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Von: Fritz, Eberhard
Inhaltsverzeichnis
- 1: Versuch einer Begriffsdefinition
- 2: Ausbreitung der pietistischen Ausrichtung
- 3: Die erste Phase des Pietismus bis 1715
- 4: Das 18. Jahrhundert bis etwa 1780
- 5: Die Phase ab Ende des 18. Jahrhundert mit dem Aufblühen radikalpietistischer Ideen
- 6: Der Pietismus und seine Entwicklung ab dem 20. Jahrhundert
- Anhang
1: Versuch einer Begriffsdefinition
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Versammlung der Altpietistischen Gemeinschaft in Metzingen-Neuhausen, 1990.
Fotograf: Eberhard Fritz
Erschwert wurde die Erforschung des Pietismus bislang dadurch, dass man diese Form der Religiosität im Allgemeinen häufig mit den heute existierenden pietistischen Gruppierungen identifizierte. Wenn wir den Bereich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg betrachten, wurde die Situation auch noch dadurch verschlimmert, dass in der folkloristischen Literatur über „Die Schwaben“ von vornherein konstatiert wurde, alle protestantischen Schwaben seien quasi durch Geburt pietistisch beeinflusst. Sämtliche als typisch schwäbisch geltenden Verhaltensweisen und Mentalitäten wie Sparsamkeit, Genügsamkeit, Ordnungssinn (Kehrwoche) bis hin zu sexuellen Verklemmungen wurden dieser pietistischen Prägung zugeschrieben. Dafür sind die Werke von Thaddäus Troll („Deutschland, deine Schwaben), aber nicht nur sie, ein eindrucksvoller Beleg. So volkstümlich sie zum Teil sein mögen, so spiegeln sie dennoch die gebräuchlichen Klischees wider.
Im Gefolge der 1968-er Revolution brachen dann regelrechte Gräben zwischen einem progressiven und einem konservativen Lager auf. Da der Pietismus zu letzterer Richtung gezählt wurde, erfuhr er heftige Angriffe und galt vielmals generell als rückwärtsgerichtet, lebensfeindlich und eng. Dies trieb nun die pietistischen Gruppen vielfach in die Defensive. Auch die kirchengeschichtliche Forschung polarisierte sich und tendierte dazu, den Standpunkt des jeweiligen Autoren deutlich herauszustellen. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber wenn man an Erich Beyreuther auf der pietistischen Seite und an Martin Scharfe auf der pietismuskritischen Seite denkt, erahnt man die große Kluft zwischen den Forschungsrichtungen. Erst in jüngster Zeit beruhigt sich die Situation und macht eine vorurteilsreduzierte Betrachtung möglich.
Wie kann man nun Pietismus definieren? Allein diese Fragestellung füllt bereits Bände. Gewarnt wird immer vor einer Verengung des Pietismusbegriffs. In der klassischen Forschung setzt man den Beginn des Pietismus mit der Gründergestalt, dem Frankfurter Pfarrer Philipp Jakob Spener, gleich. Als Programmschrift des Pietismus gilt die schmale, 1675 erschienene Schrift „Pia desideria“, in der Spener ein weit gehendes Reformprogramm für das theologische Studium forderte, aber auch auf eine christliche Lebensführung des Einzelnen drängte. Nun ist es berechtigt, darauf hinzuweisen, dass Spener bereits vorhandene Einflüsse aufnahm und bündelte. Es ist auch richtig, pietistische Gedanken bei Theologen und Erbauungsschriftstellern vor Spener zu suchen. Hier hat die theologische Wissenschaft noch einige Arbeit vor sich. Bei einer zu breiten Definition des Pietismusbegriffs droht jedoch eine so große Unschärfe, dass man kaum mehr damit arbeiten kann.
Der Kirchenhistoriker Martin Brecht lieferte eine pragmatische Definition, die sich ohne Schwierigkeiten auf Württemberg übertragen lässt. Demnach handelt es sich um eine Frömmigkeitsbewegung, welche auf persönliche Aneignung des Glaubens, seine Erlebbarkeit und Verifizierung Wert legt: „Christsein wird als von Gott gewollte und gewirkte persönliche Existenzwende in Abkehr von der Sünde, als Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung verstanden. ... Dem entspricht eine scharf umrissene Auffassung von der Kirche als praktizierter Gemeinschaft“.
Bringt man diese Definition mit dem Wissen des Historikers um die Verhältnisse im späten 17. Jahrhundert zusammen, so tritt das Neue der pietistischen Bewegung deutlich hervor. Nach der Reformation hatten sich die protestantischen Kirchen durch eine scharfe Abgrenzung von der altgläubigen Kirche formiert. Nach innen sollte diese Uniformität durch die religiöse Unterweisung der Gläubigen erreicht werden. Dieser Zielrichtung ist neben einer ausgefeilten Theologie ein blühendes Schulwesen zu verdanken. Schon in der Großen Kirchenordnung von 1559 wurde für das Herzogtum Württemberg die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg schärfte Herzog Eberhard III. 1649 durch Dekret die Schulpflicht und den Aufbau eines Dorfschulwesens erneut ein. Wenn auch die schulische Wirklichkeit bis mindestens zum Ende des Alten Reiches um 1800 hinter diesem frommen Wunsch hinterherhinkte, so war doch das Endziel vorgegeben. Während des 18. Jahrhunderts bemühten sich die kirchlichen Autoritäten vehement und zäh um die Durchsetzung des Schulbesuchs von Jungen und Mädchen. So griff bereits in dieser Zeit die Literalisierung einer breiten Bevölkerungsschicht und machte eine breite Frömmigkeitsbewegung wie den Pietismus mit seiner starken literarischen Ausrichtung überhaupt erst möglich.
