Dittus, Gottliebin

Von: Ising, Dieter

Gottliebin Dittus (1815-1872)

Gottliebin Dittus verh. Brodersen (1815-1872)

LKAS, D 50 (Blumhardt-Archiv), Bildmappe Gottliebin Dittus

Will man verstehen, was vor über 150 Jahren in Möttlingen, einem Dorf am Rande des Schwarzwaldes oberhalb von Calw, geschehen ist, empfiehlt sich zuallererst ein Blick in die Berichte eines Augenzeugen, der, in die Ereignisse wider seinen Willen hineingezogen, eine maßgebliche Rolle im Verlauf der Krankheit und schließlichen Glaubensheilung der Gottliebin Dittus (1815–1872) gespielt hat. Die Rede ist von Johann Christoph Blumhardt (1805–1880), seit 1838 in Möttlingen auf seiner ersten Pfarrstelle, später Seelsorger in Bad Boll. Man sollte seine Schilderung, die Krankheitsgeschichte der G. D. in Möttlingen, (1) auf sich wirken lassen, bevor man zu den Berichten und Deutungen anderer übergeht. Letztere, verfasst von Theologen, Medizinern, Psychotherapeuten, manchmal auch von Menschen, die sich nicht zu den „Fachleuten“ rechnen und einfach nur – positiv oder negativ – von den Möttlinger Ereignissen berührt sind, bewegen sich in dem weiten Spektrum zwischen unkritischem Nacherzählen und rationalistischer Ablehnung des Blumhardtschen Berichts. Diese Stimmen aus dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart können helfen zu ergründen, was es denn nun mit der Krankheit und Heilung der Gottliebin Dittus auf sich hat. Andererseits kann eine Prüfung der Ereignisse anhand der historischen Quellen, die den Erkenntnishorizont offenhält und sich nicht auf Vorentscheidungen festlegen lässt, Aufschluss darüber geben, was es mit den Urteilen des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart auf sich hat.

Lassen wir also Blumhardt erzählen. Im April 1842 erfährt er von seltsamen Vorkommnissen in der Wohnung der besagten Gottliebin. Diese, eine junge Frau von 26 Jahren, lebt mit drei Geschwistern zusammen in einem engen Logis, dem Untergeschoss des heutigen Gottliebin-Dittus-Hauses in Möttlingen, das seit 1988 eine Ausstellung beherbergt.(2) Es herrscht drückende Armut und Traurigkeit; Vater, Mutter und mehrere Geschwister sind kurz zuvor, innerhalb weniger Jahre, gestorben. In den Jahren 1841 und 1842 werden die Bewohner von unerklärlichen Poltergeräuschen erschreckt. Eine durchsichtige Gestalt, nur von Gottliebin wahrgenommen, bittet um im Haus versteckte Papiere, die auch gefunden und als Utensilien zum Ausüben von Zauberei gedeutet werden.(3)

Ohnmachten und Krämpfe, an denen die junge Frau zu leiden hat, können vom behandelnden Arzt nicht gedeutet werden; auch Blumhardt weiß sich angesichts der bewusstlos daliegenden Frau nicht zu helfen. An einem Sonntagabend im Juni 1842 sieht er schweigend ihren heftigen Konvulsionen zu, die den ganzen Körper ergriffen haben; Schaum fließt aus dem Mund. Da überkommt es ihn; er ergreift ihre Hände, legt sie zum Beten zusammen und ruft: „Wir haben lange genug gesehen, was der Teufel tut; nun wollen wir auch sehen, was Jesus vermag.“ Das Erstaunliche geschieht: Die Kranke erwacht, spricht die betenden Worte nach; die Krämpfe hören auf.(4)

Damit sind die Weichen für Blumhardts künftiges Handeln gestellt. Für ihn handelt es sich von nun an um keine natürliche Krankheit, sondern um Angriffe des Satans; Heilmittel kann nur das Gebet sein. Blumhardt fühlt sich als Seelsorger gefordert, nicht als Rezitator exorzistischer Formeln, die Gottliebin Dittus zum Objekt degradieren würden. Er besucht sie häufig, betet mit ihr, fordert sie auch selbst zum Gebet auf und ermutigt sie zu Geduld und Glauben an den, der nach 1 Joh 3,8 gekommen ist, um die Werke des Teufels zu zerstören.

