Die Stiftskirche in Stuttgart

Von: Auge, Oliver

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Anfänge
  2. 2: Residenzstift
  3. 3: Hauptkirche Württembergs
  4. 4: Baumaßnahmen im 15./16. Jahrhundert
  5. 5: Stiftungen
  6. 6: Stiftskleriker und Stiftsbesitz
  7. 7: Die Reformation 1534
  8. 8: Neogotisierung im 19. Jahrhundert
  9. 9: Zerstörung und Wiederaufbau 1944-1958
  10. 10: Aus der Karfreitags- wird die Osterkirche 1999-2004
  11. Anhang

1: Die Anfänge

Stiftskirche Stuttgart, Bauentwicklung von der Frühromantik bis zur Spätgotik. Stand: 2015

Dipl. Ing. Ludger Schmidt, Steinenbronn. Mit freundlicher Genehmigung

Heftige Konflikte zwischen Königtum und Württemberg führten dazu, dass die Beutelsbacher Kleriker zu Anfang des 14. Jahrhunderts ihr Stift verließen und sich nach Stuttgart begaben. Stuttgart war damals schon Württembergs bedeutendste Stadt und entwickelte sich zur Residenz. Nahe der gräflichen Stadtburg befand sich eine um die Mitte des 13. Jahrhunderts erbaute dreischiffige spätromanische Basilika. Sie war nicht der erste Kirchenbau an dieser Stelle. Ihr ging mindestens ein einschiffiges Gotteshaus voraus. Dieser Bau wird auf das 10./11. Jahrhundert datiert. Doch weisen ergrabene Reste zweier alemannischer Gräber darauf hin, dass sich bereits im 7./8. Jahrhundert hier ein Begräbnisplatz befand. Hierher nun flohen die Chorherren um ihrer Sicherheit willen, und Graf Eberhard I. betrieb bald ganz offiziell die Verlegung des Stifts von Beutelsbach samt der Grablege seiner Dynastie nach Stuttgart. Es wird berichtet, dass die Verlegung 1321 stattfand, doch sprechen gewichtige Indizien für einen Termin zwischen 1312 und 1317. 1321 soll dann der uneheliche Grafensohn Ulrich auf seine eigenen Kosten den Chor der Kirche errichtet - bzw. nach den neuen Grabungsbefunden nach Westen erweitert – haben.

2: Residenzstift

Ein Propst, zwölf Chorherren und ebenso viele Vikare gehörten fortan dem Stift an, wodurch es zu den größeren Stiften der Region zählte. Aus den Reihen der Chorherren gingen ein Kustos, ein Kantor, der zugleich als Schulmeister fungierte, und ein Keller hervor. Das Kapitel hatte das Recht zur Selbstergänzung. Wie in Beutelsbach wurde die Residenz der Kleriker zur Pflicht erhoben. Dem Propst wurden 150, den Kapitelsämtern 40, den einfachen Chorherren 30 und den Vikaren schließlich 20 Pfund Heller an Einkünften zugewiesen – eine Einzelpfründverwaltung gab es also nicht. Laut Statuten von 1321 hatten die Chorherren täglich die Messe zu feiern und ihr Chorgebet zu verrichten. An den hohen kirchlichen Feiertagen sang der Propst selbst das Hochamt, während er für die übrigen Tage drei Chorherren für die Messfeier und die Lesung von Evangelium und Epistel auserkor.

3: Hauptkirche Württembergs

Die Stuttgarter Stiftskirche wurde zur Hauptkirche Württembergs. Der Stiftspropst fungierte als eine Art Haupt der württembergischen Geistlichkeit. Dabei war die Stiftskirche auch noch die alleinige städtische Pfarrkirche, ihr Propst war zugleich Pfarrer der Stadt. An der Stiftskirche sind zudem die Anfänge des städtischen Schulwesens zu suchen. Die innerhalb Württembergs zentrale kirchliche Rolle der Stuttgarter Stiftskirche förderten die Grafen bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts dadurch, dass sie die Landdekanate zu regelmäßigen Jahrtagen und Sakralhandlungen hierher zogen.