Was den Gottesdienst in den anderthalb Jahrhunderten nach der Reformation anbetraf, so spielte die Gemeinde eine vorwiegend passive Rolle. Bei einer starken Betonung der Liturgie und einem in der reformierten Theologie wurzelnden Gottesdienstverständnis war die Gemeinde vorwiegend als Masse präsent. Darüber hinaus bildete die Kirche im Grunde eine Zwangsgemeinschaft, nachdem sich sämtliche Untertanen im Herzogtum Württemberg im Landtagsabschied von 1565 für immer auf die protestantische Konfession verpflichtet hatten. Da dieser Landtagsabschied den Charakter eines Staatsgrundgesetzes trug, verstieß jemand, der die protestantische Kirche verließ, nicht nur gegen religiöse, sondern zugleich auch gegen staatliche Normen.
In der früheren kirchengeschichtlichen Forschung unterschied man scharf zwischen der Phase des orthodoxen Luthertums und der darauffolgenden Ära des Pietismus. Neuere Erkenntnisse haben auch hier teils fließende Übergänge zutage gefördert. Trotzdem lassen sich deutliche Unterschiede fest machen. Unzweifelhaft brachte der Pietismus einen Individualisierungsschub mit sich, weil er die religiöse Verantwortung des Einzelnen betonte. Nicht mehr die Kirche als solche sollte für die persönliche Frömmigkeit und die schlussendliche Erlösung sorgen, sondern der einzelne Christ selbst.
Auch die schrecklichen Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges wirkten im Pietismus nach. Diese vordergründige konfessionelle Auseinandersetzung war schnell zur allgemeinen Katastrophe ausgewachsen, bei der konfessionelle Momente keine ausschlaggebende Rolle mehr spielten. Die Auffassung von einer „allein seligmachenden“ Konfession blieb zwar lebendig, war jedoch grundlegend erschüttert. Als Antwort darauf tendierte der Pietismus dazu, die konfessionellen Grenzen zu überschreiten und die „wahren Christen“ aus allen Konfessionen zu sammeln. Mit diesem Grundanliegen kam man nicht weit, da sich die katholische Kirche mit ihrer ganz anderen Struktur beinahe resistent gegen solche neuen Formen der Religiosität zeigte. Aber als theologische Grundaussage blieb dieses übergreifende Verständnis von der „wahren Kirche“ doch wichtig.
Den größten Anstoß erregten die Pietisten, weil sie das grundlegende Prinzip der institutionalisierten Kirche störten, nämlich die lokale Verankerung der Gläubigen. Im Verständnis der weltlichen und der kirchlichen Obrigkeit gehörte jeder Christ zur Gemeinde seines Wohnortes. Damit ließ er sich leichter verwalten und kontrollieren. Diesem lokalen Prinzip widersprach das Verständnis von einer „wahren Kirche“ vollkommen. Der Gläubige löste sich nicht nur von seiner Heimatgemeinde, sondern es drohte die Gefahr einer Elitenbildung. Das machte den Pietismus von vornherein verdächtig und löste vielerorts schwere Spannungen aus. Selbst wenn sich an einem Ort eine pietistische Gruppe bildete, drohte immer die Gefahr eines elitären Selbstverständnisses und in der Konsequenz eine Trennung von den „gewöhnlichen“ Gläubigen.
2: Ausbreitung der pietistischen Ausrichtung
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Schachtel mit den Losungen
Landeskirchliches Archiv, Musealse Sammlung, Inv.-Nr. 94.400
Bereits die frühe Phase des Pietismus lässt erkennen, dass es sich um eine reichsweite Bewegung mit internationaler Ausstrahlung handelte. Im Südwesten des Reiches wandten sich zunächst die Oberschichten in den Reichsstädten, aber auch Mitglieder der höheren Schichten im Herzogtum Württemberg dem Pietismus zu. Die Gedanken Speners wurden im Herzogtum zunächst an der Landesuniversität Tübingen aufgenommen und diskutiert und drangen gleichzeitig in die städtischen Oberschichten ein. Das verwundert nicht, da es im Herzogtum Württemberg eine Schicht von etwa 60 „ehrbaren“ Familien gab, deren Vertreter in den Landständen organisiert waren. Da die Landstände erheblichen politischen Einfluss besaßen, konnten die Herzöge ohne sie nicht regieren. Dieser politische Dualismus hat Württemberg tief geprägt. In den Kreisen der Oberschicht verbreiteten sich pietistische Gedanken auch deshalb, weil man sich damit gegenüber dem herzoglichen Hof abgrenzen konnte. Es würde zu weit führen, dieses komplizierte Verhältnis zwischen der Ehrbarkeit und dem Hof hier darzustellen. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass es nicht selten auch zu einer unbewussten Zusammenarbeit zwischen dem Herzog und den Landständen kam, wenn die pietistischen Ideale dem Landesherren als förderlich für seine politischen Ziele erschienen. Fromme, ordnungsliebende Untertanen nützten schließlich auch einem absolutistischen Herrscher. Was die Ehrbarkeit selbst anbetrifft, so lässt sich an der Verbreitung pietistischer Gedanken ablesen, dass die gebildeten Bürgerinnen und Bürger in den Städten nicht mehr gewillt waren, in einer passiven religiösen Rolle zu verharren. Ähnliche Entwicklungen sind in den protestantischen Reichsstädten festzustellen. Im Herzogtum Württemberg lassen sich die ersten förmlichen Versammlungen von Pietisten für die 1680er Jahre dokumentarisch belegen.
