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Von: Fritz, Eberhard
Inhaltsverzeichnis
In den Jahren 1816 und 1817 verließen etwa 10.000 Männer, Frauen und Kinder das Königreich Württemberg und machten sich auf den Weg nach Südrussland. Dort hatte ihnen der russische Zar Alexander I. Land zu günstigen Bedingungen versprochen. Er wollte mit den fleißigen schwäbischen Kolonisten unkultivierte Landstriche besiedeln, indem diese vorbildliche Siedlungen anlegten. In Ulm schifften sich die Auswanderer auf der Donau ein und fuhren auf dem Fluss hinunter bis ans Schwarze Meer. Bei der langen, gefährlichen Reise starben viele Menschen.
Bislang herrschte in der historischen Forschung die Meinung vor, dass es sich um eine pietistisch motivierte Auswanderung gehandelt habe. Drei Jahrzehnte lang anhaltende Krisen- und Notzeiten hatten tatsächlich weithin apokalyptische Ängste ausgelöst. Die fortwährenden Kriege der napoleonischen Zeit, die Inflation sowie Missernten und Hungersnöte wurden vor allem in pietistischen Kreisen als Zeichen einer nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi gedeutet, wie sie in der biblischen Offenbarung des Johannes beschrieben sind. Nähere Untersuchungen vermitteln jedoch ein differenziertes Bild. So dürfte im Königreich Württemberg der Anteil der aktiven Pietisten, also derjenigen Menschen, welche die Versammlungen („Stunden“) besuchten, nur bei etwa 7-8% der Bevölkerung gelegen haben. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die Auswanderer zu einem großen Teil aus einer so geringen Minderheit rekrutierten. Zwar ist mit einem erheblichen Anteil von Sympathisanten zur rechnen, die keine Versammlungen besuchten, aber pietistisch beeinflusst waren. Aber selbst dann wäre eine „pietistische Auswanderung“ unwahrscheinlich.
1: Separatismus
Neben den kirchentreuen Pietisten gab es in Württemberg in manchen Orten und Gegenden Separatisten. So nannte man die Pietisten, welche sich aus religiösen Gründen von der Kirche getrennt hatten. Seit 1785 war diese Bewegung unter dem Eindruck schwerer politischer und wirtschaftlicher Krisen stark angewachsen.(1) In vielen grenznahen Gegenden des Herzogtums Württemberg sowie im Remstal separierten sich ganze Gruppen. Einen fähigen Anführer fanden sie in dem Leinenweber Johann Georg Rapp (1757-1847) aus Iptingen bei Maulbronn. Er organisierte die Bewegung, indem er im Land umherreiste und eine umfangreiche Korrespondenz unterhielt.(2) Aufgrund der politischen Gegebenheiten im Land übten die kirchlichen und weltlichen Behörden zunächst kaum Druck auf Rapp und seine Anhänger aus. So konnte sich eine separatistische Bewegung weitgehend unbehelligt entfalten, der sich mehr als 3.000 Menschen anschlossen.(3) Herzog Friedrich II., der 1797 die Regierung in Württemberg antrat, wollte jedoch die religiösen Abweichler nicht mehr dulden. Nachdem Soldaten eine Versammlung in einer Ziegelhütte bei Knittlingen gesprengt hatten, erkannte Rapp, dass es nun für seine Bewegung und ihn gefährlich werden würde. Er emigrierte 1803 in die Vereinigten Staaten, wohin ihm in den folgenden beiden Jahren etwa 700 Anhängerinnen und Anhänger folgten.(4) In der Nähe der Stadt Pittsburgh im Staat Pennsylvania entstand die Siedlung Harmonie. Nach kurzer Zeit schafften Rapp und seine Familie jegliches Privateigentum ab und führten die Gütergemeinschaft ein. Alle Einwohner von Harmony brachten ihr Vermögen in eine Gesellschaft ein. Jeden Montag konnten sie im örtlichen Laden alles, was sie benötigten, holen. Einige Jahre danach zwang George Rapp - wie er in Amerika genannt wurde - allen Einwohnern von Harmony, also auch den Ehepaaren, aus religiösen Gründen die sexuelle Enthaltsamkeit auf. Gleichwohl blühte die Siedlung wirtschaftlich auf und galt bald als vorbildliches Gemeinwesen.(5) Allen, die sich an die Regeln hielten, ging es offenbar sehr gut. Dass Rapp im Lauf der Zeit immer autoritärer über seine Anhänger herrschte, entging den Besuchern, wenn sie sich nur kurze Zeit in Harmony aufhielten. Über Zeitungsartikel und Bücher gelangten die Beschreibungen der Siedlung auch nach Europa. Im Jahr 1814 gab Johann Georg Rapp die Siedlung Harmony auf und begründete in der Wildnis von Indiana am Fluss Wabash eine neue Siedlung New Harmony.
