Matthäus Alber und die Reformation in Reutlingen

Von: Hermle, Siegfried

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Ausbildung und erste Wirksamkeit
  2. 2: Auf dem Weg zur Reformation: Markteid und erste deutsche Messe
  3. 3: ”Schwäbisches Worms”
  4. 4: Bewährung der Reformation
  5. 5: Festigung der Reformation in Reutlingen und Tätigkeit Albers außerhalb der Reichsstadt
  6. 6: Alber in württembergischen Diensten
  7. 7: Resümee
  8. Anhang

Stadtansicht von Reutlingen

Merian, Topographia Sueviae, 1643

War in zahlreichen Reichsstädten bereits im Verlauf des 15. Jahrhunderts dem Bedürfnis der Bürger nach einer Auslegung des Wortes Gottes durch die Stiftung einer Prädikantenstelle Ausdruck verliehen worden, so wurde in Reutlingen eine solche Prädikatur vom Rat der Stadt erst am 7. Januar 1521 eingerichtet.(1) Die Stiftung erfolge zum Lob und zur Ehre Gottes und solle der Auslegung der Schrift dienen und damit zum rechten Glauben, christlicher Hoffnung, wahrer göttlicher Liebe, Vermeidung von Lastern und Übung der Tugend führen. Voraussetzung für die Berufung war eine überdurchschnittliche Qualifikation und ein guter Lebenswandel.(2)

Mit dieser Stiftung hatte sich der Rat das Recht zur Besetzung einer Theologenstelle gesichert, lag das Patronat über die Stadtpfarrstelle - also die Auswahl und Benennung des Pfarrers und der Helfer - doch beim Abt von Königsbronn. Zugleich war durch sie ein entscheidender Schritt hin zur späteren Reformation der Stadt getan, auch wenn diese Stiftung selbst, deren evangelischer Grundton durch Hinweis auf die besondere Bedeutung der Schrift evident ist, noch nicht auf einen frühreformatorischen Geist zurückgeführt werden darf. Die Stadt ließ sich die Stiftung ganz traditionell vom zuständigen Bischof von Konstanz bestätigen und auch die Investitur des ersten Stelleninhabers am 8. November 1521 wurde formgerecht durch die bischöfliche Kurie vorgenommen.

1: Ausbildung und erste Wirksamkeit

Matthäus Alber: Ausschnitt aus dem Epitaph in der Stadtkirche Blaubeuren, 1570

Der von Rat der Stadt für die Prädikatur ausersehene Matthäus Alber hatte die geforderte Qualifikation durch Studien in Tübingen und Freiburg erlangt. Er entstammte einer in Reutlingen seit langem ansässigen Handwerkerfamilie, deren Mitglieder immer wieder zu Ratsherren und Richtern gewählt worden waren. Der Vater des am 4. Dezember 1495 geborenen Matthäus war der Goldschmied Jodocus Alber ca.1460-1503 über seine Mutter Anna Schelling gest. 1532 ist nichts weiter bekannt. Das Jahr 1503 brachte der Familie doppeltes Unglück: Haus und Vermögen wurden bei einem großen Brand zerstört, wenig später starb der Vater. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, weshalb Alber nach einem ersten Unterricht an der Reutlinger Lateinschule im Folgenden das unstete Wanderleben eines fahrenden Schülers führen musste und sich als Kurendesänger seinen Lebensunterhalt zu verdienen hatte. Alber besuchte die Lateinschulen in Schwäbisch Hall, Rothenburg o.d.T. und Straßburg. 1511 kehrte er nach Reutlingen zurück und wirkte als Hilfslehrer an der städtischen Lateinschule. Doch bereits zwei Jahre später ließ er sich im November 1513 an der Universität Tübingen immatrikulieren und begann an der Artistenfakultät das seinerzeit übliche philosophische Grundstudium. Im Mai 1516 wurde Alber zum "Baccalaurius artium", im Januar 1518 dann zum "Magister artium" promoviert. Besonders erwähnenswert ist neben der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt durch Unterricht an der Tübinger Lateinschule verdiente und später auch Musik lehrte, die Begegnung mit Philipp Melanchthon 1497-1560 Alber gehörte zu jenem Kreis junger humanistisch gesonnener Universitätsangehöriger, die sich um Melanchthon scharten und an dessen Kursen über griechische Grammatik, Terenz, Vergil und Livius teilnahmen. Ob in diesem Kreis frühe Schriften Martin Luthers 1483-1546 gelesen wurden, muss offen bleiben. Sicher ist, dass das humanistische Grundanliegen, "zurück zu den Quellen", eine zentrale Rolle spielte und deshalb nicht allein die griechische Sprache erlernt wurde, sondern auch das Studium der Heiligen Schrift ins Blickfeld rückte.

Als Melanchthon 1518 einen Ruf nach Wittenberg erhielt, begleitete ihn Alber auf der ersten Etappe seiner Reise bis nach Stuttgart, wo man gemeinsam den Onkel Melanchthons, den großen Humanisten und Verfasser der ersten hebräischen Grammatik Johannes Reuchlin 1455-1522 besuchte. Nach Tübingen zurückgekehrt begann Alber mit dem Studium der Theologie. Bald - wohl 1519 - führte ihn sein Weg nach Freiburg, wo im Gegensatz zu Tübingen der Humanismus die scholastische Theologie schon stärker verdrängt hatte. Spätestens in Freiburg muss Alber auch Luthers Schriften kennengelernt haben. Offiziell immatrikuliert wurde Alber in Freiburg jedoch erst am 1. Juni 1521, bereits fünf Tage später wurde er zum Baccalaurius biblicus promoviert. Nachdem er der damaligen Gepflogenheit entsprechend selbst Vorlesungen gehalten hatte, erlangte er am 8. August den Grad eines Baccalaureus sententiarius und wenig später den eines Baccalaureus formatus.

Mit diesem Abschluß hatte Alber die Voraussetzungen erfüllt, dass ihm die in Reutlingen zu Beginn des Jahres 1521 gestiftete Predigerstelle übertragen werden konnte. Die noch nötige Priesterweihe erhielt er gleichzeitig mit der Übertragung der Prädikatur am 8. November 1521 in Konstanz. Die Stadt Reutlingen hatte mit Alber nicht nur einen Angehörigen einer angesehenen ansässigen Familie erwählt, der eine überdurchschnittliche Qualifikation hatte, sondern auch einen Theologen, der trotz seines traditionellen Ausbildungswegs doch vom Geist des Humanismus und wohl auch von Luthers Gedanken erfasst war, was sich daran erkennen lässt, dass er in Freiburg nicht wie üblich über den Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus ca. 1100-1160 sondern über ein biblisches Buch Vorlesungen hielt.

Als Bürgermeister und Rat der Stadt Alber beriefen, hatten sie keineswegs die Reformation ihrer Stadt im Blick. Sie suchten eher der für eine Obrigkeit damals selbstverständlichen Aufgabe gerecht zu werden, auch für das Seelenheil der Untertanen zu sorgen. Doch Alber kam nicht nur dem Bedürfnis nach einer Auslegung der biblischen Schriften nach, er erwies sich bald als Anhänger Luthers: vor der Gemeinde predigte er über die Evangelien des Matthäus und Johannes; vor einem Klerikerzirkel legte er zudem den Römerbrief und andere Paulusbriefe aus. Bald gelang es ihm, einen ansehnlichen Teil der 30 bis 40 Reutlinger Kleriker, die teilweise an der Hauptkirche St. Peter "in den Weiden", die außerhalb der Mauern der Stadt lag, oder an einer der neun Kapellen sowie der aufgrund eines Gelübdes erbauten Marienkirche wirkten, auf seine Seite zu ziehen. Dass er auch unter der Bevölkerung Anhänger gewann, belegt eine kleine Episode, die aus jenen Jahren berichtet wird. Ein altgläubiger Prediger sei wegen unbiblischer Rede "von der Kanzel gezogen" worden.

Dass Albers kritische Predigt so rasch Früchte trug, mag damit zusammenhängen, daß schon der Vorgänger von Alber Kritik an den kirchlichen Zuständen äußerte. In einer der beiden über Alber überlieferten zeitgenössischen biographischen Abrisse wird berichtet, daß sich Alber stets daran erinnern konnte, dass Magister Georg Schütz über das Altarsakrament ausführte: "Es geht itzt nit recht mit dem sacrament in der kirchen zu wie zur zeitt Pauli. Es muss anders gehn". Dass es anders wurde, dass die seit dem Spätmittelalter vermehrt geforderte Reform der Kirche und deren Ausrichtung an der Heiligen Schrift und der Zeit der Urgemeinde endlich vorankam, dafür sorgte Alber und seine Gesinnungsgenossen.