Von Anfang an gab es im Pietismus eine radikale Richtung, in der die Auffassung vertreten wurde, wahres Christsein könne nur außerhalb der institutionalisierten Kirche gelebt werden. Hier wurde die religiöse Elitenbildung auf die Spitze getrieben, indem man sich vom „Großen Haufen“ der religiös weniger interessierten Gemeindeglieder absonderte. Dieser radikale Flügel ist ein untrennbarer Teil des Pietismus und kann nicht isoliert gesehen werden. Es spielt in der Entwicklung der Bewegung eine große Rolle, obwohl immer nur eine verschwindende Minderheit der Pietisten es wagte, sich gegen Kirche und Staat zu stellen und einen Weg abseits der gesellschaftlichen Normen zu gehen. Nichtsdestoweniger ist die Bedeutung dieser Richtung daran abzulesen, dass einer der engsten Mitarbeiter Speners, Johann Jakob Schütz, sie vertrat und zeitweise fast populärer war als Spener selbst. Auch in Württemberg gab es vielfältige Beziehungen zwischen kirchenloyalen und separatistischen Pietisten. Die persönlichen Trennlinien waren unscharf, denn es finden sich auch bei den kirchlich gesinnten Pietisten nicht selten radikale Gedanken.
Ob radikale oder kirchenloyale Pietisten, sie alle bezogen ihre Gedanken aus weit verbreiteten Erbauungsbüchern. Diese Bücher waren so aufgebaut, dass man jeden Tag einen Abschnitt daraus lesen oder in der Familie vortragen konnte. Damit waren sie an die Lebenswelt der Leserinnen und Leser angepasst und eigneten sich sowohl für den einzelnen Lesenden als auch für eine Versammlung. An erster Stelle ist Johann Arndts Werk „Vier Bücher von Wahren Christentum“ zu nennen, das am weitesten verbreitete Erbauungsbuch. Selbst in radikalpietistischen Zirkeln las man Arndt, der vor Spener gewirkt und geschrieben hatte. Die weite Verbreitung solcher Werke im ganzen Deutschen Reich förderte unter den Pietisten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wo man auch hinkam, überall konnte man davon ausgehen, dass zumindest die pietistischen Bestseller bekannt waren.
3: Die erste Phase des Pietismus bis 1715
Nach dem Vier-Phasen-Modell von Eberhard Fritz kann die Zeit bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1715 als erste Phase gelten. Sie ist geprägt von einer Formierung des Pietismus in einer schweren Krisenzeit. Man darf nicht vergessen, dass die Zeit der Kriege und der Kriegsängste im Grunde ein ganzes Jahrhundert lang, von 1618 bis 1715, anhielten. Diese ständige latente oder direkte Bedrohung der menschlichen Existenz förderte sogenannte Krisenkulte und damit den radikalen Pietismus. Denn es lag nahe, diese schwierige Situation religiös als Zorn Gottes über die verkommene und verdorbene Menschheit zu interpretieren. Damit gewannen eschatologische und chiliastische Strömungen an Bedeutung. Man dachte nicht nur im eschatologischen Sinne an ein nahe bevorstehendes Weltende, sondern auch nach chiliastischen Auffassungen an eine Herrschaft der „wahren Christen“ mit Gott nach dem Weltgericht. Vermittelt wurden diese Gedanken durch die Werke des Görlitzer Schuhmachers und Theosophen Jakob Böhme, der wie Arndt Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Pietismus gewirkt hatte. Der Einfluss Böhmes kann kaum überschätzt werden, weil von seinem Werk nicht nur direkte Wirkungen auf radikalpietistische Gruppierungen ausgingen. Vielmehr entfaltete Böhme einen tief greifenden Einfluss auf Pietisten, die Zeit ihres Lebens in der Kirche blieben. Vor allem in der Sexualethik prägte Böhme im Grunde den gesamten Pietismus, indem er die sexuelle Enthaltsamkeit als Kennzeichen des „wahren Christen“ ansah und entsprechend propagierte. Dies ging auf seine Vorstellung von der ursprünglich androgynen Natur des Menschen zurück, welche erst mit dem Sündenfall der beiden ersten Menschen zerstört worden sei. Nun versuche der Mensch, im Geschlechtsverkehr diesen androgynen Charakter wieder zu erreichen. Dagegen entspreche die Askese eher dem göttlichen Willen. Diese, hier notwendigerweise verkürzt vorgetragene Auffassung geht natürlich auf eine lange christliche Tradition der Betonung von sexueller Enthaltsamkeit zurück. Gleichwohl hinterließ sie im Pietismus tiefe Spuren.