Nach der Auswanderung Rapps ging die Führungsrolle innerhalb der separatistischen Bewegung auf eine Gruppe in Rottenacker bei Ehingen über.(6) Eine dominante Führungspersönlichkeit wie Rapp etablierte sich nicht mehr; vielmehr gab es mehrere Männer, die als Leiter angesehen wurden. Da es sich um eine sehr kleine Gemeinschaft handelte und die Gesinnungsgenossen in verschiedenen weit voneinander entfernten Orten lebten, musste die Kommunikation durch ständige Korrespondenz untereinander und durch umherreisende Männer und Frauen aufrechterhalten werden. Durch ihr Sendungsbewusstsein und ihre organisatorischen Fähigkeiten waren die charismatischen Führungspersönlichkeiten in der Lage, auch größere Unternehmungen zu leiten. Von Anfang an war der Kreis um Rottenacker wesentlich politischer ausgerichtet als der Zirkel um Rapp. Mit der Ablehnung der Eidesleistung und des Militärdienstes erregten die Separatisten Ärgernis und provozierten den inzwischen zum Kurfürsten aufgestiegenen Landesherren. Im Jahr 1804 ließ Kurfürst Friedrich in Rottenacker, Boll und Dettingen unter Teck die renitenten Separatisten durch Militärkommandos verhaften und auf die Festung Hohenasperg bringen. Außerdem wurden in anderen Orten einzelne Männer verhaftet und zu einer Festungsstrafe verurteilt. Auf der Festung verbüßten einige Separatisten lange Strafen, während die Frauen mit Hilfe von Gesinnungsgenossen die Landwirtschaft weiterführten. Europa erlebte ein Jahrzehnt der Kriege; gleichzeitig kam es zu einer Reihe von Missernten und Ertragsausfällen in den Weinbergen. Die Katastrophe des Russlandfeldzugs Napoleons von 1812, bei dem Tausende von Württembergern mitzogen und nur wenige Hundert wieder zurückkehrten, konnte im Sinne der biblischen Offenbarung des Johannes als eines der Vorzeichen für das nahe Weltende gedeutet werden.
2: Auslöser der Auswanderung
In den religiösen Kreisen des Königreichs Württemberg brachte man diese Krisenjahre in Verbindung mit einer neuen Liturgie, welche 1809 auf dem Gesetzweg eingeführt worden war. Viele Pietisten lehnten diese Gottesdienstformeln ab, weil beispielsweise in der Taufe die Absage an den Teufel fehlte.(7) Nun übernahmen kirchenloyale Pietisten die Verhaltensweisen der Separatisten, indem sie nicht mehr zum Gottesdienst und zum Abendmahl erschienen und ihre Kinder von der Schule zurückhielten. Es herrschte in diesen Kreisen eine solche Unruhe, dass Strafen wenig erfolgversprechend erschienen. Denn nun lehnten sich angesehene Bürger gegen die staatlichen Vorschriften auf. Sie konnte man nicht ohne weiteres hart bestrafen. Der gemeinsame Widerstand gegen das neue Gesangbuch und die neue Liturgie festigte den Zusammenhalt in den pietistischen Gruppen.