4: Baumaßnahmen im 15./16. Jahrhundert

Der Stiftskirchenneubau des 15. Jahrhunderts vermehrte die Rolle als kirchliches Zentrum des Landes weiter und stand im direkten Zusammenhang mit dem von Graf Ulrich V. betriebenen Ausbau Stuttgarts. Vielleicht bildete der unmittelbare Anlass zum Neubau die von älteren Historiographen erwähnte Baufälligkeit des alten Kirchengebäudes. Die Baumeister Hänslin und Aberlin Jörg zeichneten für den Neubau der prächtigen spätgotischen Hallenkirche verantwortlich. Die ersten Schritte zum Bau werden 1432 erkennbar. 1436 soll der Grundstein zum neuen Langhaus gelegt worden sein. Bald nach 1445 war die Südseite der neuen Stiftskirche fertig. 1456 weihte der Konstanzer Generalvikar neun Altäre in der Stiftskirche, fünf auf der rechten Seite und vier auf der linken. Sie waren 55 Heiligen gewidmet. Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts kamen noch mindestens fünf weitere Altäre hinzu. Wegen der zu 1456 bezeugten Altarweihe nimmt man an, dass damals die sechs Joche des Langhauses eingewölbt waren. Damit wäre der Bau des Langhauses, abgesehen von der Westfassade, im Wesentlichen fertig gewesen. Zwischen Langhaus und Chor wurde auf der Höhe des Südturms um 1430/50 ein gotischer Brückenlettner aufgestellt. Die Westseite der Kirche, vor allem der hier befindliche Turm, blieb aber zunächst unvollendet. Nachfolgend kamen nur kleinere Arbeiten zum Abschluss: 1463/64 erhielt der Südturm sein sechstes Stockwerk, auf dem der städtische Wächter platziert wurde. Ungefähr zeitgleich mit dem neuen Stockwerk des Turms wurde der sich daran anlehnende Treppenturm gebaut. 1481 erfolgten weitere Arbeiten am Chor. Außerdem kam es zum Umbau der Sakristei. Ein Treppentürmchen wurde in der Ecke zwischen Sakristei und Annenkapelle errichtet. Im Obergeschoss der Sakristei war der Kirchenschatz untergebracht und befand sich das Stiftsarchiv. Die Gründe für den zögerlichen Fortgang des Baubetriebs sind vielfältig: Die gleichzeitige Errichtung der Leonhardskirche, der Tod Ulrichs V., der ein maßgeblicher Förderer der Stiftskirche gewesen war, und die folgende Regierung des am Kirchenbau weniger interessierten Eberhard des Jüngeren werden hauptsächlich genannt. Ein 1489 vom päpstlichen Nuntius gewährter 100-tägiger Ablass für alle Besucher und Wohltäter des Stifts sowie ein bischöflicher Bettelbrief zum Almosensammeln von 1490 deuten dann eine Wiederaufnahme der Arbeiten im größeren Stil an. Es handelte sich dabei um die Vollendung des Westwerks mit dem imposanten Turm, auf den dann der Turmwächter übersiedelte. Seine Errichtung zog sich aber letztlich bis 1531 hin. Auf den Bau eines Turmhelms wurde aus Geldmangel verzichtet. Dieser war durch die Ausbreitung reformatorischer Ideen in der Stuttgarter Bevölkerung verursacht, was einen dramatischen Rückgang des Spendenaufkommens nach sich zog. Bereits 1494 war die Umrahmung des berühmten Aposteltors mit den Statuen Christi und der zwölf Apostel fertig worden, und bis 1512 hatte Propst Ludwig Vergenhans die nach ihm benannte Kapelle einrichten lassen. Das neue Kirchengebäude, das dem zeitgleichen Kirchenbau in Urach und in Tübingen als Vorbild diente, leistete in unmittelbarer Nähe zum Stadtschloss als dem weltlichen Herrschaftszentrum einen wesentlichen Beitrag zur baulichen Präsentation der Residenz. Dem entsprach die auf die Herrschaft, aber auch auf vermögende Stuttgarter Familien zurückgehende reiche Ausstattung im Innern. Bereits um 1460 erhielt die Kirche auch ihre spätgotische, aber erst im 19. Jahrhundert vergoldete „Goldene Kanzel“. Durch ihre Aufstellung wurde die damals wachsende Bedeutung der Predigt deutlich: Die Messfeierkirche wurde zur Predigtkirche. Der 1535 katalogisierte Kirchenschatz war ebenso imposant. Nicht zu vergessen ist das mächtige Geläute. Ab 1460 verfügte die Stiftskirche über eine Uhr am Glockenturm. Der Westturm erhielt 1530 eine Uhr mit Schlagwerk. Auch im Kircheninnern befand sich seit 1515 eine Uhr. Durch den Kirchenneubau konnte die Herrschaft ihre Macht zur Schau stellen, indem sie die Kirche in die Ausgestaltung höfischer Feiern und Feste miteinbezog.