Eine ganze Generation von Theologiestudenten am Tübinger Stift begeisterte sich für Böhme. Es kam zu Entlassungen aus dem Pfarrdienst und zur Nichtzulassung von Theologiestudenten. Aber auch diejenigen, die sich mit der Kirche arrangierten, wurden von Geist jener Jahre tief greifend geprägt. Das prominenteste Beispiel dafür ist Johann Albrecht Bengel, dessen Hauptwerk „Die erklärte Offenbarung des Johannes“ eine intensive Beschäftigung mit den radikalpietistischen Gedanken verrät.
4: Das 18. Jahrhundert bis etwa 1780
Die zweiten Phase begann mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs 1715 und dauerte bis etwa 1780. Nun erlebte das Herzogtum Württemberg eine Jahrzehnte lange Friedensperiode mit bescheidenem wirtschaftlichen Wohlstand. Dadurch flauten die radikalen Strömungen im Pietismus ab. Gleichzeitig verloren die Angehörigen der Oberschicht das Interesse am Pietismus, während sich nun Bauern und Handwerker dieser Frömmigkeitsrichtung zuwandten. Es entstanden in den kleineren Städten und in vielen ländlichen Gemeinden Privatversammlungen, die man sich gleichwohl nicht allzu groß vorstellen darf. Immerhin war die Angst vor separatistischen Tendenzen noch so groß, dass die württembergische Kirchenleitung im Jahr 1743 im Namen des Herzogs ein Reskript herausgab, in dem die Versammlungen unter bestimmten Auflagen gestattet wurden: Es durften nicht mehr als 15 Personen zusammen kommen; Männer und Frauen mussten sich getrennt versammeln; die Aufsicht oblag dem Ortspfarrer; nächtliche und überörtliche Versammlungen, für welche die Radikalpietisten berüchtigt waren, blieben verboten; verdächtige Bücher durften nicht gelesen werden. Damit gelang es, den größten Teil der pietistischen Gruppen in die Kirche zu integrieren. Freilich beobachtete die Obrigkeit noch Jahrzehnte lang die Pietisten mit großem Misstrauen.
Fassbar werden diese Versammlungen in der Regel erst in den Jahren nach 1750, als die Pfarrer bei der jährlichen Visitation danach gefragt wurden. Man erkennt jedoch unschwer in den Protokollen, wie sehr die meisten Geistlichen darauf bedacht waren, die Existenz einer pietistischen Versammlung so lange wie möglich zu verschweigen, um sich Ärger mit den Vorgesetzten zu ersparen. Aber gerade in diesen Jahrzehnten traten Pfarrer auf, die in ganz Württemberg bekannt wurden. Johann Albrecht Bengel bildete als Präzeptor in Denkendorf zwei Generationen von Geistlichen aus und beeinflusste viele davon im pietistischen Sinne. Friedrich Christoph Oetinger, Dekan von Weinsberg, war ein Theosoph mit einem weiten Horizont und brachte, vom Radikalpietismus inspiriert, theosophische und kabbalistische Gedanken in den württembergischen Pietismus. Schließlich ist Philipp Matthäus Hahn zu nennen, ein Mechanikerpfarrer, der bei Pietisten und Separatisten gleicher Maßen angesehen war. Die Pfarrer Friedrich Christoph Steinhofer, Johann Ludwig Fricker und der Liederdichter Philipp Friedrich Hiller, ebenfalls ein württembergischer Pfarrer, können hier nur erwähnt werden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahmen die pietistischen Gruppen so zu, dass einige prominente Pietisten im Überschwang der Gefühle den Einfluss dieser Strömung völlig überschätzten. Davor muss man als Forscher heute noch warnen.
Aber in den pietistischen Versammlungen, die man in Württemberg allgemein „Stunden“ (schwäbisch: d’Schtond) nannte, bildete sich eine eigene, von Laien getragene Kultur heraus. In diesem Zusammenhang ist auch die Lektüre der Erbauungsbücher zu würdigen, die mit ihren bilderreichen, aber häufig auch sehr komplexen Texten auch einfache Leute zum Nachdenken über differenzierte religiöse Sachverhalte anregten. Durch die Aneignung von Bibel- und Liedtexten wurde das religiöse Denken nachhaltig gestärkt. Es ist sicher kein Zufall, dass auch das Schulwesen in Württemberg durch eine pietistisch ausgerichtete Schulordnung von 1729 bedeutende Impulse erhielt. Denn im Rückgriff auf die Reformation mussten gerade die Pietisten Interesse an einer guten Ausbildung auch in der Dorfschule haben.