Zwar endete mit der Völkerschlacht bei Leipzig die Herrschaft Napoleons, aber die Zeiten blieben schwierig. Eine neue schwere Katastrophe brach über Württemberg nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora herein. Durch die ausgeschleuderte Asche verfinsterte sich 1816 die Atmosphäre über Mitteleuropa. Extreme Kältewellen und schwere Regenfälle führten zu einem völligen Ernteausfall. Nun ließ sich ein seit 1807 bestehendes Auswanderungsverbot nicht mehr aufrechterhalten. Es kam zur ersten Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts nach Südrussland; nur wenige Emigranten wählten Nordamerika als Ziel.(8) Dazu gehörte ein Zirkel um die Separatisten von Rottenacker, welche im Staat Ohio die Siedlung Zoar begründete. Dort war wie in den Siedlungen Rapps jegliches Privateigentum abgeschafft, aber die sexuelle Enthaltsamkeit wurden nur einige Jahre lang während des Aufbaus der Siedlung praktiziert.(9)
3: Das Hauptziel der Auswanderer
Das Hauptziel bildete aber Russland, zumal Zar Alexander I. die Emigranten mit günstigen Bedingungen anwerben ließ. Innerhalb kurzer Zeit organisierten sich die Auswanderergruppen in zehn sogenannten „Harmonien“. Der Name verweist auf einen religiösen Begriff und ist nicht zufällig identisch mit den Namen der ersten beiden Siedlungen von Johann Georg Rapp. Nach dem Vorbild der göttlichen Harmonie sollten die Emigranten in brüderlicher Verbundenheit die weite und gefährliche Reise überstehen. Nach Ralph Tuchtenhagen bildeten Separatisten den Kern der Auswanderungsharmonien, in denen eine Gütergemeinschaft, mindestens aber eine „starke Solidarität auf materieller Ebene“ herrschte.(10) Über die Risiken der Auswanderung dürften sich die wenigsten Menschen Illusionen gemacht haben. Durch Beschreibungen und durch Erzählungen von Menschen, die sich auskannten, war der Flusslauf der Donau sicher so weit bekannt, dass man manche gefährlichen Stellen fürchtete. Berüchtigt waren beispielsweise die Strudel bei der österreichischen Stadt Grein. Daneben musste man bei einer so langen Reise zu Wasser den Ausbruch von Krankheiten fürchten. Freilich bot auch hier wieder die Bibel mit ihren Flucht-Geschichten, vor allem mit der Erzählung von der Flucht des Volkes Israel aus Ägypten nach Kanaan, ein anschauliches Beispiel. Religiöse Interpretationen der Migration boten sich an, denn in den biblischen Geschichten wurden die Schwierigkeiten und die Gefahren einer langen Reise anschaulich beschrieben. Es dürfte den Menschen durchaus bewusst gewesen sein, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten. In der alttestamentlichen Geschichte vom Einzug der Israeliten ins Land Kanaan erblickte Mose noch das Land Kanaan, aber er starb, bevor das Volk Israel hineinzog. Da aber die Flucht aus Ägypten mit dem Einzug in das „gelobte Land“ endete, übertrugen die Auswanderer diese alttestamentlichen Geschichten auf ihre Situation und hofften auf bessere Zeiten im südlichen Russland. In diesem Zusammenhang erschien ihnen der fromme Kaiser Alexander I., ein Bruder der Königin Katharina von Württemberg, als religiöse Lichtgestalt. Die erhaltenen Berichte über die Reise nach Südrussland weisen häufig religiöse Bezüge auf. Daraus aber den Schluss zu ziehen, als ob alle Auswanderer aus religiösen Gründen die Heimat verlassen hätten, wäre eine Fehlinterpretation.(11) Es mischten sich verschiedene Motive, wobei ökonomische Aspekte in den meisten Fällen den Ausschlag gegeben haben dürften. Daneben trat ein Phänomen auf, das sich bei vielen Migrationen beobachten lässt: Es kam zu einer gewissen Sogwirkung, indem sich manche Familien bewogen fühlten zu emigrieren, weil Verwandte oder Nachbarn es auch taten.
