bevölkerungsmehrheit hätte mitreißen können. Eine gewisse Sympathie genoss der Augustinermönch Martin Fuchs, ein Esslinger Bürgersohn, dessen Predigten zwar großen Zulauf hatten, aber trotzdem nur wenig bewirkten. 1524 musste jedoch auch er aus Esslingen fliehen, um einer Verhaftung durch den bischöflichen Fiskal von Konstanz zu entgehen. 

Die evangelische Bewegung in der Stadt schien gebremst zu sein, aber der Rat der Stadt tat nun umgekehrt wenig, um die altgläubige Position wieder zu stärken. Im Gegenteil versuchte er die Situation zu nutzen, um traditionelle kirchliche Rechte in Frage zu stellen und sie in den Besitz der Stadt zu bringen. Das untergrub natürlich die Autorität der alten Kirche in Esslingen nur noch weiter. 

Die Gründung des von protestantischen Ständen getragenen Schmalkaldischen Bundes 1531 veränderte die politische Situation Esslingens grundlegend. Eine Hinwendung zur Reformation schien jetzt möglich zu sein, da von nun an der Bund die Sicherheit der Stadt gewährleisten konnte. Im September 1531 trat daher auch Esslingen dem Schmalkaldischen Bund bei. Solchermaßen außenpolitisch abgesichert, gewannen die reformatorischen Kräfte innerhalb der Stadt wieder an Gewicht. 

Am 20. August 1531 erließ der Esslinger Rat erstmalig ein Predigtmandat, in welchem er der Bevölkerung mitteilte, "einen christenlichen evangelischen Predicanten, dem almechtigen Gott zu Lob und Ehr, auch Besserung unserer allen Leben, auf und anzunehmen, und das heillig Evangelium clar und lauter lassen zu predigen."(3) Da die Stadt selber keinen geeigneten "Reformator" besaß, sah man sich in den benachbarten Reichsstädten nach einer geeigneten Persönlichkeit um. Fündig wurde man in Ulm, wo seit Frühjahr neben anderen Theologen auch der Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer an der kirchlichen Neugestaltung in der Stadt mitgearbeitet hatte. Gerne folgte er dem Esslinger Wunsch und kam im September 1531 in die Stadt.

 

In Esslingen ging Blarer sofort tatkräftig zu Werke. Mit seinen seelsorgerlichen Predigten brachte er die Mehrheit der Esslinger Bevölkerung auf die Seite der Reformation. So erbrachte die Bürgerbefragung, die als eine Art Volksabstimmung (freilich ohne Beteiligung der Frauen) vom 6. bis 11. November 1531 durchgeführt wurde, ein beeindruckendes Votum in Sinne Blarers. Von 1076 befragten stimmberechtigten Bürgern (bei einer Bevölkerungszahl von ca. 7500 Menschen) sprachen sich nur 21 gegen die Durchführung der Reformation aus.(4) 

Nach dieser ersten und schnellen Phase der Einführung der Reformation, begann der zweite und wesentlich mühevollere Schritt, nämlich einerseits die institutionelle Ausgestaltung und Bewahrung des Erreichten, andererseits aber auch die Klärung des Verhältnisses zu den noch immer in Esslingen ansässigen Klöstern und Pfleghöfen, vor allem aber zum Speyrer Domkapitel, dem rechtmäßiger Weise der Kirchenzehnte zustand. Hier bedurfte es langer Prozesse vor den Reichsgerichten, bis nach langen Jahren gütliche und für die Stadt befriedigende Ergebnisse erzielt werden konnten. 

Der innere Ausbau der neuen evangelischen Kirche war vor allem die Aufgabe Blarers. 1532 leitete er entscheidende Kirchenzucht und Gottesdienstreformen ein. Die am 14. Januar 1532 erlassene Zuchtordnung enthielt allgemeine Regelungen zur Verbesserung der sittlichen Zustände in Esslingen, worüber ein vom Rat der Stadt eingesetztes Zuchtgericht aus fünf Zuchtherren zu wachen hatte.(5) Selbst Ehescheidungen fielen nun in die Kompetenz städtischer Behörden, wobei das Ehegericht jedoch nicht mit Ratsherren, sondern mit Mitgliedern der Zünfte besetzt wurde. 