5: Stiftungen

Im 15. Jahrhundert erfolgte die Gründung zahlreicher Bruderschaften, die sich in der Stuttgarter Stiftskirche zu bestimmten Terminen versammelten. Die erste war die Priesterbruderschaft, die 1419 durch Kleriker ins Leben gerufen wurde, gefolgt von der Salve Regina-Bruderschaft, die 1429 von gräflichen Räten, Teilen des Hofgesindes sowie weiteren Laien und Klerikern gestiftet wurde. Neben den genannten Gemeinschaften etablierten sich in der Stiftskirche 1482 auch noch eine Sebastians- und 1518 eine Urbansbruderschaft. 1515 wurde zusätzlich ein Annen-Amt eingerichtet. Auch eine Bruderschaft des Schmiedehandwerks gab sich 1455 eine Ordnung, bruderschaftlich organisierte Metzger finden sich spätestens zu 1470, Schneider und Tuchscherer zu 1484 in der Stiftskirche. Die Bruderschaften trugen zur Verdichtung des Sakrallebens bei, wie sie für das Stiftskapitel selbst 1490 in der Einrichtung eines Dekanats und der Anstellung von vier weiteren Chorknaben neben den schon zuvor bestehenden zwei Chorschülerstellen 1489/90 festgemacht werden kann.

6: Stiftskleriker und Stiftsbesitz

Die zentrale Bedeutung, die die Stiftskirche im spätmittelalterlichen Württemberg spielte, wurde durch ihren Klerus unterstrichen. Trotz des verbrieften Selbstergänzungsrechts des Kapitels hatten die Grafen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluss auf die Pfründenvergabe erlangt. Bei ihrer Kandidatenauswahl wurden sie von deren Bildung und deren sozialer und geographischer Herkunft geleitet. Beide Elemente sind für den hohen Grad der Akademisierung und die fast vollständige Verdrängung des Niederadels aus dem Stift verantwortlich. An seine Stelle traten Angehörige der so genannten Ehrbarkeit, also der bürgerlichen Oberschichten. Die Mehrzahl der Stiftsmitglieder stammte aus Württemberg. Im Stift war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine klerikale Fachelite bepfründet, die sich von außen her erneuerte und sich auf Führungspositionen in der „Landeskirche“ verteilte. Sie war in Rechtsprechung, Diplomatie und Verwaltung, auch in der landesherrlichen Klosterreform aktiv. Dadurch leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Verfestigung und „Modernisierung“ der Landesherrschaft und lieferte einen zentralen Baustein zur Schaffung des landesherrlichen Kirchenregiments. Auch waren Stuttgarter Geistliche in das höfische Leben eingebunden als Erzieher und Lehrer der Grafensöhne oder als Musiker der Hofmusik. Die Vielfalt der Dienste und der Sachverhalt, dass kein anderes württembergisches Stift zahlenmäßig derart stark vertreten war, unterstreichen den exzeptionellen Rang Stuttgarts. Diesen spiegelt auch das Stiftsvermögen wider. Stuttgart war nämlich das reichste württembergische Stift. Die Beutelsbacher und Altenburger Kirche samt deren Filialen Berg und Wangen waren ihm inkorporiert (1321), auch die Kirchen zu Poppenweiler (1347), Aldingen (1398), Pfauhausen und Zuffenhausen (1421), Neckargröningen (1439), Simmozheim und Uffkirch (1446), Neckarrems (1454/62), Beinstein (1472), Grunbach (1473), Bonlanden (1477). Außerdem befanden sich die Kirchen von Rohracker, Aichelberg, Stetten und Stammheim sowie die Stuttgarter Leonhardskirche und die Marien- und Liebfrauenkapelle im Abhängigkeitsverhältnis zum Stift. Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor wurde das Stift durch eine Vielzahl von Schenkungen und Käufen von Zehnten, von Gerechtsamen, Renten, Zinsen und Gülten sowie von Grundbesitz und Immobilien. Das Stift war ein wichtiger Faktor gerade auf dem Stuttgarter Häuser- und Rentenmarkt. Nicht von ungefähr befanden sich wesentliche Bereiche des „Stadtzentrums“ im Stiftsbesitz. In rund 40 Ortschaften war es begütert. Seiner Finanz- und Wirtschaftskraft entsprechend führte es im Vergleich zu den anderen württembergischen Stiften regelmäßig den höchsten Betrag an fälligen Abgaben und Steuern ab. Mit dem Anbruch des 16. Jahrhunderts mehren sich freilich die Zeichen wachsender Finanzprobleme. Die Gründe wird man in der spätmittelalterlichen Agrar- und Finanzkrise, im Finanzgebaren Propst Dietrich Speths und zu guter Letzt in der Reformation zu sehen haben. 