4: Die Anführer der Auswanderungsbewegung und ihre religiöse Ausrichtung
Während also die Auswanderergruppen in ihrer Mehrzahl aus Menschen bestanden, welche keine organisierten Pietisten waren, lassen sich die Anführer der zehn „Harmonien“ als entschiedene Pietsten oder gar Separatisten nachweisen. Denn neben ihrer Autorität als Führer einer Gemeinschaft mussten sie religiöses Charisma mitbringen, um eine große Gruppe bei der langen Reise zu leiten und zu organisieren. Freilich waren sie in ihrer Heimat Außenseiter gewesen, und das machte sich auch bei der Auswanderung bemerkbar. Einige Anführer erwiesen sich als so dominant, dass sie heftige Kritik auf sich zogen. Andere unterschlugen Geld oder verschwanden mit der gemeinsamen Reisekasse.(12) Freilich stellte sich immer die Frage, wer statt ihrer die „Harmonien“ anführen sollte. Da es im Grunde keine Alternativen gab, mussten sich die Auswanderergruppen den Leitern unterordnen.
Als Beispiel kann der Weingärtner Georg Friedrich Fuchs (*1769) aus Schwaikheim herangezogen werden. Er hatte sich 1811 von der Kirche separiert und eine größere Gruppe um sich versammelt. Mit einem Vermögen von etwa 500 Gulden gehörte er zu den Bürgern der unteren Mittelschicht. Da sich Fuchs gegen kirchliche und weltliche Gesetze auflehnte, wurde er zu Geldstrafen verurteilt und schließlich auf der Festung Hohenasperg in Arrest genommen. Die Schwaikheimer Separatistengruppe ist dem Kreis um Rottenacker zuzuordnen. Bereits 1812 ist eine Gruppe „Schwaikheimer Harmonie der Kinder Gottes“ unter der Leitung von Fuchs mit 23 Mitgliedern belegt. Durch seine Tätigkeit als Leiter dieser „Harmonie“ eignete sich der Weingärtner Georg Friedrich Fuchs so viele Fähigkeiten an, dass ihm die Führungsrolle in der Auswanderergruppe „Schwaikheimer Harmonie“ zufiel.
5: Die religiöse Ausrichtung der Gemeinden in Südrussland
Nach der Ankunft in Südrussland zeigte sich beim Aufbau der Gemeinden erneut, dass der Pietismus, vor allem aber der Separatismus, nur eine untergeordnete Rolle spielte. Jede Kolonie wurde einer Konfession zugeordnet, es gab also katholische und evangelische Gemeinden. So gut es ging, versuchte man, die gewohnten kirchlichen Strukturen auf die neuen Gemeinden zu übertragen. Zum einen gab die gewohnte Religiosität den Siedlern Halt und strukturierte das Alltagsleben, zum anderen trug sie zur gemeinsamen Identität bei. Außerdem kontrollierten Pfarrer und Schullehrer die öffentliche Moral, und das war gerade in der Aufbauphase sehr wichtig. Wie in den Herkunftsländern wurden voreheliche intime Beziehungen und uneheliche Schwangerschaften santioniert. Wenn eine Braut schwanger war, durfte sie normalerweise nicht am üblichen Wochentag heiraten. Die Hochzeit wurde eher im kleinen Rahmen gefeiert, während normalerweise Hochzeiten gesellschaftliche Anlässe waren, zu denen sehr viele Menschen eingeladen waren. Diese moralische Kontrolle war wichtig, um die öffentlichen Kassen nicht zu sehr mit Ausgaben für unversorgte Frauen und Kinder zu belasten. Vor allem wenn eine schwangere Frau den Vater ihres Kindes nicht heiratete, drohte sie der Armenversorgung anheimzufallen.