Die Ereignisse werden immer dramatischer. Der angebliche Geist, nach Gottliebins Aussage mit der früheren Erscheinung identisch, beginnt aus ihr zu reden. Nach Blumhardts Handauflegung und Gebet fährt der Geist aus und bekennt, er finde keine Ruhe; als Strafe für im Leben begangene Sünden sei er vom Satan gebunden. Die Anwesenden, außer Blumhardt noch wenige Vertraute, konstatieren in den nächsten Tagen ein „Ausfahren“ weiterer Geister, indem sie würgende Bewegungen der Kranken auf diese Weise deuten. Nun klagt sie über Brustblutungen, die ihr von Vampiren beigebracht würden; sie hat starke Schmerzen, Brandwunden; es kommt zu Selbstmordversuchen. In all dem begleitet sie Blumhardt als treuer Seelsorger. Allmählich erscheint ihm ihr Krankenlager als Schauplatz einer zentralen Auseinandersetzung zwischen dem Reich der Finsternis und der Macht des auferstandenen Christus. Die Pflicht, hier nicht klein beizugeben, sondern im Vertrauen auf göttliche Hilfe auszuharren, wird ihm von Woche zu Woche deutlicher.(5)

Blumhardts und Gottliebins Glaube wird auf eine harte Probe gestellt. Wenn es scheint, als hätte die Geschichte ihr Ende erreicht, kommt es wieder zu Rückfällen, auch zu völlig neuen Erscheinungen. Am 8. Februar 1843 sieht die junge Frau im Geiste ein schreckliches Erdbeben in Westindien, was kurz darauf durch Zeitungsberichte bestätigt wird.(6) Einen Monat darauf erbricht sie ein Messer, Nadeln und ein 3 Zoll breites Stück Eisen, alles nach Blumhardts Überzeugung in sie „hineingezaubert“. Aus ihrem Kiefer, der Herzgrube und aus dem Oberleib treten Nägel, Scherben, Knochen, Eisen, Fensterblei, verbogene Drahtstücke und anderes hervor. Wie immer sind auch hier Augenzeugen anwesend. Blumhardts Frau hilft beim Herausziehen der Gegenstände, die von Blumhardt anfangs aufbewahrt und später vernichtet werden.(7)

 

Dittus-Haus, Möttlingen

Fotograf: Werner Mast, Möttlingen

An Weihnachten 1843 treiben die Ereignisse ihrem Höhepunkt entgegen. Diesmal ist nicht Gottliebin Dittus betroffen, sondern die „Besessenheit“ überträgt sich auf ihren Bruder Hansjörg und die Schwester Katharina. Aus dieser lässt sich nach Blumhardts Schilderung ein „Dämon“ vernehmen, „der sich diesmal nicht als einen abgeschiedenen Menschengeist, sondern als einen vornehmen Satansengel ausgab, als das oberste Haupt aller Zauberei, dem vom Satan die Macht dazu erteilt worden sei und durch den dieses Höllenwerk nach den verschiedensten Seiten hin zur Förderung des satanischen Reichs sich verzweigt hätte, mit dem aber nun, da er in den Abgrund fahren müsse, der Zauberei der Todesstoß gegeben werde, an dem sie allmählich verbluten müsse.“ Aus Katharina dröhnt ein Schrei der Verzweiflung; dann brüllt es aus ihr heraus: „Jesus ist Sieger! Jesus ist Sieger!“ – ein Ruf, der im Dorf weithin vernommen wird. Ist es bisher gelungen, die Geschichte weitgehend vertraulich zu behandeln, tritt nun ihr siegreicher Abschluss an die Öffentlichkeit. Der Dämon verschwindet und kommt nicht wieder. „Das war der Zeitpunkt, da der zweijährige Kampf zu Ende ging.“(8)

