Der Betsaal Wilhelmsdorf

Von: Fritz, Eberhard

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Die Architektur des Betsaals
  2. 2: Die Siedlung Wilhelmsdorf
  3. 3: Wilhelmsdorf heute
  4. Anhang

Im Buch über die Kunst- und Altertumsdenkmale heißt es über den Betsaal in Wilhelmsdorf: „Betsaal der Brüdergemeinde, 1828 gebaut. Quadratischer Grundriß mit in den Mittelachsen vorgelagerten Risaliten, deren flache Giebel in das Pyramidendach reichen. Auf der Spitze des Daches Dachreiter. Inneres schmucklos.“

Schon diese knappe Information verrät Wesentliches über den Charakter des Betsaals. Es gibt bis heute in Wilhelmsdorf keine evangelische Kirche. Mittelpunkt der Gemeinde ist ein heller Saal ohne jeden Schmuck, aber auch ohne Altar und Kanzel. Nur eine Orgel befindet sich im Saal. Schon diese architektonische Gestaltung weist auf den Charakter der Gemeinde als Brüdergemeinde hin. Der Gottesdienst wird nicht vom Pfarrer dominiert, sondern von der Gemeinde gestaltet. Der Saal ist auf den Brüdertisch ausgerichtet, an dem mehrere Personen sitzen und den biblischen Text auslegen. Früher konnten nur Männer in den Brüdergemeinderat gewählt werden, aber heute sind die Frauen gleichberechtigt, obwohl das Gremium seinen Namen behalten hat. Man spricht allerdings von Brüdergemeinderäten und -gemeinderätinnen. Durch die Schmucklosigkeit des Betsaals soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es nicht um ein schönes Gotteshaus geht, sondern um das Wort Gottes. Dieses ist der Mittelpunkt der Gemeinde.

1: Die Architektur des Betsaals

StAL E 191_Bü 6732 Aufriss Betsaal

Der Betsaal wurde vier Jahre nach der Begründung der Siedlung gebaut. König Wilhelm I. von Württemberg, nach dem die Siedlung benannt wurde, stiftete nicht nur das Bauholz, sondern nach der Einweihung des Betsaals noch eine Orgel. Mehrmals kam er nach Wilhelmsdorf, um sich selbst ein Bild von der Brüdergemeinde zu machen. Deshalb war die Gemeinde dem König immer sehr dankbar; ein Buch trug sogar den Titel „Wilhelmsdorf, ein Königskind“.

Auch in der äußeren Architektur spiegeln sich die theologischen Überlegungen wider. Der Saal hat vier Eingänge, die nach den vier Himmelsrichtungen ausgelegt sind. Über den vier Türen sind Engel mit Posaunen als metallene Figuren zu sehen. Auf der Spitze steht das Lamm Gottes. All dieses nimmt Bilder aus der Johannesapokalypse oder der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, auf. Es gibt das Bild von den Engeln mit den Posaunen, welche die Gerichte Gottes ankündigen. Dann hat die Stadt Gottes, also das himmlische Jerusalem, Tore in alle vier Himmelsrichtungen. Schließlich wird nach dem letzten Kapitel der Offenbarung „der Thron Gottes und des Lammes in der Stadt sein“. Auf dem Dach des Betsaales soll der Besucher daran erinnert werden, dass er sich dem Gericht Gottes zu stellen hat. Aber der gläubige Christ wird in der ewigen Stadt, im Himmel, sein.

2: Die Siedlung Wilhelmsdorf

Wilhelmsdorf Situationsplan AHW 300 dpi

Die württembergischen Pietisten wollten mit ihrer Siedlung auch schon äußerlich ihre religiösen Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Deshalb legten sie die Siedlung planmäßig an, indem sie die Wohnhäuser kreisförmig um den Betsaal bauten. Kein Wohnhaus sollte höher sein als das andere, damit sich die eine Familie nicht über die andere erheben konnte. Lange Zeit gab es kein Gasthaus am Ort, weil man den übermäßigen Alkoholgenuss und das Kartenspiel um Geld verabscheute. Dagegen spielte der Handel bald eine wichtige Rolle, weil die Kaufleute am Ort als ehrliche Leute galten und in einem guten Ruf standen. Allerdings war ursprünglich nur jeweils ein Vertreter eine bestimmten Handwerks zugelassen, was aber auch Nachteile mit sich brachte, weil auf Grund mangelnder Konkurrenz eben Mängel teilweise nicht abgestellt wurden. Erst später erlaubten die Vorsteher eine Aufstockung einzelner Gebäude, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen notwendig wurden. Noch heute kann man am Pfarrhaus sehen, wie hoch die Wohnhäuser ursprünglich waren. Vom Betsaal führen vier Straßen in der Form eines Kreuzes weg. So hat sich die Grundstruktur der ursprünglichen Siedlung bis heute erhalten.

Zweifelsohne war Wilhelmsdorf von der pietistischen Siedlung Herrnhut, einer Siedlung im Süden des Freistaats Sachsen, beeinflusst. Auch dort bildet ein Kirchensaal, der allerdings nicht quadratisch ist, den Mittelpunkt der Gemeinde. Aber es gibt auch andere religiöse Siedlungen, die nach einem Plan angelegt waren. Dahinter steckt der Gedanke, dass man auch im Alltag ständig daran erinnert wird, dass man in einer christlichen Gemeinschaft lebt.

Wichtig ist die Bedeutung der Offenbarung des Johannes, weil die Pietisten fest damit rechneten, dass Jesus im Jahr 1836 wiederkommen würde. Das hatte der bekannte pietistische Theologe Johann Albrecht Bengel durch komplizierte Berechnungen aus der Bibel errechnet. Was heute etwas seltsam erscheinen mag, beschäftigte die Menschen damals sehr, auch deshalb, weil sie viel Not durchmachen mussten. Im frühen 18. Jahrhundert hatte ganz Südwestdeutschland unter den schweren Belastungen der napoleonischen Kriege zu leiden. Als dann in den Jahren 1816/17 eine große Wirtschaftskrise mit Teuerung und Hungersnöten über Württemberg hereinbrach, schienen sich die biblischen Voraussagen von schweren Katastrophen vor der Wiederkunft Christi zu erfüllen. Diese Erwartungshaltung wurde zu einer wichtigen Triebfeder der Siedlung Wilhelmsdorf, denn wenn das Ende der irdischen Welt nahe bevorstand, brauchte man eigentlich keinen äußeren Luxus mehr.

3: Wilhelmsdorf heute

Am Saalplatz befinden sich das Pfarrhaus und das Hauptgebäude des Kinderheims Hoffmannhaus, in dem bis heute Kinder und Jugendliche betreut werden. Natürlich sind die sozialen Einrichtungen sehr gewachsen und zum großen Teil in neueren Gebäuden untergebracht. Aber das Kinderheim erinnert daran, dass in Wilhelmsdorf praktisch von Anfang an auch soziale Einrichtungen begründet wurden. Noch heute wird der Charakter der Gemeinde auch von diesen Einrichtungen maßgeblich bestimmt. Damit nimmt Wilhelmsdorf bis zur Gegenwart eine Sonderstellung in Oberschwaben ein.

Aktualisiert am: 16.03.2021