Freilich gab es in den ersten Jahren in manchen Gemeinden ganz erhebliche Probleme. Wilhelm Kludt, der 1900 eine Geschichte der deutschen Kolonien in Bessarabien verfasste, zeichnet für Tarutino und Majolarosslawetz aus eigenen Erinnerungen ein trostloses Bild der Kirchengemeinden. Er vermisste jegliche religiöse Einstellung der Kolonisten und berichtet, dass viele Männer betrunken oder Pfeife rauchend in den Gottesdienst kamen. Die Kinder schickte man nur in denWintermonaten unregelmäßig zur Schule. Pfarrer, Schullehrer und Schultheißen wurden trotz eines anstößigen Lebenswandels in ihren Ämtern belassen.(13) Mögen diese Schilderungen die Missstände auch in greller Form beleuchten, so zeigen sie doch, dass nicht überall ein strang religiöser Grundzug in den Gemeinden herrschte.
In manchen Gemeinden gab es separatistische Tendenzen, so zum Beispiel in der 100 Kilometer nördlich von Odessa gelegenen Siedlung Hoffnungstal.(14) Schon der Name der Siedlung verrät, dass es sich nur um eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Palästina handeln sollte. Aber der russische Staat wollte wahrscheinlich solche radikalpietistischen Gruppierungen ebenso wenig dulden wie der König von Württemberg. Denn mit ihren urchristlichen Vorstellungen stellten sich die Separatisten gegen staatliche Normen, etwa wenn sie den Eid verweigerten oder die Gottesdienste nicht mehr besuchten. Zar Alexander I. hatte lediglich die jungen Männer vom Militärdienst befreit. Damit konnten die Pietisten ihre pazifistische Grundeinstellung als einzige Norm gegenüber der russischen Obrigkeit durchsetzen. In allen anderen Bereichen forderte der Zar von den Siedlern Gehorsam und eine Anpassung an die staatlichen Normen. In den ersten Jahrzehnten herrschte ein Pfarrermangel. Da manche Gemeinden deshalb in religiöser Hinsicht nur unzureichend versorgt waren, gab es manche sektiererische Gruppen. Keine davon hatte über längere Zeit Bestand. So entstanden nur wenige Gemeinden, in denen eine entschiedenere Religiosität als üblich festzustellen ist. Die Schwabenkolonien Neuhoffnung, Neuhoffnungstal, Rosenfeld und Neu-Stuttgart bei Berdjansk werden von Karl Stumpp in seinem Werk „Die Auswanderung der Deutschen nach Russland“ als „evangelisch separiert“ klassifiziert. Näheres dazu erfährt man nicht.(15)
6: Sarata als Beispiel einer entschieden religiösen Gemeinde
Das signifikanteste Beispiel für eine entschieden religiöse Gemeinde ist Sarata in Bessarabien.(16) Unter Führung des Pfarrers Ignaz Lindl(17) siedelten sich dort Menschen aus Bayern, Württemberg und der Pfalz an. In mehreren Gruppen kamen die Siedler an.(18) Als eines der ersten Häuser wurde 1822 im Zentrum des Ortes ein Betsaal errichtet, also keine Kirche, sondern ein schlichter Saal in einem Haus ohne Turm. Hier wird der Einfluss aus der drei Jahre zuvor begründeten pietistischen Siedlung Korntal in der Nähe von Stuttgart spürbar.(19) Auf Vorschlag des Leonberger Bürgermeisters Gottlieb Wilhelm Hoffmann hatte König Wilhelm I. der Errichtung einer pietistischen Gemeinde mit religiösen Privilegien in Württemberg zugestimmt. Damit sollte die Auswanderung von Menschen, welche ausschließlich aus religiösen Gründen das Königreich verließen, verhindert werden. In Korntal gab es ebenfalls einen Betsaal. Nachdem Ignaz Lindl mit württembergischen Pietisten in Verbindung stand, wusste er von Korntal und richtete offenbar seine Gemeinde nach diesem Vorbild aus. Er wurde