Für Blumhardt steht die Realität der erscheinenden Geistergestalt und der Geisterstimmen nie in Frage. Selbstverständlich folgt er Gottliebins Hinweis, hier träten verstorbene, vom Teufel gebundene Personen auf. Wenn sich etwas aus ihr gegen Blumhardt richtet, sie mit drohenden Gebärden auf den betenden Seelsorger losfährt, mit fremder Stimme spricht, wenn würgende Bewegungen auftreten, konstatiert er, nicht sie selber sei die handelnde Person. Auch die aus ihr hervortretenden Gegenstände sind, so Blumhardt, in diese hineingezaubert worden. Hier wirkt sich seine Vorprägung aus, das Aufwachsen im biblischen Realismus der Stuttgarter Gemeinschaftsbewegung, die enge Verbindung mit Gottlieb Wilhelm Hoffmann, dem Gründer von Korntal, die Tübinger Vorlesungen bei Adam Karl August Eschenmayer, die Bekanntschaft mit Justinus Kerner, eine von Blumhardt miterlebte Geisteraustreibung in Basel. Überall wird an der Existenz einer Geisterwelt(9) festgehalten; man widersetzt sich der Bestreitung durch die Aufklärungstheologie.

Wie können wir heute das Geschehen um Gottliebin Dittus verstehen? Wohl nicht als Bestätigung der spiritistischen Hypothese, die Geister Verstorbener könnten herbeigerufen und befragt werden. Dagegen kann die These von Medizinern und Psychotherapeuten, das, was sich zwischen Blumhardt und Gottliebin abgespielt habe, sei in den Kategorien heutiger Psychotherapie zu verstehen, einiges Rätselhafte plausibel machen. Hier ist man sich weitgehend einig, dass Geisterstimmen und entsprechende Bewegungen von Gottliebin selbst produziert wurden, allerdings in einem tranceähnlichen Zustand. Es handle sich um eine hysterische Symptomatik, begründet im unbewussten Streben nach Zuwendung und Beachtetwerden. Blumhardt sei bereitwillig auf dieses Schauspiel eingegangen, ohne dessen wahre Bedeutung zu erkennen; dies habe die Symptome zeitweise verstärkt. Allerdings wird ihm bescheinigt, durch unerschütterliches Ausharren bei seiner „Patientin“ und das Aufzeigen einer befreienden Perspektive sich – wenn auch in den Vorstellungen seiner Zeit verhaftet – als Vorläufer der Psychotherapie erwiesen zu haben.

Nachdenkliche Vertreter dieser Auffassung machen zugleich auf deren Grenzen aufmerksam. So gibt der Psychiater Walter Schulte(10) zu bedenken, dass sich ein Teil der Erscheinungen auf diese Weise nicht erklären lässt. Die aus der Haut der Kranken hervortretenden Gegenstände können nicht von ihr selbst hineinpraktiziert worden sein, um damit Aufmerksamkeit zu erregen; hier geht die Interpretation als Hysterie ins Leere. Blumhardt betont, dass beim Austreten keine Wunde entstanden und auch zuvor keine Wunde sichtbar gewesen sei. Am Wahrheitsgehalt des Berichteten mag man zweifeln, jedoch vermittelt die Lektüre der Schriften und Briefe Blumhardts den Eindruck eines Menschen, der die Wahrheit sagen will. So kommt auch Schulte zu dem Schluss, man sei hier an der Grenze der medizinischen Deutbarkeit angelangt. Wolle man das Geschehen mit Hilfe von Massensuggestion, Selbsttäuschung, Schwindel und Zauberkunststücken vollständig erklären, würde man „einen bitteren Geschmack auf der Zunge nicht los“. So führen neue Erkenntnisse nur teilweise zur Erhellung der Möttlinger Ereignisse. Gegenüber unseren Verstehensmöglichkeiten erweist sich das Geschehen als überschüssig.