Vor allem aber nahmen sich die Pietistinnen und Pietisten als eigenständige religiöse Autoritäten wahr. Wer selbst die Predigten meditierte, Erbauungsbücher las und religiöse Lieder außerhalb der offiziellen Gottesdienste sang, konnte den Geistlichen mit einem gestärkten Selbstbewusstsein entgegentreten. Das lässt sich vor allem in Konfliktfällen immer wieder beobachten. Wenn die Pietisten oder Separatisten unter Druck gerieten, erklärten sie selbstbewusst, es sei ihnen unverständlich, warum man Menschen verfolge, die doch nur zu einem ernsthaften, persönlichen Christsein aufriefen. Dagegen zu argumentieren war für die Pfarrer und Kirchenbeamten nicht einfach.
5: Die Phase ab Ende des 18. Jahrhundert mit dem Aufblühen radikalpietistischer Ideen
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kündigten sich erneut Krisenzeiten im Herzogtum Württemberg an. Damit beginnt die dritte Phase des Pietismus. Um 1785 waren die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges wieder ausgeglichen, es kam zu einem starken Bevölkerungswachstum, die landwirtschaftlichen Flächen mussten ausgeweitet werden. Dadurch öffnete sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Als dann durch die Kriege im Zusammenhang mit der Französischen Revolution erneut starke politische Spannungen in Europa herrschten, erlebte der Radikalpietismus eine neue Blüte. Der Leinenweber Johann Georg Rapp aus Iptingen bei Maulbronn stieg zum wichtigsten Anführer auf und sammelte Tausende von Anhängerinnen und Anhänger um sich, die sich von der Kirche trennten. Da der katholische Herzog Karl Eugen und die Kirchenleitung relative Milde walten ließen, konnte sich diese radikale Bewegung zunächst fast ungehindert ausbreiten.
Erst als dann 1797 Herzog Friedrich II. die Regierung antrat, nahm der Druck auf die Separatisten zu. Rapp wanderte 1803 in die Vereinigten Staaten aus, in den beiden nächsten Jahren gefolgt von über 700 seiner Anhängerinnen und Anhänger. In Pennsylvania errichteten die Anhänger Rapps eine Siedlung mit Namen Harmony, wo sie in völliger Gütergemeinschaft und bald darauf auch im Zölibat zusammenlebten. In Württemberg übernahm nun eine sehr radikale Gruppe von Radikalpietisten aus Rottenacker bei Ehingen die Führungsrolle unter den separatistischen Gruppen. Aber Herzog Friedrich, 1803 zum Kurfürsten aufgestiegen, war nicht gewillt, diese als Staatsfeinde angesehenen Radikalpietisten zu tolerieren. In vier Dörfern, nämlich in Rottenacker, Boll, Horrheim und Dettingen unter Teck, ließ er Militärkommandos aufmarschieren und die entschiedensten Radikalpietisten auf die Festung Asperg bringen. Manche von ihnen verbüßten über zwanzigjährige Festungsstrafen! Damit aber kam der gesamte Pietismus in Verruf, was sich daran zeigt, dass in den Visitationsprotokollen jener Jahre sehr häufig von „sogenannten Pietisten“ die Rede ist. Durch die drakonischen Maßnahmen des Landesherren gelang es tatsächlich, den Radikalpietismus so weit in die Schranken zu weisen, dass die Separatisten vor öffentlichen Demonstrationen zurückschreckten. Nun aber kam es zu Auseinandersetzungen mit den kirchenloyalen Pietisten.
Nachdem Kurfürst Friedrich 1806 die Königswürde angenommen hatte, zerschlug er die Sonderstellung der evangelischen Landeskirche und gliederte sie als Behörde in seine Staatsverwaltung ein. Im Jahr 1809 ließ er eine neue Liturgie als Staatsgesetz veröffentlichen, in der nicht nur der pietistische Ton einer „Herzensfrömmigkeit“ fehlte, sondern in der Taufformel auch die Absage an den „Teufel mit all seinem Werk und Wesen“. Diese Liturgie erschien in einer Zeit, da die napoleonischen Kriege bereits ihren Tribut von der Bevölkerung Württembergs forderten. Durch einige aufeinander folgende sehr schlechte Erntejahre kamen die Menschen auch existenziell unter Druck. Deshalb sahen viele Pietisten in der neuen Liturgie ein letztes Zeichen für die anbrechende „Endzeit“ und fühlten sich zum Widerstand aufgerufen. Es kam zur Verweigerung kirchlicher Handlungen, zu eigenmächtigen Taufen und Abendmahlsfeiern. Dieses Mal war die Situation für die königliche Regierung nicht ganz einfach, weil nun unbescholtene Bürger gegen die Staatsgesetze verstießen. Schon seit 1807 galt ein Auswanderungsverbot, um eine wirtschaftliche Schwächung des Königreichs zu verhindern. Obwohl die Obrigkeit bezüglich der neuen Liturgie schließlich einlenken musste, gaben sich die Pietisten nicht zufrieden, zumal mit dem Russlandfeldzug von 1812 ein weiteres schicksalhaftes Ereignis die Katastrophenstimmung anheizte. Die schwere Krise erreichte in den Jahren 1816/17 einen Höhepunkt, nachdem als Folge eines Vulkanausbruchs in Indonesien die Ernte zweier Jahre durch kaltes Wetter und starke Regenfälle fast vollständig vernichtet wurde. Nun ließ sich das Auswanderungsverbot nicht mehr aufrecht erhalten.