2: Auf dem Weg zur Reformation: Markteid und erste deutsche Messe

Um ermessen zu können, wie bedrohlich die im folgenden darzustellenden Ereignisse für die Reichsstadt und ihr sieben Dörfer sowie einige Gehöfte umfassendes Territorium war, muss man sich vor Augen führen, dass Reutlingen ganz von Württemberg umgeben war. In Württemberg aber herrschte seit 1519 nicht mehr das angestammte Fürstenhaus - Herzog Ulrich 1487/1498-1550 war nach einem Angriff auf die Stadt Reutlingen durch den Schwäbischen Bund vertrieben worden -, sondern Habsburg hatte sich die Regierung gesichert. Erzherzog Ferdinand 1503-1564 ließ Württemberg durch eine in Stuttgart ansässige Statthalterei regieren und fuhr einen streng altgläubigen Kurs; reformatorischer Umtriebe verdächtige Personen wurden umgehend gefangen gesetzt oder des Landes verwiesen.

Die Stuttgarter Statthalterei sah sich angesichts der immer deutlicher werdenden Erfolge des Reutlinger Prädikanten erstmals im August 1523 genötigt, bei der Stadt mündlich Kritik an deren Prediger zu üben. Als diese Intervention nicht fruchtete, wandte man sich am 26. September in einem harschen Brief an Bürgermeister und Rat der Stadt. Einem zuverlässigen Bericht zufolge verbreite der Prediger "mit allem Ungehorsam solche verworfene und verdammte lutherische Lehre frevelhaft und unverschämt von der Kanzel ..., dass es gerechterweise jedem Christenmenschen, der Gottes Furcht hat, der Gottes Ehre und Ehrbarkeit lieb hat, innerlich zu Herzen gehen soll"(3). Man forderte ultimativ, solche Predigt zu verbieten und abzustellen, ansonsten werde der Handel der württembergischen Untertanen mit der Stadt Reutlingen verboten. 

Angesichts der Lage der Stadt und der wirtschaftlichen Abhängigkeit der zwölf Zünfte vom württembergischen Umland, überrascht es nicht, dass die Stadt sehr rasch reagierte. Bereits am 8. Oktober wies der Rat die Anschuldigungen zurück; der Prediger habe bislang nicht ketzerisch gepredigt. Die Vorwürfe müssten von Feinden der Stadt stammen. Die Statthalterei möge doch unchristliche Lehren des Predigers schriftlich darlegen, damit der Rat dann den Prediger Stellung nehmen lassen könne. Die Statthalterei war mit dieser ausweichenden und vorsichtigen Antwort nicht zufrieden. Am 11. Januar forderte Erzherzog Ferdinand persönlich die Reichsstadt auf, gegen den Prediger vorzugehen, er bringe nicht nur Bürger der Stadt, sondern auch Auswärtige, die den Markt besuchten, zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Ferdinand bat um Abstellung der Predigt; die Drohung mit wirtschaftlichem Druck fehlte jedoch in seinem Schreiben. 

In ihrer durch einen Gesandten nach Nürnberg übermittelten Antwort betonte die Stadt, die schmählichen Reden seien so nicht vorgekommen und würden auch keineswegs geduldet. Zudem habe man "Martin Luthers Opinion, Sitt oder Lehr, wie man es nennen möge, ... nie insonderheit angenommen"(4). Man habe befohlen "nur das heilige Evangelium nach Auslegung der Schrift, von der christlichen Kirche approbirt und angenommen, zu predigen, und nichts gegen des nächst gehaltenen Reichstags zu Nürnberg Abschied"(5); dies habe der Prediger auch versprochen. Ferdinand jedoch gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Er ließ den in Nürnberg versammelten Städtevertretern am 11. März 1524 bestellen, er werde den "Fall Alber" durch den zuständigen Konstanzer Bischof untersuchen lassen, da er überzeugt sei, der Reutlinger "Prediger sei der lutherischen Opinion ganz anhängig"(6). Andere Reichsstädte, die Reutlingen um Rat gebeten hatte, äußerten sich am 15. März warnend. Man sei davon unterrichtet worden, dass in Reutlingen bereits mehrere Prediger aufgetreten seien, die "im Schein des Evangeliums den gemeinen Mann aufrürig zu machen" trachteten. Sollte Alber seine Äußerungen "mit göttlicher Schrift" belegen können, so rege man eine Bittschrift an Erzherzog Ferdinand an. Eine solche richtete die Stadt dann auch an den Vorsitzenden des Reichsregiments und bat, den Konstanzer Bischof zu veranlassen, einen Gesandten nach Reutlingen zu schicken und im Beisein des Rats eine Untersuchung durchzuführen.(7) 

Der Konstanzer Bischof handelte umgehend. Bereits am 10. April 1524 forderte der mit der Ermittlung beauftragte bischöfliche Vikar Johannes Ranning von Tübingen aus den Rat der Stadt auf, Zeugen zum Verhör in die Nachbarstadt zu schicken. Der Rat antwortete Tags darauf, bislang habe man noch keine Antwort auf die Bittschrift an Erzherzog Ferdinand erhalten; der Vikar möge sich gedulden. Als Ranning dies dem Konstanzer Bischof mitteilte, beschwerte sich dieser beim Schwäbischen Bund in Augsburg, dem sowohl der Bischof wie auch die Reichsstadt angehörten. Die Bundeshauptleute übten umgehend Druck auf Reutlingen aus und forderten am 5. Mai den Rat auf, Rechenschaft über sein Verhalten abzulegen. Der Rat erklärte daraufhin, er sei sich keiner Behinderung bewusst und im Übrigen sei man aufgrund der der Stadt zukommenden Privilegien nicht verpflichtet, "des Bischofs geistlichen Gerichtszwang und Prozeß zu erhalten und vollziehn"(8). Allerdings scheint sich der Rat im folgenden bereit erklärt zu haben, doch einem Verhör Albers durch den bischöflichen Rat zuzustimmen. Dieses sollte in Reutlingen stattfinden –also unter der Kontrolle des Rats - und man versprach dem Vikar freies Geleit, um nach Reutlingen zu kommen. 

Allein: Alber war mit diesem Kompromissangebot des Rats nicht einverstanden. Er suchte das Verhör überhaupt zu verhindern. Der Vikar habe die Auswahl der Zeugen manipuliert, bereits einige außerhalb der Stadt verhört und solche Personen zu Zeugen ernannt, "die dem Wort Gottes widerwärtig, und nicht viel in seinen Predigen und Lehren geweßt" seien.(9) Diese Intervention Albers setzte den Rat unter Zugzwang; es wurde beschlossen, die zwölf Zünfte der Stadt auf einen nicht mehr genau bestimmbaren Termin Mitte Mai auf sieben Uhr abends in die Zunfthäuser zu bestellen. Sprecher des Rats sollten dort das Vorgehen der Obrigkeit erläutern. Allerdings brach gegen 18 Uhr ein Feuer in der Stadt aus, das alle Bürger auf die Beine brachte. Das Feuer war rasch gelöscht, doch die versammelte Menge kam der Aufforderung des Rats, wieder nach Hause zu gehen, nicht nach, sondern forderte, die anstehende Sache öffentlich auf dem Marktplatz zu verhandeln. Die Ereignisse werden in einem wenig später entstandenen Text wie folgt beschrieben: 

"Sie haben nach dem Bürgermeister geschickt, und ihm angezeigt, daß ... sie wollen, daß das Verhör nicht Fürgang haben solle, man wolle dann ihm, dem Prediger, klein und groß Räthe, oder eine ganze Gemeind auch verhören, denn er habe das rein lauter Wort Gottes gepredigt; ... Auf solches habe der Bürgermeister mit ihnen geredt, daß sie heimgehn sollen in ihre Zunfthäuser, und einen Ausschuß machen, der in solcher Sach einem Rat ihr Mainung anzeigen solle: so werde sich ein Rath darin halten, wie sich gepüre. Auf solches haben sie nicht wollen abtreten, sondern haben begehrt, als auch beschehen, daß wir ... Ratsmitglieder und der herbeigerufene Bürgermeister, S.H. alle zusamen schweren sollen, bey dem Gotswort zu beliben, und das zu handthaben. Auch wurde in solchem Aid beredt, daß diese Handlung niemand kein Nachthail oder Straf pringen, noch draus folgen soll. Und als solches beschehen, ist man abtretten".(10) 

Die Bürger hatten den Rat also gezwungen, sich durch einen Eid zu verbinden und dem Prädikanten dadurch den Schutz der Bürgerschaft einschließlich des Rats und des Bürgermeisters zukommen zu lassen. Als am nächsten Vormittag ein Bote des Rats nach Tübingen kam, um dem Vikar die neueste Entwicklung mitzuteilen, war dieser bereits abgereist. Man konnte nur noch beim Tübinger Untervogt eine Nachricht hinterlegen. 

In dieser gespannten Situation sandte der Schwäbische Bund drei Räte nach Reutlingen, die der Stadt bei der Bewältigung ihrer Probleme behilflich sein sollten. Die Räte sahen die Ereignisse auf dem Marktplatz als widerrechtlich an und rieten deshalb, den Eid bei Straffreiheit der Beteiligten aufzuheben und der Untersuchung des Bischofs nichts mehr in den Weg zu legen. Der beigefügte Hinweis auf die gefährdete Situation der Stadt angesichts des sie ganz umgebenden, von Habsburg regierten Territoriums zeigte Wirkung: Die Zünfte stimmten dem Vorschlag zu und erklärten sich mit der Wiederherstellung des politischen und sozialen status quo einverstanden. Auffallend ist, dass sich die Vertreter des Schwäbischen Bundes darauf beschränkten, in Reutlingen die traditionellen politischen Verhältnisse wieder herzustellen und die von der Bürgerschaft geforderten umfangreicheren Mitspracherechte zurückzuweisen. Die Frage der Evangliumsgemäßheit von Albers Predigten jedoch sollte der zuständige Bischof klären. 