Auch das Gottesdienstwesen erhielt eine neue Regelung. Die Stadt wurde in vier Pfarrbezirke mit jeweils zwei bis drei Pfarrern aufgeteilt. Eine der Pfarrerstellen an der Stadtkirche übertrug man dem mittlerweile wieder nach Esslingen zurückgekehrten Martin Fuchs. Der Bevölkerung wurde energisch der Besuch der Gottesdienste und des Abendmahls anbefohlen. 

Ein schlechter Beginn Der Predigerstreit von 1533/34

Als Blarer Anfang Juli 1532 Esslingen wieder verließ, vertraute er darauf, dass er seinem Nachfolger Jakob Otter einen bereits weitgehend bestellten Acker hinterlassen hatte. Mit dieser Meinung sollte sich Blarer jedoch empfindlich irren.

Der Streit begann für Otter in den eigenen Reihen. Martin Fuchs, der evangelische Prediger der "ersten Stunde", impulsiv und sehr von seiner eigenen Bedeutung überzeugt, hatte nach seiner Flucht aus Esslingen viel Unbill durchleiden müssen. Deshalb glaubte er, dass ihm nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt die Nachfolge Blarers als eine Art Wiedergutmachung zustünde. Stattdessen musste er sich nun mit der seiner Meinung nach undankbaren Rolle des zweiten Pfarrers hinter Otter zufriedengeben. Otter und Fuchs entwickelten rasch eine starke persönliche Abneigung gegeneinander, woraus sich ein handfester Streit entwickelte. Fast jede Maßnahme Otters wurde von Fuchs öffentlich kritisiert. Tatsächlich agierte Otter in der Öffentlichkeit sehr viel vorsichtiger als Blarer. Er drängte zunächst nicht so massiv wie dieser auf die Einhaltung der Zuchtordnung, weil er sah, dass ihm der Rat hierin nicht folgte. Auch in anderen Punkten wich Otter vor Eingriffen des Rates zurück, beispielsweise beim Ehegericht, wo sich der Rat nun als Appellationsinstanz die letzte Entscheidung vorbehielt. Otters zurückhaltendes Taktieren mag sich daraus erklären, dass er zunächst nur für ein Jahr auf Probe eingestellt worden war und nach den vielen Jahren des Herumziehens endlich die ersehnte Dauerstellung vor Augen sah. Blarer hatte es in dieser Hinsicht leichter gehabt. Er war von Ulm und Konstanz an die Esslinger nur "ausgeliehen", worden, konnten also gegenüber den Esslinger Ratsherren sehr selbstbewusst und gleichberechtigt auftreten.

Otter reagierte auf Fuchs gereizt und kleinlich. Auch der dauernde Vergleich mit Blarer machte ihm zu schaffen. "Ist der Blarer euer Christus? Kann sonst niemant nichts dan der Blarer?", befand er beleidigt gegenüber seinen Amtsbrüdern, von denen er sich immer stärker zurückzog, worauf die sich mit Fuchs solidarisierten.