Nach dem Tod des Königs Friedrich im Oktober 1816 lockerte sein Sohn und Nachfolger König Wilhelm I. die Bestimmungen. Sofort kam es zu einer Massenauswanderung nach Südrussland. Dort hatte der Schwager des Königs, Zar Alexander I., günstiges Land angeboten. Da Johann Albrecht Bengel das Ende der Welt auf das Jahr 1836 vorausberechnet hatte, wollten die Pietisten dem wiederkommenden Herrn entgegenziehen. Aber Palästina stand unter osmanischer Herrschaft und war damit unerreichbar. Immerhin bestand die Möglichkeit, an einen „Bergungsort“ im Osten, unweit des biblischen Berges Ararat, zu ziehen. Diese Aussicht beflügelte die Auswanderungspläne. Von Ulm aus schifften sich die Auswanderer auf der Donau ein und reisten zu Wasser bis kurz vor die Mündung, wo sie dann auf dem Landweg in ihre neue Heimat kamen. Allerdings hatten sie unvorstellbare Strapazen zu erleiden, und die Hälfte der Emigranten fand auf der Reise den Tod. Ein Kreis um die Separatisten von Rottenacker folgte dem Beispiel des Johann Georg Rapp und emigrierte nach den Vereinigten Staaten, wo sie im Staat Ohio siedelten.
Die Massenauswanderung so vieler ehrbarer Bürger in der schweren Wirtschaftskrise ließ Pläne für Siedlungen mit einer eigenen religiösen Verfassung in Württemberg selbst aufkommen. Geschickt propagierte der Leonberger Bürgermeister Gottlieb Wilhelm Hoffmann solche Projekte sowohl bei den Pietisten als auch bei den Staatsbehörden. Auf einem Rittergut in der Nähe von Stuttgart entstand 1819 die Siedlung Korntal. Allerdings konnten die Pietisten bei der königlichen Regierung nur einen Teil der von ihnen angestrebten Sonderrechte erwirken. Rechtlich war eine vollständige Gütergemeinschaft in Württemberg nicht möglich, und auch eine Befreiung der jungen Männer von der Wehrpflicht ließ sich nicht durchsetzen. Bald aber war Korntal so angewachsen, dass Hoffmann weitere Siedlungen begründen wollte. Die Behörden zeigten sich jedoch nicht bereit, noch mehr „Staaten im Staat“ zu dulden. Erst mit dem Versprechen, ein unwirtliches Moor in Oberschwaben trocken zu legen, konnte Hoffmann die Genehmigung zu Errichtung einer weiteren Siedlung erlangen. Im Jahr 1824 entstand im Lengenweiler Moosried die Siedlung Wilhelmsdorf. Da man jedoch viele problematische Mitglieder aus Korntal nach Oberschwaben schickte und es an einer geeigneten Führungspersönlichkeit fehlte, geriet die Kolonie in wirtschaftliche Schwierigkeiten und ging schließlich 1849 in Konkurs. Nur mit der Ausweisung von einem Drittel der Siedler, rigorosen Maßnahmen und hohen Spenden der württembergischen Pietisten gelang es, Wilhelmsdorf auf eine solide Basis zu stellen.
Durch den Wegzug der Separatistinnen und Separatisten brach die separatistische Bewegung im Königreich Württemberg zusammen. Damit hatte der württembergische Pietismus die widerständigen Gruppen verloren. Allerdings waren damit auch die kreativen, religiös eigenwilligen, prophetischen Elemente zum größten Teil ausgeschieden. Da sich die Zeiten besserten und keine Kriegsgefahr bestand, fehlten die chiliastischen und apokalyptischen Motive, um eine neue Generation von Pietisten zur Separation von der Kirche zu veranlassen. Allmählich organisierte sich die Bewegung, und die Obrigkeit erkannte die Bedeutung von pflichtbewussten, fleißigen Bürgerinnen und Bürgern. Damit beginnt die vierte Phase des Pietismus, der Wandel zu einer staatstrafenden Bewegung mit festen organisatorischen Strukturen und großen diakonischen Einrichtungen.
6: Der Pietismus und seine Entwicklung ab dem 20. Jahrhundert
Durch ein verändertes Freizeitverhalten als Folge der Industrialisierung sah man in kirchlichen Kreisen allgemein die Gefahr, dass sich die Jugend von der Kirche entfremden würde. Deshalb setzten sich viele Pietistinnen und Pietisten für die Etablierung von Jugendgruppen in ihren Kirchengemeinden ein. Sie begannen, Kindergottesdienste zu halten und begründeten Jungfrauen- und Jünglingsvereine. Hier wurde der traditionelle württembergische Pietismus von den Gedanken des Neupietismus und der Erweckungsbewegung beeinflusst. Im 20. Jahrhundert wandelte man dann die Jungfrauen- und Jünglingsvereine fast überall in CVJMs (Christliche Vereine Junger Männer/Menschen) um, die heute vielerorts noch eine wichtige Rolle in der kirchlichen Jugendarbeit spielen.