Da der Konstanzer Bischof nun aber nicht noch einmal aktiv wurde und auch die Stadt offensichtlich nicht wagte, ihrem Prediger irgendwelche Auflagen zu machen, die nach außen eine sichtbare Veränderung seines Wirkens nach sich gezogen hätten, sah sich der Schwäbische Bund am 25. August erneut veranlasst, in einem Schreiben an den Rat Klage zu führen. Die Lehre des städtischen Predigers führe "zu Abfall christenlicher Ordnung, darzu zu Ergerniß, Uffrur und Zerrüttung aller Oberkait und Erbarkait"(11), weshalb Reutlingen ermahnt wurde, die Mißstände abzustellen und dem "Prediger fürter dergestalt nit gestatten, sonnder in verweysen"(12). Unverhohlen war zudem damit gedroht, dass der Bund militärisch gegen die Stadt vorgehen könnte, falls man in Reutlingen den geforderten Maßnahmen nicht mit Nachdruck nachkomme. 

Diese scharfe Reaktion des Schwäbischen Bundes hing zweifelsohne mit verschiedenen Ereignissen zusammen, die zwischenzeitlich in Reutlingen zu einer immer deutlicher erkennbaren Distanzierung Albers von der alten Kirche und einem konkreten Umsetzen der neuen reformatorischen Erkenntnis geführt hatte. Immerhin war sein entschiedenes reformatorisches Auftreten bereits im März 1523 dem Zürcher Reformator Ulrich Zwingli 1484-1531 berichtet worden, der Alber nicht nur aufforderte, weiterhin das lauterer Evangelium zu verkündigen, sondern auch den Wunsch äußerte, in engere Beziehung mit ihm zu treten.(13) 

Überraschend bat der erst am 24. Juni 1523 neu eingesetzte Pfarrer Kaspar Wölflin, der wie Alber einer Reutlinger Familie der Oberschicht entstammte, bereits ein Jahr später beim zuständigen Abt Melchior von Königsbronn um seine Entlassung. Seine Einsetzung 1523 zeigt, dass der Rat zu diesem Zeitpunkt nicht beabsichtigte, die Stadt der neuen Lehre zuzuführen, vielmehr wollte man durch Wölflin, dem sogar eine verbesserte Besoldung zugestanden worden war, die Missstände beseitigen. Wölflin erklärte dem Abt, "daß er in der Kirchen, wie sich gepürt als Pfarrer, ganz und gar nichts zeschaffen, bieten, handlen, thun noch zelassen habe".(14) Die Helfer gehorchten ihm nicht und der mit Zustimmung des Abtes angestellte Prädikant sei die Ursache aller Mißstände. Als er sich an den Rat mit der Bitte um Beistand wandte, wurde ihm erklärt, ein "Ersamer Rat belade sich solcher Sachen ganz nichts, sondern allein des Weltlichen".(15) Albers Wirken hatte demnach die geregelte Arbeit des altgläubigen Priesters unmöglich gemacht; die Kapläne waren zum Teil nicht mehr bereit, im Sinne der alten Kirche Dienst zu tun und der Rat weigerte sich, gegen Alber Stellung zu beziehen. Vielmehr erklärte er - ganz im Gegensatz zu seinen bisherigen Äußerungen – sich allein auf den weltlichen Bereich beschränken zu wollen. 

Ein weiteres Indiz für die immer weiter fortschreitende Veränderung in der Stadt ist darin zu sehen, dass Alber 1524 - noch ein Jahr vor Luther - heiratete. Durch die Heirat mit der Reutlinger Bürgerstochter Klara Bauer oder Baier, ca. 1504-1585 brach Alber das Zölibatsgelübde und wurde umgehend vom Konstanzer Bischof vor das bischöfliche Gericht beordert. Alber kam jedoch dieser Vorladung nicht nach. Obgleich beide zeitgenössische Lebensbeschreibungen berichten, Alber sei daraufhin mit Acht und Bann belegt worden, ist dies wohl kaum zutreffend. Hans-Christoph Rublack hat überzeugend dargelegt, dass sonst die späteren Vorladungen vor Reichs- oder bischöfliche Gerichte kaum denkbar wären.(16) 

Am Aufsehen erregendsten aber war, dass Alber am 14. August 1524 erstmals die Messe in deutscher Sprache feierte und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt reichte. Alber hatte bereits einen Sonntag zuvor diesen Schritt ankündigt und damit bis nach Herrenberg und Esslingen Resonanz gefunden.(17)

Es sei "ein fast grosse welt vonn frembden vff disen Sonntag in der Statt gewesenn", und es seien vor der Kirche viele Leute gestanden, die nicht mehr Einlaß gefunden hätten.(18) Alber hat dann "eine teutsche mess one liechter ganntz lut alls ob er predigte vnnd doch dar Inn den Canon nit gelesen vnnd Zuletzt Nachdem er dz hochwirdig Sacrament genossen, hat er sich Zum volckh gewennt vnnd dise wort gesprochenn: liebenn khind, So Ir ein begurt hetten vnnsernn herrn vnnd sein blut Zuempfahenn, So haben Ruw vnnd leyd vber ewer sund vnnd ein gut vertrawen, euch seyen die sund nachg[v]lassenn, Nachdem auch vnnser herr die vff sich genomen vnnd dafur gelittenn hat etc. Also seyenn bey xx personen hinzu ganngen vnnd das hochwurdig Sacrament vnder beyderley gestallt empfanngen".(19) 

Damit aber hatte sich Alber eindeutig von der alten Kirche geschieden und sich zur Reformation im Sinne Luthers bekannt. Und es mag mit auf dieses Ereignis zurückzuführen sein, dass Erzherzog Ferdinand nunmehr seine Ankündigung wahr machte und in einem Mandat den Bürgern Württembergs verbot, weiterhin Geschäfte mit Reutlingen zu machen und die Stadt zu betreten.(20) 

3: ”Schwäbisches Worms”

Blick auf die Marienkirche

Fotograf: W. Kleinfeldt, in: Dr. Brock (Hg.), Reutlingen, 1925

Doch diese Maßnahme war nicht die einzige, der sich Reutlingen und sein Prediger Ende 1524 ausgesetzt sahen. Am 25. August traf zunächst ein Brief des Schwäbischen Bundes in der Reichsstadt ein, in dem Klage geführt wurde, dass die Lehre des Reutlinger Predigers "allein dahin ausgerichtet wird, dass sie vor allem dem Verfall christlicher Ordnung, dazu zu Ärgernis, Aufruhr und Zerrüttung aller Obrigkeit und Ehrbarkeit diene".(21) Eindrücklich wurde die Stadt ermahnt, ihrem Prediger künftig dieses Auftreten zu verbieten. Zudem beschäftigte sich das von Nürnberg nach Esslingen übergesiedelte Reichsregiment, das in Abwesenheit des Kaisers die Regierungsgeschäfte führte und dem Vertreter aller Stände angehörten, mit den Vorgängen in Reutlingen. Am 30. und 31. August wurde der Antrag Reutlingens, die an das Reich zu entrichtenden Steuern herabzusetzen abgelehnt. Die Stadt dulde, dass ihr Prediger "nit allein Lutherisch, sonder lesterlich und wider got predigt".(22) Das Reichsregiment nahm demnach eine Steuersache zum Anlaß, die Religionsfrage zu thematisieren und mit Hinweis auf die Nichtbeachtung des Wormser Edikts, durch das der Kaiser 1521 nach der Achterklärung Luthers die Verbreitung von dessen Lehre verboten hatte, den Reutlinger Antrag zurückzuweisen. Zugespitzt wurde die Situation im Herbst 1524 dadurch, dass Kaiser Karl V. 1500-1558 das auf dem Nürnberger Reichstag von 1524 von den Ständen geforderte Nationalkonzil verbot und ausdrücklich die scharfe Beachtung des Wormser Edikts forderte.