Aber nun passierte genau das, was Blarer immer zu vermeiden gesucht hatte, nämlich die Einmischung der weltlichen Obrigkeit in die Selbstständigkeit der Geistlichen. Ihnen hatte Blarer stets ein kollegiales Verhältnis ans Herz gelegt und deshalb auch keine deutliche hierarchische Abstufung der Ämter innerhalb der Pfarrerschaft geschaffen. Otter jedoch, der sich gegenüber Fuchs nicht mehr zu helfen wusste, wandte sich nun ausgerechnet an den Rat mit der Bitte, ihn gegen Fuchs zu unterstützen. Er beklagte die täglichen Reibereien mit Fuchs. Deshalb gebe es ein immer lauter werdendes Gemurmel innerhalb der Gemeinde, "die Pfaffen seien uneins."(6) Der Rat reagierte sofort. Es war wohl zunächst gar nicht seine Absicht, die Pfarrer endlich auch dienstrechtlich kontrollieren zu können, sondern die Sorge, mögliche Turbulenzen von dem noch jungen Esslinger Kirchenwesen fern halten zu müssen. Das Ergebnis aber hatte dennoch tiefgreifende Folgen für das Verhältnis von Kirche und Obrigkeit in Esslingen. Im Sommer 1533 erließ der Rat eine feste Prädikantenordnung. In ihr legte er fest, welcher Prädikant wann zu predigen habe. Die Pfarrer selber mussten sich zu regelmäßigen Dienstbesprechungen treffen, den Konvokationen, bei denen die anstehenden kirchlichen Belange durchgesprochen werden sollten. An diesen Sitzungen nahmen jeweils zwei Ratsherren teil. Nur mit deren Einverständnis konnten notorische Sünder vom Gottesdienst oder dem Abendmahl ausgeschlossen werden. Insgesamt wurde die Position Otters gegenüber den anderen Geistlichen und vor allem zu Fuchs gestärkt und er erhielt die ersehnte Dauerstellung. Sein Streit mit Fuchs ging dennoch weiter und erstreckte sich mittlerweile auch auf theologische Fragen, wobei von den beiden Kontrahenten sogar Theologen anderer Städte mit Beschwerdebriefen und Bitten um Gutachten traktiert wurden, was dem Esslinger Rat äußerst peinlich war. Als Blarer davon hörte, dass Otter sich nun beinahe regelmäßig beim Rat über Fuchs beklage, rang er die Hände. Otter sei zu empfindlich, schrieb er an den Esslinger Stadtschreiber Machtolf, so "daß er die Fehler der anderen so leicht vor den Rat bringt, woraus viel Parteiung und Ärgernis erwachsen muß. Meine Mitarbeiter müssten arge Dinge begehen, dass ich sie vor dem Rat anklagte, und vorher würde ich alles versuchen, damit die Sache zwischen uns bleibe, ... denn Uneinigkeit zwischen den Predigern erregt bei der Obrigkeit, die sie zu Einigkeit anhalten sollten, schlimmen Anstoß."(7)

Offensichtlich war Otter zu diesem Zeitpunkt mit der Führung eines größeren Kirchenwesens überfordert. Mit Kollegen am selben Ort hatte er sich in seinen vorigen Stellen noch nie ernsthaft auseinanderzusetzen gehabt. Dazu kam eine mangelnde Distanz zur Obrigkeit, was sich aus Otters guten Erfahrungen mit dem Kenzinger Rat, aber auch mit Ritter Hans Landschad in Neckarsteinach erklären lässt, denen er teilweise sogar seine persönliche Sicherheit zu verdanken gehabt hatte. Das grundsätzliche Anliegen Blarers, die evangelische Kirche als Gemeinde von unten her aufzubauen und sich deshalb sogar manchmal am Rat vorbei direkt mit den Zünften zu verständigen, war Otter fremd. Indem er und Fuchs permanent den Esslinger Rat um dessen Eingreifen baten, ihn also in die Rolle eines Disziplinarvorgesetzten der Geistlichkeit drängten, lösten sie sich von der Gemeinde und wurden zu städtischen Beamten. Der Rat entschied den Zwist der Geistlichen entsprechend per Dekret. Am 13. September 1533 wurde Fuchs entlassen. Die Ratsherren machten bei diesem Beschluss deutlich, dass sie das Verhalten beider Geistlicher tadelten, aber aus disziplinarischen Gründen Otter als den vom Rat eingesetzten leitenden Pfarrer halten mussten. Fuchs verließ Esslingen. Nach verschiedenen beruflichen Stationen starb der unruhige Mann 1542 als Württembergischer Feldprediger.