Die Stellung der Stiftskirche als unangefochtene Residenzkirche und Grablege des Hauses Württemberg stand während der Landesteilung zwischen 1441/42 und 1482 zur Disposition. Auch nach der Wiedervereinigung ließen sich die Herzöge bis 1593 in Tübingen bestatten, nicht in Stuttgart. In eine schwere Krise brachte Herzog Ulrich das Stift, als er 1513 den jungen Dietrich Speth zum Propst und Pfarrer Stuttgarts und gewissermaßen zum Oberhaupt des württembergischen Klerus machte. Denn Speth hatte nicht das erforderliche Mindestalter. Sein Studium absolvierte er bis 1521 in Tübingen, Ingolstadt und Freiburg und fiel damit für längere Phasen als Stuttgarter Pfarrer aus. Die Landschaft beklagte sich 1514 über ihn und bat darum, in Zukunft die Seelsorge nicht mehr so jungen und unerfahrenen Leuten anzuvertrauen. Als er schließlich 1527 unter dem Druck auch des eigenen Vaters als Propst resignierte, unterbreiteten die Stuttgarter der Regierung den Vorschlag, das Stuttgarter Pfarramt von der Propstei zu trennen. Aus den bisherigen Verhältnissen sei im ganzen Land Geschrei erwachsen.

7: Die Reformation 1534

Die Reformation führte das Ende des Stifts herbei. Am 16. Mai 1534 wurde die Stiftskirche für den protestantischen Gottesdienst geöffnet, am 2. Februar 1535 fand hier die letzte katholische Messe statt. Von den Klerikern war nur ein Bruchteil für die neue Kirche zu gewinnen. An die Stelle der vorreformatorischen 40 Stuttgarter Stiftsherrn, Stiftsvikare, Frühmesser und Kapläne traten zwei Prädikanten und zwei Diakone.Das am 30. Juni 1548 zum Reichsgesetz erhobene Augsburger Interim brachte nach vierzehn Jahren zwar eine merkwürdige Wiederbelebung des Stifts, und bereits im August wurde wieder eine Messe in der Stiftskirche gefeiert. Doch blieb das Interim nur ein Zwischenspiel, das bis zum Herbst 1552 dauerte. Den letzten vier Interimsgeistlichen wurde am 12. August 1552 die Feier päpstlicher Messen verboten. Die Stiftskirche wurde nun Wirkstätte von Johannes Brenz, den Herzog Christoph 1553 zum Stiftspropst und Reformator des Landes berief. Doch kehrte der katholische Glauben nochmals in die Mauern der Stiftskirche zurück, als nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 habsburgische Truppen Württemberg besetzten und Jesuiten die Stuttgarter Stiftskirche in ihren Besitz nahmen. Sie ließen sogleich mehrere Grabdenkmäler protestantischer Geistlicher von ihrem Standort entfernen oder ganz aus der Kirche schaffen, um an ihrer Stelle Heiligenbilder zu installieren und eigene Mitbrüder zu bestatten. Im Grab von Brenz unmittelbar bei der Kanzel fand so 1637 der Jesuitenpater Eusebius Reeb seine letzte Ruhestätte. Im Januar 1649 gaben die Jesuiten die Stiftskirche aber wieder frei.