Interessanterweise war es dann Alber selbst, der sich direkt an das Reichsregiment wandte und erbot, seine Lehre in einer öffentlichen Disputation zu verantworten wobei die Heilige Schrift Maßstab sein solle. Er klagte in seinem Schreiben darüber, daß zahlreiche seiner Worte und Handlungen "verkert, untruilich, felschlich und nidesch usgelegt" würden.(23) Ob nun aufgrund dieses Schreibens oder durch eine Initiative Erzherzog Ferdinands läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls beantragte der kaiserliche Anwalt Dr. Kaspar Mart am 29. November Alber und Konrad Ötinger zum Verhör vor das Reichsregiment zu laden. Sie würden gegen die Bulle Papst Leo X. 1475/1513-1521 und das Wormser Edikt verstoßen.(24)

Alber und Ötinger wurden von fünfzig bewaffneten Bürgern bis an die Stadtgrenze von Esslingen begleitet und stellten sich schließlich vom 10. bis zum 12. Januar 1525 dem Verhör. In der Regimentsstube auf dem Esslinger Rathaus wurde sie von den Mitgliedern des Reichsregiments vernommen. Am 10. Januar wurde zunächst Alber, am folgenden Tag Ötinger verhört. Alber sah sich mit zweiundfünfzig Fragen konfrontiert, wobei die Fragen 1 bis 32 der von Papst Leo am 15. Juni 1520 an Luther gerichteten Bannandrohungsbulle "Exsurge domine" folgten und die Fragen 34 bis 43 den im Wormser Edikt formulierten theologischen Anklagepunkte gegen Luther; Frage 33 betraf Albers Einstellung zu den Mandaten des Papstes und des Kaisers gegen Luther und von den restlichen Fragen zielten zumindest vier eindeutig auf dessen Wirken in Reutlingen, sie könnten also auf ein Anklage aus Reutlingen zurückgehen. Vorgelegt wurden Alber die Fragen, die fast immer mit der Formulierung "er soll gepredigt und gelehrt haben" einsetzten, durch den Fiskal.

Martin Brecht macht in seiner gründlichen Analyse der Antworten Albers auf drei Aspekte aufmerksam, die in besonderer Weise die Theologie Albers prägten. Besonders augenfällig stellte Alber die Heilige Schrift als die Autorität heraus, an der sich alles messen lassen müsse, auch kirchliche Gesetze, die Tradition oder Konzilsbeschlüsse.(25) Zudem wies Alber auf den Glauben hin, durch den der Mensch allein zu Gott kommen könne: "allein der glaub und das vertrauen uf die wort der versprechung und zusagung gottes der rechtvertig und mach from vorm angesicht gottes".(26) An die Seite der Betonung der Schrift und des Glaubens trat die außerordentliche Stellung die Christus bei Alber einnahm: er ist das einzig Haupt der Kirche, der ‚Schatz der Kirche‘, er ist im Abendmahl gegenwärtig, er hat mit seinem Tod die Sünden der Menschen bezahlt.(27) Zurückgewiesen wurde von Alber auch die Willensfreiheit des Menschen - sie sei "nichts anders dann ein ding von worten"(28) - und seiner Ansicht nach war und blieb der Mensch Sünder auch nach der Taufe. Im Blick auf die Kirche kritisierte Alber die römische Amtskirche: es gebe keinen besonderen Priesterstand, da alle Christen Priester seien.(29) Auch die große Bedeutung, die das Finanzwesen, besonders auch der Ablass, erlangte wird zurückgewiesen: "der babstler gnad sei nichts ... dann ein geltstrick wider d[a]z wort des heren".(30) Abgelehnt wurde von ihm zudem der Zölibat, das Fegefeuer, die Gültigkeit der Ordensgelübde, der Anspruch des Papstes, Haupt der Kirche zu sein, die Totenmessen oder auch die Siebenzahl der Sakramente: Alber kennt nur zwei, Abendmahl und Taufe. Die Kirche ist für ihn "ein geistlicher leib", der kein irdisch Haupt habe, sondern allein Christus.(31) Im Übrigen, so Alber, habe er stets den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gelehrt - es sei denn sie gebiete Dinge, die gegen Gottes Wort stehen. Die Obrigkeit habe die Aufgabe, "die fromen cristen vorn finden zu schutzen".(32) Konsequenterweise vertrat Alber auch die Ansicht, dass man gegen Ketzer und Ungläubige "allein ... mit dem schwert des wort gottes" fechten solle. In seinem Schlusswort erklärte Alber seine Bereitschaft, "alles, so er gepredigt, gelernt und gehandelt hab, mit der heiligen schrift zu beweisen"(33) und sich vor einem bischöflichen Gericht zu verantworten.

Diese Ausführungen zeigen, dass Alber die reformatorische Theologie Luthers in ihren zentralen Punkten aufgenommen und eigenständig weiterentwickelt hatte: entscheidend sind für ihn - wie für Luther - die drei Exklusivaussagen: allein die Heilige Schrift, allein der Glaube und allein Jesus Christus. Wie Luther wehrte sich Alber gegen das Ansinnen, er sei lutherisch; er predige nicht Luther, sondern Jesus Christus aus der Heiligen Schrift. Allerdings war Alber überzeugt, "Luthers leer sei Christi leer".(34)

Eigentlich wäre nach Abschluss des Verhörs - wie bei Luther in Worms - zu erwarten gewesen, dass Alber und sein Mitangeklagter verurteilt worden wären. Doch überraschenderweise wurde ihnen am 12. Januar beschieden, das Regiment wolle die Sache weiter bedenken; man erlaubte ihnen heimzugehen, "zu gelegen zeiten" wolle man ihnen "ferner bescheid geben".(35) Diese Vertagung des Urteils bedeutete nichts weniger, als dass unter den politischen Verhältnissen des beginnenden Jahres 1525 - Solidarität der Städte und Ausbreitung des Bauernaufstands - das Wormser Edikt nicht mehr durchgesetzt werden konnte und die exemplarische Aktion damit gescheitert war. Man kann daher zurecht von einem "Schwäbischen Worms" sprechen - wenngleich es in Esslingen eben zu keiner Verurteilung kam. Der Reutlinger Rat berief sich im Folgenden darauf, dass Alber unwiderlegt geblieben sei. 

4: Bewährung der Reformation

Das Jahr 1525 brachte nach dem Esslinger Verhör noch mehrere herausfordernde und gefährliche Situationen für die Stadt Reutlingen und ihren Prediger.

Zunächst verlangte der Bauernkrieg von Bürgern, Rat und Predigern die Entscheidung, ob dem Ansinnen der über Tausend vor den Toren der Stadt liegenden Bauern, die Tore zu öffnen, nachgegeben werden sollte. Der Bauernhaufe hatte sich am 6. April der Nachbarstadt Pfullingen bemächtigt und hoffte nun, dass seine mit dem Evangelium begründete Freiheitsforderung bei den Reutlingern auf fruchtbaren Boden falle. Doch Alber, der auf einer Richterliste der Bauern stand, lehnte jede Verbrüderung ab und überzeugte durch seine Predigt die Reichsstädter, dass Raub, Mord und Waffengewalt nicht zu einer dem Evangelium gemäßen Freiheit führen könnten; auch dürfe die Stadt dem Kaiser nicht untreu werden.

Hinzuweisen ist sodann auf eine 1525 erschienen Publikation, in der Alber seine Sicht der Prädestination - der Gnadenwahl - darlegte. Er antwortete mit ihr noch vor Luther auf die 1525 vom "Humanistenfürsten" Erasmus von Rotterdam 1469?-1536 veröffentlichte "Diatribe de libero arbitrio" (Untersuchung über den freien Willen) in der er engagiert dafür votierte, dass der Mensch die Möglichkeit habe, sich zu dem, was zum Heil führt, zu- oder abzuwenden. Alber hingegen betonte noch stärker als im Esslinger Verhör und im Unterschied zu Luther, der in seiner Entgegnung bei der Willensfreiheit der Menschen einsetzte, die Alleinwirksamkeit Gottes: "Gott der Allmächtig nach seyner ewigen fürsehung ... würket mechtigklich beyde guots und boeß in allen menschen und Creaturen".(36) Nachdem er diese Sicht mit Verweis auf Bibelstellen - unter anderem Röm 11,35ff. - belegt hatte, wies er die Frage der Menschen, warum der eine erwählt, der andere aber verdammt werde zurück. Gott sei gerecht, die Menschen könnten mit ihm nicht rechten.(37)

Auch für die weitere Entwicklung des Kirchenwesens der Reichsstadt ergaben sich im Jahre 1525 wichtige Weichenstellungen. War Albers erste deutsch gelesene Messe im August 1524 noch eine Einzelaktion, so stand eine generelle Umgestaltung des Gottesdienstes noch aus. Als Verhandlungen mit den altgläubigen Geistlichen kein akzeptables Ergebnis zeitigten, brach Alber sie ab und beantragte beim Rat, die Messe ebenso wie die Seelenmessen ganz abzuschaffen. Neunzehn Geistliche - also wohl die Hälfte der in Reutlingen tätigen Priester - legten daraufhin beim Rat, der Alber freie Hand gelassen hatte, Verwahrung ein. Die Änderung der Gottesdienstordnung sei Sache der geistlichen Obrigkeit und die Abschaffung der Seelenmessen gegen den Willen der Stifter. Beantragt wurde, den alten Ritus weiter praktizieren zu dürfen. In dieser Situation muss in der Stadt der Plan einer Disputation entstanden oder zumindest vom Rat die Aufforderung an die beiden Gruppierungen ergangen sein, ihre Position zu begründen, wobei als alleinige Richtschnur die Heilige Schrift dienen sollte. Der Rat wollte also die für das damalige Empfinden problematische Entwicklung, dass zwei Gottesdienstordnungen nebeneinander existieren, beilegen. Dass die Heilige Schrift als ausschließliche Norm herausgestellt wurde, zeigt allerdings deutlich, wieviel Boden Alber schon gewonnen hatte und wie isoliert die um ihre Einnahmen fürchtenden Kleriker bereits waren. Nur noch einige Familien aus der begüterten Ehrbarkeit und die Mitglieder der Rotgerberzunft stärkten ihnen den Rücken.