Was haben uns Krankheit und Heilung der Gottliebin Dittus heute noch zu sagen? Ein skurriler Nachhall mittelalterlicher Teufelsaustreibung, durch neue Erkenntnisse weitgehend entzaubert und für uns nicht mehr von Belang? Man betrachte die leidende Gottliebin, die, von Krämpfen geschüttelt, von Blutverlusten geschwächt und von Selbstmordgedanken bedroht auf ihrem Lager liegt. Hilfe erfährt sie nicht durch Aufklärung über seelische Hintergründe ihres Leidens, sondern durch einen Seelsorger, der sie und sich selbst vor das Angesicht Gottes stellt. Damit wird – jenseits von Dämonengläubigkeit, aber auch jenseits einer rein verstandesmäßigen Deutung – die Aktualität dieses Krankenlagers deutlich. Die kranke Frau erfährt die Treue Blumhardts, sein Ausharren bei ihr und sein Anhalten im Gebet. Darüber hinaus erfahren beide die Treue Gottes, der ihren Gebeten antwortet. Es verschwinden ja nicht nur einige psychopathologische Erscheinungen wie das Hervorbringen der angeblichen Geisterstimmen – das hätte eine übliche Psychotherapie auch bewirkt. Gottliebin wird heil im ganzheitlichen Sinne: körperlich (auch wenn später wieder ernste Erkrankungen auftreten), seelisch und geistlich. Sie wird in der Tiefe ihres Seins angerührt und verwandelt in einer Weise, die auf andere ausstrahlt. Sie ist jetzt nicht mehr das arme Ding, das ihr Bedürfnis nach Zuneigung und vielleicht auch gesellschaftlicher Geltung hinausschreit; sie hat nun einen tragenden Grund, der, wenn auch an Blumhardts Nähe gekoppelt, doch über ihn weit hinausgeht. Dass Blumhardt sie später, wie unten zu zeigen sein wird, als Mitarbeiterin in sein Haus aufnimmt, darin hat man bisweilen den eigentlichen Grund ihrer Heilung gesehen. Die neue Rolle mag das Geborgenheits- und Geltungsbedürfnis der intelligenten, aber armen Frau zufriedengestellt und zur Genesung beigetragen haben. Dass ihr Neuwerden jedoch darin nicht aufgeht, sondern tiefer gegründet ist, wird beim Betrachten des weiteren Lebensweges sichtbar.

Zuvor noch ein Blick auf Blumhardt. Auch er ist im Lauf der Ereignisse verwandelt worden. Hat er sich bislang trotz allen Engagements für die Gemeinde im Alltagsgeschäft aufgerieben, so macht ihn nun die Erfahrung, mit dem Bösen gleichsam „handgemein“ geworden zu sein, das letztlich doch dem heilmachenden Gott weichen musste, zu einem Zeugen der göttlichen Macht. Sein Wort wird jetzt gehört, anders als vorher. Erst kommen einzelne Gemeindeglieder zu ihm, legen auf eigenen Wunsch die Beichte ab und erbitten die förmliche Absolution. Dann wird er in seinem Amtszimmer gleichsam überlaufen von Beichtwilligen, die mitunter bitterlich weinen, was auch „die härtesten Männer nicht unterlassen können“.(11) Dennoch macht die Erweckung, die in kurzer Zeit die ganze Gemeinde ergreift, keinen überspannten Eindruck, eher den eines großen Aufatmens. Die Menschen kommen aus bisherigen Verbohrtheiten und Sackgassen heraus, können sich in rückhaltlosem Vertrauen Gott an den Hals werfen und neu anfangen zu leben. Blumhardt kann dieser Gemeinde ein würdiger Seelsorger sein, die Menschen auf ihren ersten Schritten in ein neues Leben begleiten, die Bewegung in nüchternen Bahnen halten, den Möttlingern und den immer zahlreicher werdenden Auswärtigen eindrücklich predigen. Überrascht stellt er nach einiger Zeit fest, dass seine Berührung manchmal zur Heilung seelischer und körperlicher Krankheiten führt. Am Krankenbett der Gottliebin Dittus hat er nicht nur etwas gelernt, was ihn menschlich und beruflich weiterbringt; etwas Objektives hat sich ihm mitgeteilt, das auf andere ausstrahlt.