Auch wenn das Stift aufhörte zu existieren, blieb die Bezeichnung „Stiftskirche“. Sie fungierte bis 1806 weiter als einzige Pfarrkirche Stuttgarts. Bis 1688 ließ man auch das Amt des Stiftspropsts weiter bestehen. Dieser war Oberhaupt der städtischen Geistlichkeit und „erster“ Pfarrer des Landes. Der wohl bedeutendste Inhaber des Amts war der schon genannte Brenz. Der Stiftsprediger – auch Prälat genannt – übte gleichfalls eine leitende Funktion in der Landeskirche aus. Durch die Rolle von Propst und Prälat nahm die Stiftskirche weiterhin die Funktion der wichtigsten Kirche des Landes wahr. Mit der Reformation verschwanden der Hauptaltar und alle Seitenaltäre aus der Kirche. Sämtliche Heiligenbildnisse wurden am 8. Mai 1535 entfernt. Bald darauf setzte man ein Gestühl in Langhaus und Chor ein und errichtete Emporen für die Gottesdienstbesucher. Auf der Südempore befand sich fortan der Fürstenstand. Noch 1535 ließ Herzog Ulrich auch die fürstlichen Grabsteine, die sich bisher außerhalb der Kirche befunden hatten, in den Chor bringen. Dort verblieben sie aber nicht lange. Auf Anweisung Herzog Ludwigs wurden sie in die Sakristei geschafft. An ihrer statt ließ Ludwig durch Sem Schlör ab 1574 die elf Grafenstandbilder aufstellen.

8: Neogotisierung im 19. Jahrhundert

Die Stiftskirche 1818

Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung, Nr. 92.463

1608 nahm das Herzogshaus wieder die Tradition der Stiftskirche als Grablege auf: In nur 17 Tagen wurde unter dem Chor eine Gruft erbaut. Bald war sie wieder zu klein, so dass man sie 1683 nach Norden erweiterte und eine kleine Gruft auch unter der Sakristei errichtete. Bis ins 19. Jahrhundert wurde diese Grablege genutzt. Wirklich tiefgreifende bauliche Veränderungen brachte dann das 19. Jahrhundert. Zunächst schaffte man zwischen 1807 und 1810 die aus dem säkularisierten Kloster Zwiefalten stammende große Orgel auf königliche Kosten in die Stiftskirche, wo, um Platz für sie zu gewinnen, der gotische Lettner abgebrochen wurde. Zwischen 1837 und 1845 wurde die Orgel auf eine neue Empore ans Westende der Kirche verlegt, was heute noch ihr Standort ist. Dann brach man 1826 das steinerne Chorgewölbe ab und ersetzte es durch ein hölzernes. Daran schloss sich in den Jahren zwischen 1839 und 1843 im Stil der Zeit eine umfassende Neogotisierung der ganzen Kirche unter Leitung Karl Alexander Heideloffs an. Obendrein schaffte man eine große Zahl der alten Grabsteine aus der Kirche. Im Zuge der umfangreichen Maßnahmen stiftete König Wilhelm I. zwischen 1841 und 1852 drei Chorfenster und das Fenster über der Orgel. Bis 1887 erhielt der Chor dann dank privater und gemeindlicher Initiative drei weitere Fenster. Ebenso hatte man zwischen 1879 und 1881 die bislang schmucklosen Wände und Gewölbe des Chors bemalt und teilweise an den Rippen und Schlusssteinen vergoldet. Auch ein neues Chorgestühl aus Eichenholz sowie ein kleiner Steinaltar fanden jetzt hier Platz. Zu den letzten großen Umbaumaßnahmen gehörte schließlich die Entfernung der in den 1850er Jahren eingebauten Gasheizung, an derer statt 1886 eine Dampfheizung installiert wurde.