Wie die Auseinandersetzung ausging, wird durch eine Anekdote anschaulich: Die Priesterschaft habe den dummen und ungebildeten "Pfaff Vogelweid" zum Tübinger Theologieprofessor Jakob Lemp gest. 1532 geschickt, von dem man Schriftbeweise für die Messe erhoffte. Als dieser nur aus scholastischen Schriften und dem päpstlichen Recht zitierte, habe Vogelweid ausgerufen: "Herr Doktor, ich wellt gern Text haben, dann unsere prediger ... schreyen allzeit, Text her, Text her, auß dem Alten oder Newen Testament".(38) Auf dem Rückweg traf Vogelweid den als Spaßmacher bekannten Reutlinger Staudt, der ihn mit auf sein Pferd sitzen ließ. Vogelweid muss Staudt über seine Erlebnisse berichtet haben, denn in Reutlingen angekommen ritt Staudt auf einen belebten Platz und schrie: "Hie bring ich Text, Text, das alt und new testament füere ich da mitteinander". Dabei warf er seinen Mitreiter auf einen Misthaufen ab.(39) Zwar gibt es für diesen Vorfall keinen quellenmäßigen Beleg, doch die Anekdote zeigt nicht allein, dass die Reutlinger an den theologischen Streitigkeiten Anteil nahmen, sondern belegt neben der Unfähigkeit der Universitätstheologen die geforderten Schriftbeweise beizubringen auch die theologische Unbedarftheit weiter Kreise der altgläubigen Geistlichkeit. Letztere verweigerten im Folgenden die theologische Auseinandersetzung über die Messe; die Sache, so erklärten sie, gehöre vor ein künftiges Konzil.

Aufschluss darüber, wie die Gottesdienste in Reutlingen ab 1525 gefeiert wurden, gibt ein Schreiben Luthers an Alber vom 4. Januar 1526. Wohl im Zusammenhang des noch darzustellenden Streits um das rechte Abendmahlsverständnis war eine Delegation der Reichsstadt zum Reformator nach Wittenberg gereist und brachte ein Schreiben an Alber mit. Luther zeigte sich erfreut über den guten Zustand der Gemeinde. Es gefalle ihm, dass die Zeremonien abgeändert worden seien. Man möge in Reutlingen bei der eigenen Liturgie bleiben; zu bedenken gab Luther allenfalls, dass die Gottesdienste nicht durch ausufernde biblische Lektionen belastet und so die Zuhörer verdrießlich gemacht würden. Aus einem im Spätjahr 1526 geschriebenen Brief Albers erfahren wir über die Gottesdienstordnung näheres: es sei angeordnet, "daß am Morgen frue alle Tag uf ein halbe Stund, nachgends um 8 Ur vor Mittag uss dem N[euen] und A[lten] Testament; und am Abent um 3 Ur nach Mittag ungevarlich uf 1 Stund im A[lten] Testament, mit Erklerung der schweren verborgenen Wort durch andere hellere Wort der Schrift gelesen würde. Nu vor und nach den Predigen oder Lectionen ... werden Psalmen und geistliche Lieder zu teutsch gesungen".(40) Alber hatte demnach nicht wie Luther das Messformular gereinigt, sondern den spätmittelalterlichen Prädikantengottesdienst aufgenommen und deutsches Lied, Lesung und Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes gerückt.

Gegen diese Neufassung der Gottesdienstordnung beklagte sich im November 1526 der Königsbronner Abt beim Rat. Er bat, dass doch weiterhin eine tägliche Feier in einer gereinigten lateinischen Fassung in der Pfarrkirche und im Barfüßerkloster erlaubt bleiben möge.(41) Alber, der im Auftrag des Rats antwortete, verwahrte sich gegen den Vorwurf, alte christliche Ordnungen abgeschafft zu haben. Im Gegenteil, man habe in Reutlingen darauf hingewirkt, "damit durch das Wort Gottes rechte und alte christenliche Ordnungen und Satzungen, so lange Zeit nidergedruckt und verworfen gewesen, widerumb ufgericht" wurden.(42) Nur noch wenige Mönche, Laien und Pfaffen widerständen trotz "vilfältige[r] Ermahnung der h[eiligen] Schrift" den getroffenen Maßnahmen und verharrten in ihren "Affenspiel".(43) 

Neben der veränderten Gottesdienstordnung zählten jetzt nur noch Taufe und Abendmahl als Sakramente, wobei das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gereicht werde; ein Gotteskasten - "den Armen zu Trost und Hilf" - werde in Kürze eingerichtet.(44) Alber schloss selbstbewusst: man "haben gar kein Geprechen oder Mangel an Allem dem, so uns und unsern Schäflein zur Seligkeit Noth ist".

Zu Spannungen zwischen der Stadt und dem Königsbronner Abt kam es zudem über die Besetzung der Pfarrstelle an der St. Peterskirche. Nach dem Rücktritt Wolfs gelang es zunächst nicht, unter den der Stadt hierfür geeignet erscheinenden Priestern einen neuen Pfarrer zu bestimmen, da alle in Aussicht genommenen die Bedingung stellten, "die Ordnungen und Gebräuche der Kirche nach Ausweisung des Evangelii zu halten".(45) Der Abt musste daher Pfarrer Johannes Butzbach, der im Spätjahr 1524 auf Vorschlag der Stadt interimistisch eingesetzt worden war und offen der neuen Lehre zuneigte, 1528 für weitere zwei Jahre in seinem Amt bestätigen. Als Butzbach 1530 an der in Reutlingen grassierenden Pest starb, blieb die Stelle in Ermangelung eines geeigneten Nachfolgers zunächst unbesetzt. Der Konflikt um die Berufung eines neuen Pfarrers wurde schließlich dadurch gelöst, dass das Reutlinger Spital am 17. September 1533 die Patronatsrechte vom Königsbronner Abt erwarb. Damit war eine städtische Einrichtung künftig für die Auswahl und Besetzung sämtlicher geistlicher Stellen zuständig. Ein für die Festigung und Fortführung der Reformation entscheidendes Recht war in die Hand der Stadt gelangt; Einflussnahmen von außen waren damit weitestgehend ausgeschaltet.

Eine besondere Rolle spielte Alber im Streit um das rechte Abendmahlsverständnis. Die von dem ehemaligen Weggefährten Luthers Andreas Bodenstein genannt Karlstadt, ca. 1480 – 1541 im Herbst 1524 eröffnete Debatte - er hatte die reale Gegenwart Christi im Abendmahl bestritten -, forderte auch die anderen Reformatoren zu Stellungnahmen heraus. Zwingli legte seine Sichtweise, die Karlstadt nahe stand, in einem zunächst ungedruckten Brief an Alber vom 16. November 1524 dar. Zustimmen mochte Zwingli Karlstadt in der besonderen Bedeutung, dem der Glaube an Christus zukomme, nicht jedoch bei dessen Exegese der Einsetzungsworte: "Das ist mein Leib, der für euch gegeben ist" Lk. 22, 19 Das Wort Jesu in Johannes 6, "Das Fleisch ist nichts nütze", und ein Vergleich mit anderen Bibelstellen zeige, dass "ist" hier "bedeutet" meine und daher nicht von einer wie auch immer gearteten leiblichen Anwesenheit von Christus im Abendmahl auszugehen sei; vielmehr erinnere sich die Gemeinde anhand der Symbole Brot und Wein an das im stellvertretenden Sterben Christi geschenkte Heil. Zwingli schrieb an Alber, da es in Reutlingen eine Kontroverse um das Abendmahl gegeben hatte. Im Herbst 1524 debattierte Alber mit dem Franziskanermönch Konrad Hermann, der wohl Karlstadts Abendmahlstheologie vertrat. Alber stellte sich jedoch gegen Hermann – und Zwingli - auf die Seite Luthers: Christus ist im Abendmahl wirklich anwesend und tröstet so die Menschen.(46)

Vor eine besondere Herausforderung sah sich Alber durch die Umtriebe von Täufern gestellt. Anfang 1528 war eine Gruppe von Wiedertäufern unter der Führung des Zunftmeisters der Weingärtner Leonhard Lutz von Esslingen nach Reutlingen geflohen. Sie warteten hier auf die für 1528 bei Reutlingen vorhergesagte Wiederkunft Christi. Alber gelang es, Lutz zu überzeugen, dass seine Auffassung nicht mit dem Evangelium zu vereinen und vor allem die Kindertaufe schriftgemäß sei. Am 8. Februar erließ der Rat zum Schutz der Einwohner und wohl auch als Reaktion auf eine Forderung des Statthalters der oberösterreichischen Lande, vier flüchtigen Rottenburger Täufern die Aufnahme zu verweigern, ein Mandat, demzufolge die Täufer aus der Stadt gewiesen werden - eine milde Maßnahme angesichts der in Zürich gegen Täufer ausgesprochenen Todesurteile und der wenige Wochen später per Reichsgesetz verfügten Todesstrafe.