In der Stuttgarter Gemeinschaftsbewegung, in Korntal und Basel ist Blumhardt die Naherwartung des ersten Tausendjährigen Reiches und der Wiederkunft Christi begegnet; zuvor rechnet man mit Bedrängnissen durch den Antichristen. Diese nach vorn gerichtete, ängstliche und letztlich doch freudige Erwartung gründet sich auf Johann Albrecht Bengels Auslegung der Offenbarung Johannis. Blumhardt sieht auch die Möttlinger Ereignisse in diesem Horizont. Den Kampf mit dem Bösen, Gottliebins Heilung, die Erweckung der Gemeinde und die Heilungen versteht er, so beeindruckend sie sind, nur als Vorspiel einer bald eintretenden weltweiten Ausgießung des Heiligen Geistes. Gott, der will, dass alle Menschen und nicht nur ein paar „Fromme“ gerettet werden, wird auf der ganzen Welt eine Bußbewegung – ein, wie Blumhardt sagt, „Rennen und Jagen zum Reiche Gottes“ – erwecken als Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi, die ein Friedensreich einleiten, aber auch ein Gericht sein wird. Christen haben nicht mit den Händen im Schoß diese Entwicklung zu verfolgen, sondern für das Kommen von Gottes Reich zu beten und sich und andere darauf vorzubereiten. Hierin sieht Blumhardt von jetzt an seine Hauptaufgabe. Die Heilung der Gottliebin Dittus und erst recht die Erweckung haben ihn zum Theologen der Hoffnung gemacht.

Auf diesem Weg begleitet ihn neben anderen auch Gottliebin, nicht als Mitläuferin, sondern als Mitbeterin und gern gehörte Beraterin. 1844 überträgt ihr Blumhardt die Leitung der neugegründeten Möttlinger Kleinkinderschule, da er keine geeignetere Person als sie weiß. Bei all dem bleibt sie ein Mensch von zerbrechlicher Gesundheit. So kommt sie, wie Blumhardt dem befreundeten Christian Gottlob Barth am 9. August 1845 mitteilt, durch „eine Art Wassersucht“ und Erbrechen von geronnenem Blut in Lebensgefahr. Bereits vom Tod gezeichnet liegt sie da und hat alle Hoffnung aufgegeben, als Blumhardt für sie noch einmal betet. Diesmal treten weder Spuk noch Geisterstimmen auf; in weniger als fünf Minuten kommt es zu einer deutlichen Besserung. Eine Veränderung ist mit Gottliebin Dittus vorgegangen. Das gewachsene Vertrauen auf Gottes Hilfe ist es, das ihr Seelsorger jetzt nur in Erinnerung rufen muss.

1846 nimmt Blumhardt sie ganz in sein Haus und seine Familie auf. Sie wird, wie er in der Nachschrift zur Krankheitsgeschichte feststellt, „die treueste und verständigste Stütze meiner Frau in der Haushaltung und Kindererziehung“. Gottliebin erwirbt sich darüber hinaus das Vertrauen Kranker, die das Möttlinger Pfarrhaus aufsuchen; vor allem Geisteskranke haben „das ungemessenste Zutrauen“ zu ihr. Sie nimmt kein Geld für ihre Tätigkeit, ist also nicht Dienstperson im Hause, sondern „an Kindes Statt angenommen“; dies gilt auch für ihre Schwester Katharina und den Bruder Hansjörg.