Otters zweiter Beginn

Der "öffentlich geführte Streit zwischen Fuchs und Otter hatte nicht nur zu einem Positionsverlust der Geistlichen gegenüber dem Magistrat geführt, sondern auch ihre Autorität innerhalb der Bevölkerung untergraben. Die Begeisterung für den Aufbau eines neuen Kirchenwesens war beträchtlich abgekühlt. Was sollte der Bürger von den strengen Zuchtgeboten halten, wenn sich die Geistlichen selber gegenseitig moralische Vergehen vorwarfen? Selbst die Ratsherren erschienen nur noch höchst unregelmäßig zu den Predigten, das Fluchen und Saufen in der Öffentlichkeit wurde wieder hingenommen, und traditionelle katholische Bräuche wie das Johannisfeuer und die Totenfeiern auf den Zunfthäusern feierten ihre Wiederauferstehung. Jetzt plötzlich aber, am Tiefpunkt seiner Autorität und seines Einflussvermögens angelangt, persönlich und als vorgesetzter Pfarrer höchst umstritten, begann Otter seine bislang gezeigte Unsicherheit abzustreifen, um mit Umsicht und Tatkraft an seine eigentliche Aufgabe zu gehen. Er lamentierte nicht lange über die schlimmer werdenden Verhältnisse, sondern machte sich daran, in Esslingen eine Art zweite Reformation durchzuführen.

Zunächst verbesserte Otter die Erziehung der Jugend. 1534 entwarf er neue Ordnungen für die Esslinger Elementar und Lateinschule. In ihnen regelte er den Aufgabenbereich der Lehrer und setzte auch die Erziehungsziele fest. In der Elementarschule sollten die Kinder "mit Schreiben und Lesen, mit Rechnen und anderen Schulrechten" unterrichtet, gleichzeitig aber auch der Katechismus traktiert und die Schüler regelmäßig zum Gottesdienst geführt werden.(8) Dafür hatte Otter sogar einen eigenen Katechismus entwickelt. Die Lateinschule organisierte er nach dem weithin anerkannten Straßburger Vorbild um.

Der Katechismus war jedoch nicht nur für die Unterweisung der Jugend, sondern auch für die der Erwachsenen gedacht. Mit seinen Kollegen gab Otter aufgrund der Entwicklungen in der Stadt sogar ein weiteres kirchliches Glaubensbekenntnis mit dem programmatischen Titel heraus: "Ein kurtze Underrichtung und Bekantnus des Glaubens in den furnemen Stücken unser christhlichen Religion, die Einfältigen im Glauben zu befestigen und vor allem Zanck zu warer Einikeit und Besserung zu richten." Das Bekenntnis begann Otter mit einer Schilderung des Wirkens des Satans, der seine Macht auch in Esslingen beweisen wolle, indem er Zwistigkeiten gesät habe. Dann wurden alle für den evangelischen Glauben wichtigen theologischen Punkte abgehandelt: Jesus Christus, Glauben und Werke, Sakramente und schließlich die Kirchenzucht. Abschließend schärfte Otter sowohl der Obrigkeit wie auch den Bürgern ihre Pflichten ein. Dieses Bekenntnis ließ Otter drucken und an alle Haushalte verteilen.

Sein seelsorgerliches Bemühen um die Seelen und Herzen der Esslinger drückte Otter in seinem 1537 erschienenen Gebetbuch aus, das bis heute zu eindrucksvollsten Werken der evangelischen Gebetsliteratur gezählt wird.(9) Es sollte dem einzelnen Christen als private Anleitung zum persönlichen Gebet dienen. Dabei ermunterte Otter seine Leser: "Nicht das du dich an solche Wort sollest binden, sondern sollest die Leiter und Steige der Worte fallen lassen, so bald du hinauff in die Geheimnis des bittenden Geists gestigen und eintretten bist."(10) Die Gebete verzichten auf allen rhetorischen Glanz, sondern beeindrucken stattdessen durch die Schlichtheit und Einfachheit ihrer Sprache. Man mag daraus auch auf Otters Predigtstil schließen, denn es lag ihm stets sehr viel daran, dass seine Predigten von den Hörern wirklich verstanden wurden.