Den Ersten Weltkrieg überstand der Pietismus insgesamt wahrscheinlich weniger beschädigt als die Landeskirche. Da man im Pietismus nicht zur politischen Parteinahme neigte und damit zum Krieg wahrscheinlich eine passive Haltung im Sinne des Gehorsams gegen die Obrigkeit eingenommen hatte, war die Glaubwürdigkeit nicht so stark beschädigt wie bei der Kirche. Denn die evangelische Landeskirche hatte sich auch theologisch vorbehaltlos für den Krieg ausgesprochen in der Hoffnung, dass sich durch eine solche „Zuchtrute Gottes“ die kirchliche Gesinnung wieder allgemein verbreiten würde. Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Altpietistische Gemeinschaftsverband zum Bau eines „Christlichen Erholungsheimes“ aufgerufen, welches 1916 mitten im Krieg auf dem Schönblick in Schwäbisch Gmünd eröffnet werden konnte und heute als großes christliches Tagungszentrum betrieben wird.
Langsam aber machten sich die sozialen Veränderungen, besonders die zunehmende Industrialisierung, doch bemerkbar. Noch bildeten die pietistischen Gruppierungen in den protestantischen Dörfern Württembergs eine bedeutende gesellschaftliche Gruppe, zumal sich viele Mitglieder aktiv in den Kirchengemeinden beteiligten und deren Leben entscheidend mitgestalteten. Eine enge Verbindung zwischen den Jünglings- und Jungfrauenvereinen sowie den Posaunenchören und den pietistischen Gruppen verlieh diesen einen erheblichen Einfluss. Gleichzeitig wurden die pietistischen Gedanken und Einstellungen an eine neue Generation weiter gegeben. An manchen Orten bauten die pietistischen Gemeinschaften eigene Häuser. Diakonissen wirkten als Gemeindeschwestern und Kindergärtnerinnen. Dass sich bei einer solchen Dominanz des Pietismus vor allem in kleineren ländlichen Gemeinden andere religiöse Formen nur schwer bemerkbar machen konnten, leuchtet unmittelbar ein. Eine Tendenz, die pietistischen Grundeinstellungen als verbindliche religiöse Maßstäbe zu betrachten und andere Auffassungen als Abfall vom wahren Glauben zu interpretieren, ist vielerorts deutlich wahrnehmbar. Auch konnten sich die pietistischen Ideale zur Körper- und Lebensfeindlichkeit auswachsen. Selbstgerechtigkeit, ja manchmal Heuchelei, speziell auch auf materiellem Gebiet, wurden den Pietisten immer wieder vorgeworfen. Im Schwäbischen gibt es den Ausdruck: „Ma will arg re(a)cht sei“. Dieser Vorwurf der religiösen Überheblichkeit wurde den Pietisten im Lauf der Geschichte immer wieder gemacht.
Während des Dritten Reiches gerieten dann viele Pietisten in eine Opposition zur NSDAP, die freilich in den meisten Fällen zur inneren Emigration führte. In manchen Fällen lässt sich aber auch nachweisen, dass Pietisten zu den bevorzugten Opfern örtlicher Parteimitglieder gehörten. Ob jedoch Pietisten überhaupt erheblichen Widerstand gegen den Allmachtsanspruch der NSDAP geleistet haben, wäre noch zu untersuchen. Hier müssten sicher weitergehende Forschungen noch ein aussagekräftiges Gesamtbild erbringen.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sah es zunächst so aus, als ob die Katastrophe des Krieges zu einer Rückkehr traditioneller kirchlicher Formen führen würde. So war in den 1950er Jahren ein starker Kirchenbesuch und eine umfangreiche Jugendarbeit zu verzeichnen. Durch die Verteilung der Vertriebenen aus den östlichen Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches brach die Politik bewusst die konfessionellen Monopole, indem Bevölkerungsgruppen der jeweils anderen Konfession angesiedelt wurde. So kannte man in den protestantischen Dörfern Katholiken nicht mehr nur vom Hörensagen, sondern sie lebten mitten unter den Ortsansässigen. Auf lange Sicht veränderte sich damit das kirchliche Leben nachhaltig.