Bevor Blumhardt sich 1852 zum Erwerb des Kurhauses Bad Boll entschließt, eines ausgedehnten Gebäudes mit 129 Zimmern, schickt er seine Frau Doris und Gottliebin dorthin. Ihm ist das Urteil der beiden Frauen wichtig; schließlich sollen sie später die Bad Boller Hauswirtschaft leiten und die erwarteten zahlreichen Gäste versorgen. Diese „musterten alles von der Bühne bis zum Keller, und der Mut kam ihnen mehr und mehr, namentlich da so viele Mobilien und Betten vorhanden waren, daß man sogleich mit Aufnahme von Gästen beginnen konnte.“ Zu guter Letzt „gaben sie sich die Hand und sagten wie aus Einem Munde: ,Gelt, das lassen wir nicht hinaus!’ Mit dem festesten Eindruck, das Haus sei für den gedachten Zweck geeignet und die Last der Verwaltung sei für sie beide zu wagen, kamen sie nach Möttlingen zurück.“(12) Besser kann das Ansehen, das Gottliebin Dittus in Blumhardts Familie genießt, nicht geschildert werden. Gemeinsam mit seiner Frau ist sie an Entscheidungen, die den Fortgang der Reichsgottesarbeit betreffen, maßgeblich beteiligt. Blumhardts Briefe und die Berichte anderer enthalten keine Andeutungen über eine Rivalität der beiden Frauen. Blumhardts Ehe mit Doris erweckt durchgängig den Eindruck einer glücklichen Verbindung. Doris Blumhardt und Gottliebin Dittus haben ihre gemeinsame Arbeit mit der gleichen Zielrichtung getan, in der Erwartung des bald in eine neue Phase tretenden Reiches Gottes. Dafür wird gebetet und bis zur Erschöpfung gearbeitet.

Friedrich Zündel, der Gottliebin persönlich kennengelernt hat, schildert sie als eine Persönlichkeit, die von ihrer ärmlichen Jugend her „etwas Grobkörniges“ behalten habe. Sie sei nichts weniger gewesen als liebenswürdig oder anmutig; ihre Lebenserfahrungen hätten sie vielmehr dazu befähigt, den geistlichen Zustand der Besucher präzise wahrzunehmen und gegebenenfalls deutliche Worte zu sagen. „Darum waren für sie Rang, Stand und dergleichen so gut wie nicht vorhanden, und darum war auch ihr Scharfblick lästig.“ Wer jedoch hinter ihr rauhes Wesen habe schauen können, habe einen „heißen, heiligen Ernst der Liebe und Fürbitte“ wahrgenommen und die Entschlossenheit, dem kommenden Gottesreich den Weg zu bereiten.(13)

Im Jahr 1855 heiratet Gottliebin Dittus den aus Nordfriesland stammenden und in Bad Boll von Gehbeschwerden geheilten Theodor Brodersen; aus der Ehe gehen drei Söhne hervor. Seit Dezember 1862 wird sie wegen eines Magenleidens, dem weitere Krankheiten folgen, längere Zeit in einem Stuttgarter Krankenhaus behandelt. Bis zu ihrer vorläufigen Entlassung im Juli 1863 schreibt Blumhardt ihr häufig, manchmal täglich. Er tröstet sie auf ihrem schmerzhaften Krankenlager, berichtet vom täglichen Gebet der Bad Boller für Gottliebin, erzählt von neu angekommenen Gästen und hält auch mit eigenen Sorgen und Zweifeln nicht hinter dem Berg. Ob „unsre Sache in ihrem richtigen Gang ist“, ob die Arbeit in Bad Boll auch wirklich Gottes Reich fördere und nicht vielmehr aufhalte, dieser Gedanke wird ihm manchmal zur Qual. Und wird er selbst vor der Zeit sterben müssen, wenn „so viel im Rückstand“ ist? Hinzu kommt die Sorge um seine Kinder, denen noch manches fehlt, einmal Nachfolger ihres Vaters sein zu können. Der Seelsorger, der sich in Bad Boll und auf Reisen ungezählter Hilfesuchender annimmt, erhält dann seinerseits von Gottliebin ein tröstendes und Mut machendes Gedicht.(14)