War das Verfahren gegen Alber wegen Zölibatsbruch 1524 noch ohne Folgen geblieben, so wurde dieses am 22. Januar 1528 wieder aufgenommen. In einer Ladung an zwölf Reutlinger Kapläne, die in der Nacht zum 15. Februar durch den Pfullinger Priester Burkhardt Sinz an die Tür der Reutlinger Stadtkirche St. Peter angeschlagen wurde, forderte das in Radolfszell ansässige bischöfliche Gericht diese auf, sich binnen neun Tagen in Radolfzell einzufinden, um sich zu verantworten. An erster Stelle war Alber aufgeführt und ihm oblag es dann auch, eine "Antwort der Zitierten" zu verfassen, in der er das Eheverbot für Priester aus der Schrift widerlegte und die Widersprüchlichkeit der kirchlichen Gesetze aufzeigte. Der dem Gericht zugestellte, von elf Personen unterzeichnete Text wurde von diesem als Eingeständnis gewertet und am 9. Mai die Exkommunikation der Priester verfügt. Alber und seine Genossen appellierten daraufhin in einer öffentlichen Urkunde vom 6. Juni an das durch den Speyrer Reichstagsabschied vom 27. August 1526 in Aussicht gestellte allgemeine Konzil und klagten insbesondere, dass der Kläger sich selbst zum Richter aufgeschwungen habe.

Dem kirchlichen Bann hatte die Achterklärung durch das weltliche Gericht zu folgen. Der bischöfliche Vikar rief deshalb das kaiserliche Hofgericht in Rottweil an und beantragte Alber in die Acht zu erklären. Trotz des Hinweises der Stadt auf ihre Privilegien gegenüber dem Bischof und einer Appellation der Stadt an das Reichskammergericht erließ das Hofgericht am 21. Januar gegen Alber die Achterklärung und die Stadt wurde zudem am 31. Januar ermahnt, den Geächteten nicht länger in ihren Mauern zu beherbergen oder Gemeinsamkeit mit ihm zu haben. Als das Reichskammergericht die Berufung am 23. Dezember 1531 abwies, erkannten die Reutlinger Anwälte die grundsätzliche Bedeutung dieses Vorgangs und riefen befreundete Städte und Fürsten zu Hilfe. Doch Verhandlungen in Rottweil konnten nicht verhindert werden. Am 20. August 1532 erließ das Hofgericht "eine Aufforderung an die Stadt Reutlingen, sich wegen widerrechtlichen Hausens, Hofens etc. des offen verschriebenen Aechters M. Alber bis zum 10. September zu verantworten, widrigenfalls Acht und Anleit über sie verhängt werden würde".(47) Allerdings hatte sich zwischenzeitlich die gesamtpolitische Situation entscheidend verändert; der Kaiser hatte bereits im Sommer 1531 die Eröffnung weiterer Prozesse gegen protestantische Reichsstände untersagt und der Nürnberger Reichstag von 1532 gar für die Zusicherung einer Türkenhilfe einen "Anstand" erlassen, der den Evangelischen auf begrenzte Zeit Duldung gewährte. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass der Prozess Albers am Hofgericht nicht weiter betrieben wurde.

5: Festigung der Reformation in Reutlingen und Tätigkeit Albers außerhalb der Reichsstadt

Matthäus Alber, Kupferstich

Fotografie nach einem Original in der Württembergischen Landesbibliothek. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2420.

Wirkte Alber bis 1530 nahezu ausschließlich in seiner Heimatstadt, so weitete sich sein Wirkungskreis ab 1534. In jenem Jahr hatte Herzog Ulrich von Württemberg mit Hilfe Philipp von Hessens 1504-1567 sein Land zurückerobert und umgehend die Reformation eingeführt. Alber, mit dem Philipp bereits 1530 geheime Kontakte aufgenommen hatte wohl um die Beziehung der Reichsstadt zu Ulrich zu klären, war zu Predigten im Feldlager der hessisch-württembergischen Truppen gebeten worden und scheint auch zur Einführung der Reformation in Urach und Nürtingen einige Monate das Evangelium gepredigt zu haben.(48)

Konnte Alber wegen der besonderen Lage Reutlingens nicht über die Grenzen der Stadt hinaus tätig sein, so hatte Reutlingen doch längst Aufsehen erregt, da die Stadt auf Reichsebene konsequent für die Reformation Partei ergriffen hatte. Bürgermeister Jos Weis ca. 1475–1542 sup id="back-262-49">(49) hatte nicht nur im Jahre 1529 die "Protestation" der evangelischen Stände gegen die Aufhebung des für die "Lutherischen" günstigen Nürnberger Abschieds von 1526, sondern auch die Schwabacher Artikel Luthers von 1529 mit unterzeichnet. Reutlingen lehnte sich eng an Kursachsen und Nürnberg an und gehörte daher mit zu den Reichständen, die im Augsburger Bekenntnis vom 24. Juni 1530 ihren Glauben Kaiser Karl gegenüber bekannten. Wie einmütig man in der Stadt hinter dieser Politik stand, zeigt eine Abstimmung unter allen Bürgern am 24. November 1530 in der nur 23 Personen den Reichstagsabschied vom 19. November akzeptieren wollten, in dem das Augsburger Bekenntnis zurückgewiesen wurde. Reutlingen trat noch vor dem 3. Februar 1531 dem Schmalkaldischen Bund, einem Schutzbündnis protestantischer Städte und Territorien bei.(50)

Im Zusammenhang der Bündnispolitik der Protestanten ist auch die einzige längere Reise Albers zu sehen. Da ein politisches Bündnis einen Konsens in theologischen Fragen voraussetzte, trafen sich führende Theologen im Mai 1536 in Wittenberg, um sich über die Abendmahlslehre zu verständigen, die ja nach dem Marburger Gespräch von 1529 trennend zwischen den oberdeutschen Theologen und den Wittenbergern stand. Einer dreiköpfigen Reutlinger Delegation gehörte auch Alber an; tatsächlich kam es nach wechselvollem Diskussionsverlauf zu einer Verständigung. Alber wurde die Ehre zuteil, am 28. Mai vor Luther und den versammelten Theologen in einer Frühmette über die Taufe zu predigen; mittags legte dann der Straßburger Martin Bucer 1491-1551 und am Abend Luther selbst einen Bibeltext aus. Die Versammlung schloss einen Tag später mit der feierlichen Unterzeichnung der Wittenberger Konkordie. Die Option Albers und damit auch Reutlingens für die lutherische Spielart der Reformation setzte sich damit fast in ganz Süddeutschland durch.

Zurückzukommen ist nun wieder auf den Gang der Ereignisse in Reutlingen. Dort war es in der Osterzeit 1531 zu einem Bildersturm gekommen: ein Kruzifixus wurde aus der Marienkirche entfernt, Tabernakel beseitigt, Altäre abgebrochen und Bilder zerstört, die St. Leonhardskapelle wurde abgebrochen und drei Glocken von Kirchtürmen auf Stadttore umgehängt. Dass diese Maßnahmen gegen Albers Willen durchgeführt wurden, zeigt seine Haltung auf dem sogenannten "Götzentag" zu Urach 1537. Herzog Ulrich hatte führende süddeutsche Theologen zusammengerufen, um über den Umgang mit Bildern zu beraten. Alber äußerte sich moderat; seiner Ansicht nach sollten nur die Bilder sofort entfernt werden, die zur Abgötterei aufgerichtet waren. Man solle um der Schwachen willen keine Eile an den Tag legen. Da ein anderer Reutlinger Theologe, Johannes Schradin gest. 1560 in Urach für die sofortige Entfernung aller Bilder votierte, wird deutlich, dass die Aktion von 1531 auch auf theologische Differenzen unter den Reutlinger Theologen verweist. Bei aller Einigkeit gab es also in Einzelfragen nicht mehr genau nachzuvollziehende Differenzen.