9: Zerstörung und Wiederaufbau 1944-1958

Im Frühjahr 1944 wurde die Stiftskirche erstmalig durch Luftangriffe beschädigt. Das Dach und die Gewölbe der Kirche fielen den Sprengbomben des Luftangriffs vom 25. Juli 1944 zum Opfer. Die Kirche brannte völlig aus. Der Luftangriff vom 13. September 1944 vernichtete dann die bisher einigermaßen unversehrte Südwand. Von dem ehrwürdigen Gebäude stand fast nichts mehr außer den beiden einsturzgefährdeten Türmen, der Nordwand sowie der Wände des Chorbereichs. Die Zerstörungen übertrafen die der großen Kirchen in Hannover, München, Nürnberg oder Ulm. Nach langen Diskussionen entschied man sich 1954, den Wiederaufbau dem Architekten Hans Seytter in die Hände zu legen. Äußerlich sollte im Wesentlichen wieder der altbekannte Baukörper entstehen, ohne dass an eine detailgetreue Wiederherstellung des Bauwerks gedacht war. Vollständig neu fiel die Ausführung des Kircheninnern aus: Man verzichtete auf die bisherige Dreischiffigkeit und wählte eine Einraumlösung, die mit einem flachen Tonnengewölbe aus Holz versehen wurde. Die Entscheidung zugunsten eines zusammenhängenden Predigtraums erntete heftige Kritik: Der Bau gleiche einer Turn- oder Stadthalle. Doch trotz der Einwände wurde die neue Kirche, deren Vollendung am 1. Juni 1958 gefeiert wurde, von der Kirchengemeinde angenommen. Der Gesamteindruck des Innenraums war ein düsterer. Dahinter stand bewusst ein Konzept der Buße – Buße für den durch Deutschland begonnenen Krieg, der auch fatale Auswirkungen für die Stiftskirche selbst gehabt hatte.

10: Aus der Karfreitags- wird die Osterkirche 1999-2004

Fotograf: Ludger Schmidt. Aus: www.Stiftskirche.de. Mit freundlicher Genehmigung

Rund 40 Jahre beließ man die Stiftskirche in diesem Zustand. 1993 aber schrieb die Gesamtkirchengemeinde wegen der zunehmenden Baufälligkeit einen Architekturwettbewerb aus, den Bernhard Hirche aus Hamburg für sich entschied. Seine Planungen stießen wiederum auf ein stark geteiltes Echo: Während ein Teil der Bürger forderte, nun endlich doch eine vollständige Rekonstruktion der früheren gotischen Stiftskirche vorzunehmen, mahnten andere eine kostengünstigere Lösung an und plädierten für einfache Schönheitsreparaturen. Auch das Landesdenkmalamt meldete sich zu Wort, da in der Zwischenzeit die Baulichkeiten der fünfziger Jahre einen denkmalschutzwürdigen Charakter gewonnen hatten. Letztlich gelangte man zu einer mehr oder minder einvernehmlichen Lösung, die von 1999 bis 2003 realisiert wurde. Der Umbau verzögerte sich durch die für Stuttgarts Frühgeschichte so wichtigen archäologischen Funde, die unter Langhaus und Chor zu Tage kamen. Man entschloss sich infolgedessen zum Bau einer „Unterkirche“, bei deren Besichtigung die Besucher nun einen Teil der archäologischen Befunde in Augenschein nehmen können. Die nunmehrige Stiftskirche verbindet synthetisch Geschichte und Gegenwart. Neu – z.B. die Glasfenster und Glasstelen von Bernhard Huber oder Hans Gottfried von Stockhausen, der Altar von Holger Walter oder das moderne blaue Gestühl – wurde eins mit alt, ob es nun, wie der Gerichtsengel samt Kanzel oder die Holzreliefs an der Emporenbrüstung von Karl Hemeter aus den 1950er Jahren stammt oder wie die Lettnerfiguren oder die Goldene Kanzel aus dem 15. Jahrhundert. Insbesondere die Innenraumdecke steht für die Synthese. Es handelt sich um eine moderne Tragwerkkonstruktion, die das mittelalterliche Gewölbe nicht nachahmen will, aber dank ihrer Helligkeit, Leichtigkeit und Höhe eine ganz ähnliche Raumwirkung erzielt. Durch Glassegel wird die frühere Dreischiffigkeit wieder erkennbar. Die Stiftskirche wird damit den liturgischen und kirchenmusikalischen Ansprüchen besser gerecht als ihre „Vorgängerin“ und sie wirkt lichter und höher. „Aus der Karfreitagskirche wurde eine Osterkirche.“ Mittlerweile hat sich die Stuttgarter Stiftskirche zu einem wahren Publikumsmagnet entwickelt.

Aktualisiert am: 05.10.2023