In der Folgezeit wird sie nicht mehr gesund. In mühevollem Auf und Ab schleppt sie sich dahin und stirbt am 26. Januar 1872 an Magenkrebs. Blumhardt ist an diesem Tag auf Reisen. Seine Frau und sein Sohn Christoph erleben, wie nicht die Angst vor dem Tod, sondern die Hoffnung auf das Reich Gottes Gottliebins letzte Stunden bestimmt. Für Christoph, bisher voller Zweifel, ob er als Nachfolger seines Vaters geeignet sei, ist dies eine Erfahrung, die ihn lebenslang fest mit der gemeinsamen Sache verbindet.(15)

Gottliebin Dittus hat einen Weg genommen, der das Geschenk der Heilung aus Glauben konsequent festhält. Hinter die Feststellung von Hans Jörg Weitbrecht, ihre spätere Entwicklung sei nur ein „schönes Beispiel für den ,Fassadenwechsel’ geltungsbedürftiger Psychopathen“(16), darf ein Fragezeichen gemacht werden. Wie schon erwähnt, hat ihre Heilung eine tiefgehende Veränderung zur Folge. Nicht ihre „Fassade“ hat einen neuen Anstrich bekommen, sondern das ganze Haus, wenn es denn von Geltungssucht beherrscht wurde, ist eingerissen und neu gebaut worden.

Glaubensheilungen sind nicht auf Frauen beschränkt. Theodor Brodersen und viele andere Männer haben ebenfalls ein geistliches Neuwerden und dann auch Befreiung von Krankheit erfahren, etwa der Epileptiker, der im Bad Boller Sprechzimmer unter Blumhardts Gebet von der, wie er es schildert, „Majestät des gegenwärtigen Gottes“ überwältigt wird. Er kann nicht anders, als sich vor diesem Gott auf die Knie zu werfen – als er aufsteht, ist er gesund. Einen Rückfall in die Krankheit hat es offensichtlich auch Jahre nach diesem Erlebnis nicht gegeben.(17) Ferner sind Erscheinungen von „Besessenheit“, hysterische Ausbrüche und Visionen auch bei Männern bezeugt. So berichtet der Vater eines stummen Kindes, der Blumhardt 1846 in Möttlingen aufgesucht hat, er sei auf dem Rückweg „wahnsinnig“ geworden, habe den Heiland und den Teufel gesehen und erst durch acht Männer gebunden werden können.(18)

Was ist das Besondere am geistlichen Neuwerden und Heilwerden der Gottliebin Dittus? Zwischen ihr und Blumhardt wird mit der Zeit die Einbahnstraße der Seelsorge aufgehoben; an ihre Stelle tritt gegenseitiger Zuspruch und gemeinsames Gebet. Keiner hat den andern geistlich überwältigt; vielmehr werden beide durch das Eingreifen eines Dritten überwältigt. Mit dieser Erfahrung ausgerüstet, machen sie sich auf, Gott den Weg zu bahnen.

Erstmals veröffentlicht in: Weib und Seele. Frömmigkeit und Spiritualität evangelischer Frauen in Württemberg. Katalog zur Ausstellung im Landeskirchlichen Museum Ludwigsburg vom 16. Mai bis 8. November 1998, S. 97–102.

Aktualisiert am: 06.03.2024