Otters unermüdliches Wirken verband ihn jetzt wieder enger mit den anderen Pfarrern in der Stadt, so dass der alte Streit mit Fuchs verblasste und die Geistlichen nun nach außen hin ein geschlossenes Bild abgaben. Das festigte allmählich Otters Autorität. Weitere Anerkennung erhielt er durch sein Wirken im benachbarten Württemberg, wo seit 1534 offiziell an der Einführung der Reformation gearbeitet wurde. Auf Bitten Blarers war Otter einer der ersten evangelischen Geistlichen, die in Stuttgart aushilfsweise predigten. Freilich geriet er als Vertreter der Oberdeutschen Theologie dadurch mit in den Streit über das Abendmahl, der sich zwischen dem lutherischen und dem oberdeutschen Lager entzündet hatte. Für Esslingen und die anderen protestantischen Reichsstädte bedeutete dieser Streit mehr als nur eine theologische Frage, denn davon hing der Zusammenhalt des Schmalkaldischen Bundes ab, letzten Endes also die politische und militärische Sicherheit der Städte. An den Verhandlungen der Theologen beider Seiten beteiligte sich auch Otter. Im Frühsommer 1536 reiste er mit Theologen der anderen Städte nach Wittenberg zu Luther, wo am 25. Mai die "Wittenberger Konkordie" unterzeichnet wurde, die den Zwist durch einen Kompromiss beendete.

Diese Ereignisse fanden ihren Niederschlag auch in Esslingen. Die Pfarrer, die noch kurz zuvor eher die Rolle von reinen Ausführungsorganen des Rates gespielt hatten, nahmen von nun an ein wesentlich erweitertes und vom Rat geduldetes Mitspracherecht in kirchlich religiösen Fragen in Anspruch. Mit ausschlaggebend dürfte dabei das gesteigerte Ansehen gewesen sein, das sich Otter durch sein engagiertes Auftreten in Esslingen selber, aber auch außerhalb durch seinen Einsatz für die Belange der Stadt erworben hatte. Otter nutzte diese veränderte Situation, um nun seinerseits dem Rat Ermahnungen zu erteilen. So legten beispielsweise 1538 die Geistlichen dem Rat ein ausführliches Memorandum vor, in welchem gefordert wurde, nur noch solchen Bewerbern ein städtisches Amt oder eine Ratsstelle zu übertragen, die deutlich auf der Seite des Evangeliums ständen. Der Rat könne nicht von der Gemeinde die Einhaltung der Zuchtordnung fordern, ohne "ain gute Reformation" in den eigenen Reihen durchzuführen.(11) Dazu gehöre, dass die Ratsherren selber in ihrem Lebenswandel den übrigen Bürgern ein Vorbild seien.

Trotz solcher Ermahnungen gab sich Otter selber keinerlei Illusionen über die Erfolge seiner Bemühungen hin. 1544 klagte er vor dem Rat: "Es ist kein Gehorsam im Volck, das Wort Gottes wird verachtet, die Obrigkeit verkleinert, die Prediger verlestert, alle Rotten, Spaltungen, Secten reissen wieder ein..., das alles kumpt daher, es ist kein Ordnung, das Volck wirt nicht zusammen gehalten."(12)

Otter starb 1547, müde und resigniert. Man respektierte ihn, aber die Liebe seiner Gemeinde wie er sie in Kenzingen und Neckarsteinach erfahren hatte, war ihm in Esslingen nicht zuteil geworden. Otter trug durch seine schnelle Verletzbarkeit und sein häufig verschlossen wirkendes Wesen sicherlich selber viel zu dieser Haltung bei. Am meisten hatte ihn enttäuscht, dass sich die Zuchtordnung in Esslingen nicht hatte durchsetzen lassen. Dabei war er überzeugt gewesen, dass die neue reformatorische Lehre auch einen neuen Menschen hervorbringen würde. Er übersah dabei, dass die kirchlichen Ordnungen dort ihre Grenzen erreichten, wo sie von der Bevölkerung nicht mehr als nachvollziehbare Konsequenz der reformatorischen Lehre, sondern schlicht als Einengung der persönlichen Lebensführung empfunden wurde. Otter hat hier in seiner Strenge die Mehrheit der Esslinger Bevölkerung überfordert. Denn dass sein Bemühen um den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens doch auf fruchtbaren Boden gefallen war, zeigte sich, als kurz nach seinem Tod auch Esslingen das kaiserliche Interim für zehn lange Jahre ertrug, ohne dass dadurch das Fortbestehen der reformatorischen Kirche in der Stadt ins Wanken geriet.

Aktualisiert am: 19.03.2018