Nachdem die Prediger süddeutscher Städte – unter ihnen auch Alber - vom 26. bis 28. Februar 1531 in Memmingen die vom Schmalkaldischen Bund angestrebte Vereinheitlichung der Kirchenbräuche beraten hatten, bat der Rat Bucer um die Ausarbeitung einer Kirchenordnung. Weil Bucer der Bitte nicht nachkam, erarbeiteten die städtischen Prädikanten selbst eine Ordnung. An er Spitze der Kirche stand ein jährlich zu wählender Kirchenrat, dem drei Ratsmitglieder, drei Prädikanten und sechs Personen aus der Gemeinde angehörten. Damit war in Reutlingen nicht der Rat selbst die oberste kirchenleitende Institution, sondern ein synodales Gremium, dessen Aufgabe es war, "stellvertretend für die ganze Gemeinde" die "Einhaltung der Kirchenordnung" ebenso zu überwachen wie "anfallende Ehehändel".(51) Vordringlichste Aufgabe sei, die Gemeinde mit geschickten und treuen Pfarrern zu versorgen, die allein das Gottes Wort lehrten und die Sakramente mit Ernst darreichten(52); zudem müssten gute Schulmeister bestellt und Diakone eingesetzt werden, die sich um die Armen kümmerten. Jeder Prediger sollte so besoldet werden, dass er keinem weltlichen Geschäft nachgehen müsse. In zwei weiteren Abschnitten wurden die Tauf- und Abendmahlspraxis dargelegt; im Blick auf das Abendmahl war verfügt, dass man sich zur Kommunion anzumelden habe. Endlich war bestimmt, dass jede Kirche jährlich von einer Kommission des Kirchenrates zu visitieren sei. Ein offenkundiger Sünder solle nach zwei oder drei Ermahnungen mit dem Bann belegt werden, wobei vor allem darauf zu achten sei, ihn "zur Buße und Umkehr" zu bringen.(53) Eine dynamische Komponente enthielt der Schlussabschnitt der Kirchenordnung, wenn ausdrücklich festgehalten war, dass diese "nicht unzerstörbar sein und ewigen Bestand haben solle vielmehr müsse sie auf Besserung und Erbauung der Kirche ausgerichtet sein".(54)

Deutlich ist, dass die Kirchenordnung neben dem Bestreben, gut ausgebildete und in der Lehre gefestigte Kirchendiener zu erhalten auch Gewicht auf die sittliche Überwachung der Bevölkerung legte. Die Norm der Schrift sollte in Kirche und Gemeinde dominieren, an ihr war kirchliches und privates Leben auszurichten. Auch wenn einzelne Elemente dieser Kirchenordnung an die 1528 in Zürich erlassene erinnern, so ist doch die dort charakteristische Verbindung von Rat, Pfarrkonvent und Kirchensenat in Reutlingen nicht durchgeführt. Es bleibt unklar, wer die Mitglieder des Kirchensenats überhaupt wählt und wie es mit der Zuordnung dieses Gremiums zum Rat der Stadt und dem Pfarrkonvent bestellt war. Obgleich dem Kirchensenat scheinbar alle Machtbefugnisse zukamen, war doch die Einwirkungsmöglichkeit des Rats nicht nur auf die drei Personen im Kirchensenat beschränkt, sondern ihm kam durch die in seiner Hand liegende Verwaltung des Kirchenguts eine entscheidende Beteiligung am Kirchenregiment zu.

Der Prozess der reformatorischen Wandlung wurde in der Reichsstadt Reutlingen mit der Auflösung des Franziskanerkonvents am 4. Mai 1535, der Aufhebung des Beginenhauses im selben Jahr und dem Abbruch der alten Pfarrkirche St. Peter und des Barfüßerklosters 1538 vollendet. Damit waren die letzten altgläubigen Wurzeln in der Stadt beseitigt und die von Alber 17 Jahre zuvor in Gang gesetzte Entwicklung zu einem Abschluss gekommen. Rein äußerlich war die Marienkirche zum Zentrum der Kirchengemeinde geworden, die bischöfliche Jurisdiktion war beseitigt und nicht mehr der ferne Königsbronner Abt bestimmte die Geschicke der Reutlinger Kirche, sondern ein mehrheitlich mit Bürgern der Stadt besetzter Kirchensenat; Bilder, die Messe und Jahrtage waren abgeschafft und der Gottesdienst auf Gebet, Gesang und Predigt des Evangeliums zugespitzt. Reichspolitisch hatten sich zwei konfessionelle Blöcke ausgebildet und Reutlingen gehörte fest zum Schmalkaldischen Bund, in dem sich die meisten protestantischen Reichsstände zusammengefunden hatten.

Doch diese Entwicklung wollte Kaiser Karl nicht hinnehmen. Als deutlich wurde, dass vermittelnde Lehrgespräche die Gräben zwischen den Konfessionen nicht mehr zu schließen vermochten, entschloss er sich zu kriegerischen Maßnahmen. Es gelang ihm in kurzer Zeit, die Protestanten entscheidend zu besiegen. Reutlingen stand auf der Seite der Verlierer und musste nicht nur 20.000 Gulden Strafgeld entrichten und spanische Einquartierung erdulden, sondern sah sich auch vor die Frage gestellt, ob man das vom Kaiser vorgelegte "Interim" annehmen wollte(55), das die Protestanten in der Zeit bis zum Wiederzusammentritt eines Konzils weitgehend in die katholische Kirche zurückführen sollte.(56) Nach Beratungen am 3. Juni suchte der Rat aufgrund eines ausführlichen, ablehnenden Gutachtens der Prädikanten zunächst beim Kaiser einen Aufschub zu erlangen. Doch man erhielt den Bescheid, die Stadt müsse sich binnen fünf Tagen entscheiden. Darauf votierte der Rat am 13. Juni trotz erneuter Widerrede Albers für die Annahme des Interims. Am folgenden Tag beugte sich die in der Weingärtnerkelter zusammengerufene Bevölkerung bei nur 92 Gegenstimmen der kaiserlichen Macht und nahm das Interim an. Als daraufhin Mönche aus Zwiefalten am 19. August in der Marienkirche wieder die erste Messe lasen, bat Alber den Rat der Stadt bei Belassung im Reutlinger Bürgerrecht um "Urlaub" und trat wenig später in die Dienste Württembergs, das Alber schon zweimal zu gewinnen gesucht hatte: 1537 war ein erstes Angebot ergangen und 1543 sollte der Reutlinger Reformator, der als Zeichen der Hochschätzung am 8. Dezember 1539 von der Universität Tübingen zum Dr. theol. promoviert worden war, auf einen theologischen Lehrstuhl an die Landesuniversität berufen werden.

6: Alber in württembergischen Diensten

Epitaph von Matthäus Alber in Blaubeuren (Ausschnitt). Original in der Stadtkirche Blaubeuren.

Foto: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2472.

Wo Alber zwischen August 1548 und Juli des darauffolgenden Jahres wirkte bleibt unsicher; einem Schreiben des Herzogs ist zu entnehmen, dass er wohl in Waldenburg und zuvor in Pfullingen als Prediger tätig war. Im Juli 1549 zog er mit seiner Familie nach Stuttgart, wo er zum Prediger an der Stiftskirche ernannt wurde. Zwar forderte der Kaiser am 10. Dezember 1549 die Entlassung Albers, doch Herzog Ulrich wusste seinen zwischenzeitlich zum Mitglied der Kirchenleitung ernannten Prediger zu halten. Auch unter dem seit dem 6. November 1550 regierende Herzog Christoph 1515/1550-1568 änderte sich an der Stellung Albers nichts.(57) Als Kirchenrat war Alber unter anderem für die Prüfungen der künftigen Theologen zuständig, hatte die über die Generalsuperintendenten eingehenden Visitationsprotokolle auszuwerten und besonders auf die Bekämpfung von Irrlehrern und Sektierern zu achten sowie die Lehre und den Lebenswandel der Pfarrer und Schulmeister zu überwachen. Einige spezielle Aufgaben, die Alber übertragen wurden, sind erhebbar: 1551 hatte er Wiedertäufer in Rommelshausen zu belehren, er war Mitglied jener Delegation, die gemeinsam mit Straßburger Theologen ebenfalls 1551 in Dornstetten über ein Bekenntnis berieten, das dem in Trient tagenden Konzil vorgelegt werden sollte. 1557 weilte Alber beim Religionsgespräch in Worms, das für die Protestanten zu einem Debakel wurde, da die streng lutherisch herzoglich-sächsischen Theologen um Matthias Flacius 1520-1575 abreisten und damit die Streitigkeiten im protestantischen Lager beispielsweise über die Notwendigkeit guter Werke oder das Abendmahl offenkundig machten.