Allmählich machten sich auch die Einflüsse der rasanten technischen Entwicklung bemerkbar und veränderten – besonders nach 1968 – die Gesellschaft. Das Fernsehen und die Verbreitung von Fortbewegungsmitteln wie Motorrädern und Auto erweiterten den Horizont über den eigenen Ort hinaus. Seit den 1970er Jahren stiegen die Bildungschancen der Kinder aus den Mittelschichten an. Dies führte zu längeren Ausbildungszeiten, aber auch zu einer verstärkten Mobilität, da Arbeitsplätze in höheren Positionen nur noch bedingt in der Nähe des Herkunftsortes zu finden waren. Gleichzeitig ermöglichten neue, relativ sichere Verhütungsmethoden sexuelle Aktivitäten ohne Angst vor einer Schwängerung. Nichteheliche Lebensgemeinschaften wurden zunehmend akzeptiert, steigende Scheidungsziffern bewirkten eine Vielzahl an Partnerschaftsformen. Seit den 1990er Jahren veränderte sich das Leben durch erweiterte Dienstleistungsangebote, eine stark anwachsende Medienlandschaft und einen gehobenen Lebensstandard in der Mittelschicht rasant weiter. Gegenwärtig sieht sich die Gesellschaft konfrontiert mit dramatischen ökonomischen Umbrüchen, einer zunehmenden Kluft zwischen Reich und Arm sowie einer überaus starken Pluralität an religiösen und sozialen Werthaltungen.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen machten vor dem Pietismus nicht halt. Tendenziell führten sie zu einer Stärkung der jeweiligen Flügel, also zum Schwinden einer mittleren Position. In den pietistisch geprägten CVJMs, im Evangelischen Jugendwerk und in liberaleren Kirchengemeinden wurden die neuen Zeitströmungen zumindest zum Teil rezipiert. So beschäftigte man sich mit neuen Gottesdienstformen, mit der Situation der Dritten Welt und mit sozialen Projekten. Das Evangelische Jugendwerk in Stuttgart setzt sich auch für neue Arbeitsformen in der Jugendarbeit ein. Freilich ist zu fragen, welche christlichen Normen noch als verbindlich angesehen werden können. Selbst der Altpietistische Gemeinschaftsverband muss sich heute eingestehen, dass auch in seinen Gruppen Ehen auseinanderbrechen. Auch Pietistinnen und Pietisten sind mit den Bedingungen einer sich wandelnden Gesellschaft direkt konfrontiert und davon beeinflusst.
In manchen anderen kirchlichen Gruppierungen verlor sich das Religiöse weitgehend, weil das soziale Engagement in den Vordergrund rückte. Die Toleranz gegenüber anderen Konfessionen und Religionen barg immer die Gefahr synkretistischer Tendenzen. Eine Abkehr von der zwanghaften religiösen Erziehung der Kinder konnte ins Gegenteil, die Gleichgültigkeit und Distanz gegenüber der Kirche oder den dezidiert christlichen Werten führen. Auch im öffentlichen Bereich werden diese Entwicklungen sichtbar. Wenn man etwa an den Religionsunterricht in Baden-Württemberg denkt, so ist das katechetische Element fast ganz aus den Lehrplänen verschwunden. Hier spielen pietistische Werte keine Rolle mehr. Unter der Prämisse „weltanschauliche Neutralität“ setzt sich die Verdrängung religiöser Inhalte fort, zumal viele Religionslehrerinnen und -lehrer keine Beziehung zur Kirche haben.
Auf der anderen Seite steuerten die pietistischen Vereinigungen einen wertkonservativen Kurs, der die neuen Entwicklungen kaum zur Kenntnis nahm. Damit gerieten sie in den Verdacht, Parallelstrukturen zur Kirche aufbauen zu wollen. Dagegen nutzten die pietistischen Gruppierungen in hohem Maße die neuen technischen Entwicklungen wie Computer oder Satellitenfernsehen, weil sie in ihnen Werkzeuge zur Verkündigung des Wortes Gottes sahen. Auch neue Lieder verbreiteten sich in den Gruppen, und in der Jugendarbeit versuchte man, auf die Situation der Jugendlichen einzugehen. Aber im Wesentlichen blieb man bei den religiösen Normen des traditionellen Pietismus und verwarf häufig moderne Strömungen als unchristlich. Wiederum stehen dem jedoch ein starkes Engagement in den örtlichen Kirchengemeinden und im sozialen Bereich gegenüber. Beispielsweise hat der Altpietistische Gemeinschaftsverband im Stuttgarter Rotlichtviertel ein Hilfszentrum für Prostituierte und Stricher aufgebaut.
Die Rückbesinnung auf die Geschichte des Pietismus kann helfen, den eigenen Standpunkt oder die Arbeit in einer religiös orientierten Gemeinde zu bedenken. Deshalb ist eine differenzierte Wahrnehmung dieser Frömmigkeitsbewegung so wichtig. Man merkt, dass der Pietismus nicht als uniforme Bewegung verstanden werden kann, sondern sehr viele Schattierungen zeigte. Sozial gesehen löste sich das Individuum von der unbedingten Verpflichtung gegenüber gesellschaftlichen Normen und übernahm die Verantwortung für die persönliche religiöse Praxis. Die implizite Aufforderung zur tätigen Ausübung des Glaubens stimulierte die individuelle Tatkraft und darüber hinaus soziale Aktivitäten. Die Frage, wie weit religiöse Überzeugungen für eine nachhaltige Arbeit in einer Kirche oder Gemeinschaft notwendig sind, erscheint als Grundanliegen unvermindert relevant. Dabei müssen allerdings die Grenzen mitbedacht werden, sei es die Gefahr der Aufopferung oder die der Überheblichkeit. Nach der Verantwortung der oder des Glaubenden zu fragen, ist auch heute noch aktuell, denn sonst wäre das Thema Pietismus nur eine historische Reminiszenz.
Aktualisiert am: 19.04.2021
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