Ein Zeugnis aus Albers Stuttgarter Zeit sind die von ihm und Wilhelm Bidenbach 1538-1571 gehaltenen Predigten gegen die übereilte Verurteilung von Hexen. In Süddeutschland waren am 3. August 1562 schwere Hagelstürme niedergegangen und hatten große Schäden verursacht. Allenthalben wurden diese Unwetter auf das Wirken von Hexen zurückgeführt. Dagegen stellten Alber und Biedenbach heraus, daß alle "für gewiß halten vnd festiglich glauben sollen / Das allein der ewig Allmechtig GOtt / als die erst / höchst / vnnd öberst vrsach / alles glücks vnd vnglücks / alles Segens vnd Flu(o)chs / vnnd in summa / alles gu(o)tten vnd bösenes ... anfenger vnd vhrheber seye / wie vns dessen die heilig Schrifft / vil klare vnd vnwidersprechliche zeugnuß gibt".(58) Der zentrale Ausgangspunkt der beiden Hofprediger war demnach - wie bei Brenz - die Aussage von der Allmacht Gottes.(59) Wenn nämlich Gott alles wirke, dann muß er auch Urheber des Wetters sein, wie z.B. Psalm 18 belege; wer dies nicht glauben wolle, "der glaubt nicht an den Allmechtigen / sonder an ein Halbmechtigen Gott".(60) Vor allem warnten sie die Regierenden davor "auff die peinliche fragen vnd folterungen zu gehen / darauß offt falsche gefährliche vermu(o)ttungen vnd Vrtheil erfolgen"; vor allem Frauen, die "von Natur so weich" seien, machten unter der Folter oft falsche Aussagen. Es gelte nach dem Grundsatz zu verfahren, es sei "allweg besser tausent Schuldiger loß gelassen zu haben / dann einen Vnschuldigen zu verurtheilen / vnd tödten".(61) Wie bei Jeremia die Zerstreuung des Volkes Israel als Strafe für seine Sünden herausgestellt werde(62), so sei auch dieses Unwetter vom 3. August auf die Sünden der Menschen zurückzuführen. Die Stiftsprediger mahnten daher, "jeder möge in sein eigen Bu(o)sen" sehen.(63) Zum Schluss ihrer Ausführungen knüpften sie an die zu Anfang herausgestellte Betonung der Allmacht Gottes an und gaben zu bedenken: "Kommt denn nach gethaner rechtschaffnen Christlichen Bu(o)ß / nichts destweniger / Hagel vnd ander vnglück über vns ... so sein wir nur dest seliger / als dardurch Gott vnsern Glauben probiern / ... / will".(64)

Alber, der vom Bibeltext ausgehend den Hexenwahn kritisch beleuchtete und die Allmacht Gottes herausstellte, war in dieser Frage mit Brenz einig, doch im Hinblick auf die von Brenz entwickelte Ubiquitätslehre wurde eine Differenz zwischen den beiden wichtigsten Theologen des Landes offenkundig. Brenz suchte durch diese Lehre die anhaltenden Streitigkeiten darüber, wie die Anwesenheit Christi im Abendmahl zu denken sei, zu lösen. Er stellte heraus, dass die menschliche Natur Christi auch an allen Werken der göttlichen teilhabe. Deshalb seien im Abendmahl göttliche und menschliche Natur Christi gegenwärtig. Alber jedoch, der streng vom Wortgeschehen ausging, konnte diese "ihm fremde christologische Spekulation" nicht nachvollziehen.(65) Da er zusicherte, seine abweichende Meinung nicht nach außen zu tragen, wurde ihm die Unterschrift unter das Stuttgarter Abendmahlsbekenntnis von 1559 nicht abverlangt. Im Übrigen verband Brenz und Alber eine freundschaftliche Beziehung und ersterer wusste es zu schätzen, dass Alber die "Kirchengeschäfte" in Stuttgart zuverlässig in Gang hielt, wenn er im Auftrag des Herzogs eine seiner zahlreichen Reisen unternehmen musste.

Nur an wenigen Stellen gewinnen wir Einblick in die persönliche Befindlichkeit Albers. 1553 wird berichtet, dass er wegen gesundheitlicher Probleme in Wildbad zur Kur weilte; 1558 konnte der 63jährige aufgrund einer Krankheit nicht nach Reutlingen – das ihn übrigens zweimal versucht hatte, wieder zur Rückkehr zu bewegen - reisen, um ein Erbe in Empfang zu nehmen. Die letzten Lebensjahre Albers waren durch persönliche Schicksalsschläge geprägt: Zwei seiner Söhne verloren kurz hintereinander ihre Ehefrauen und zwei der Töchter ihre Ehemänner.

Angesichts des fortschreitenden Alters verstand sich Herzog Christoph zu einer noblen Geste: Alber wurde am 23. April 1563 zum Nachfolger des letzten altgläubigen Abts von Blaubeuren gewählt und stand nun der 1556 eingerichteten Klosterschule vor. Mit dieser Funktion war Alber zugleich Prälat und damit Mitglied des Landtages.(66) In der schnell wachsenden Klosterschule wirkte er als Lehrer und Erzieher und hielt Vorlesungen beispielsweise über die Proverbien, den Psalter oder Paulusbriefe; zudem war Alber für die Verwaltung des Klosterguts und für die Einsetzung von Pfarrern und deren Visitation in vier zum Klosterbereich gehörenden Dörfern verantwortlich. In der Klosterkirche und in der Stadtkirche predigte der über 70jährige weiterhin regelmäßig. Erwähnt sei, dass Alber die Erhaltung des kostbaren Hochaltars der Klosterkirche zugerechnet wird, da dieses Juwel aus der Ulmer Schule trotz einer herzoglichen Verfügung, alle Bilder und Altäre zu entfernen, nicht zerstört wurde.

Als dem inzwischen weißhaarigen Prälaten die Nachricht vom Tod Brenz‘ überbracht wurde, war er tief bewegt. Er sprach davon, dass er an seinem 75. Geburtstag, den 4. Dezember 1570, unter die Erde kommen werde. Und in der Tat: am 1. Dezember, verschied Alber und wurde am 3. Dezember in der Stadtkirche Blaubeuren bestattet. Auf dem in der Stadtkirche hängenden Epitaph Albers heißt es:

"Ihn erzeugte die milde Natur zu gefälligem Wesen;

Sanfteren Geist gab sie keinem, auch offener’n nicht.

Standhaft lehrt er, der Erst‘, umringt von tausend Gefahren,

Reutlingens Bürgerschaft, Gott und Erlöser, dein Wort.

Deinen Namen bekannt‘ er und dein Verdienst und den Glauben;

Schmeichelnde Red‘ und Geschenk, Drohungen achtet er nicht.

Darum berief ihn als Hirten das rebenumgürtete Stuttgart,

Seinen Großen den Mann beizugesellen bemüht; ...

Bis er am Ende der Amtszeit Blaubeurens Kloster betreten

Und hier, selbst ein Greis, Jüngling‘ und Greise gelehrt".(67) 

7: Resümee

Im Studium vom Humanismus geprägt, wurde Alber durch die Begegnung mit Luthers Frühschriften schon um 1521 für die Reformation gewonnen. Als Prädikant in seiner Heimatstadt Reutlingen wirkte er vor allem durch seine Predigten: er stand zwischen 1521 und 1548 wohl wöchentlich auf der Kanzel! Trotz der ablehnenden Haltung des Konstanzer Bischofs und mehrfacher Intervention politischer Mächte gelang es ihm - vom Rat der Stadt gefördert und gedeckt - in kurzer Zeit nicht nur den Großteil der Bevölkerung, sondern auch zahlreiche Geistliche zu gewinnen und das städtische Kirchenwesen im Sinne Luthers umzugestalten. Zunächst feierte Alber 1524 die Messe in deutscher Sprache und reichte das Abendmahl unter beiderlei Gestalt; ein Jahr später wurde dann eine auf den oberdeutschen Prädikantengottesdienst zurückgehende, von Lied, Psalm und Predigt geprägte neue Liturgie eingeführt. In einer zweiten Phase galt es, das zarte Pflänzchen der Reformation gegen die Bedrohungen von innen, durch Bauern und Täufer zu verteidigen und klare Grenzen zu ziehen. Erst in einem dritten Schritt wurde wohl 1531 eine neue Kirchenordnung ausgearbeitet, wurden – gegen den Willen Albers – die Bilder abgeschafft und die letzten Elemente der alten Religion – Klöster und Patronatsrecht - beseitigt. In diesem Prozess wird Alber zwar als treibende Kraft greifbar, doch er fügte sich ganz in das Kollegium der Reutlinger Geistlichen ein, was schon daran zu erkennen ist, dass er sich in der Kirchenordnung keine herausragende Stellung sicherte und von ihm wenig gedruckte Schriften vorliegen.

Im Gegensatz zu zahlreichen oberdeutschen Theologen wurde Alber nicht durch Zwingli geprägt, sondern seine Theologie empfing ihre grundlegenden Impulse durch Martin Luther. Entscheidend waren für Alber die drei Exklusivaussagen: allein die Heilige Schrift, allein der Glaube, allein Jesus Christus. Er setzte auf die Kraft des Wortes Gottes und wie die Hagelpredigten belegen, spielte in seinem theologischen Denken die Allwirksamkeit Gottes eine herausgehobene Rolle. Die eigenständige Rezeption der Theologie Luthers führte auch dazu, dass er im Abendmahlsstreit Distanz zu Zwingli aber eben auch zu Brenz hielt.

Wie sein Briefwechsel mit Zwingli, Luther, Melanchthon, Bucer und Blarer belegt, war Albers Ansehen unter den Reformatoren groß; dennoch weitete sich aufgrund der politischen Konstellationen sein Wirkungskreis erst mit der Einführung der Reformation in Württemberg. Der Eintritt in württembergische Dienste brachte 1548 nochmals neue Herausforderungen. Alber erwies sich auch der Aufgabe als Stiftsprediger, Mitglied der Kirchenleitung und ab 1563 als Prälat und Klostervorsteher gewachsen; allerdings bedarf sein Einfluss auf die zweite Phase der Reformation in Württemberg noch näherer Untersuchung. 

Aktualisiert am: 19.03.2018