als Geistlicher gewählt und führte ein strenges christliches Leben ein. Jeden Tag fanden Betstunden statt, der Sonntag bestand aus einer Folge von Gottesdiensten und religiösen Betrachtungen: Der Sonntag wurde regelmäßig so gefeiert: Morgens früh Frühlehre, um 10 Uhr Hauptgottesdienst, um 2 Uhr Kinderlehre, Abends Abendbetrachtung mit Gebet im Betsaale. Während der Kinderlehre versammelten sich die Leute in verschiedenen Häusern und erbauten sich in Gotteswort und gemeinschaftlichem Gebet, oder wohnten der Kinderlehre bei. Nach der Kinderlehre machte die Jugend, wenn die Witterung günstig war, vom Betsaal aus, Arm an Arm in langen Reihen, ein geistliches Lied singend, einen Spaziergang durch die Kolonie, die Jünglinge nach dieser, die Jungfrauen nach einer andren Richtung. Eine Strecke vor der Kolonie setzten sie sich im Grünen und sangen noch einige Verse, lasen ein Kapitel, einer der ältesten sprach ein freies Gebet knieend, auf welches ein Schlußgesang folgte und alles ruhig nach Hause ging. In der Woche war jeden Tag Morgen- und Abendgebet im Betsaale.(20) Lindl selbst war katholischer Priester gewesen, hatte sich aber unter dem Eindruck der Allgäuer Erweckungsbewegung und durch die Bekanntschaft mit württembergischen Pietisten dem Protestantismus pietistischer Prägung zugewandt. Als Konvertit vertrat er strenge religiöse Normen.
Damit machte er sich jedoch in Sarata angreifbar. Durch seine lebendigen Predigten zog Lindl viele Zuhörer aus anderen Gemeinden an, welche zum Teil aus weiter Entfernung kamen, um ihn zu hören. Seine Pfarrerskollegen wurden eifersüchtig und erreichten schon nach einem Jahr, dass Ignaz Lindl von seiner Pfarrstelle abberufen wurde. Die Nachfolger setzten den entscheiden pietistischen Kurs nicht mehr fort, sondern führten die Gemeinde Sarata wie die anderen Gemeinden im Rahmen der gewohnten kirchlichen Organisation. Wie in Württemberg äußerte sich die pietistische Ausrichtung der Gemeinde in der Begründung von Anstalten, etwa einem Lehrerbildungsseminar und einer Diakonissenanstalt. An die Stelle einer obrigkeitskritischen pietistischen Frömmigkeit war eine tätige Religiosität getreten, wie sie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typisch ist.
Die Gemeinde Sarata steht damit beispielhaft für die allgemeine Entwicklung der deutschen Gemeinden in Südrussland. Dort gehörte eine kirchliche Prägung mit pietistischen Einflüssen zum Alltagsleben und zur gemeinsamen Identität der deutschstämmigen Bevölkerung. In vielen Orten bestanden pietistische Versammlungen, aber die entschiedenen Pietisten dürften wie im Herkunftsland Württemberg eine kleine Minderheit gewesen sein. Nach der ausgebliebenen Wiederkunft Christi im Jahr 1836 sind kaum mehr separatistische Strömungen festzustellen. Nun begann die Ära der christlichen „Anstalten“, wie sie auch in den protestantischen deutschen Ländern typisch war. Damit folgten die südrussischen deutschen Gemeinden den allgemeinen Strömungen im europäischen Protestantismus, freilich mit einer eigenen, in ihrer Migrationsgeschichte begründeten Prägung.
Aktualisiert am: 21.04.2021
Bildnachweise
- New Harmony 1832
New Harmony 1832
F. Bodmer
- Tabula chronologica Nabern. Schaubild beruht auf Johann Albrecht
Tabula chronologica Nabern. Das Schaubild beruht auf Johann Albrecht Bengels chronologischen Berechnungen der Daten der Heilsgeschichte, die aus der Apokalypse entnommen sind.
Original im Dekanatsarchiv Kirchheim/Teck.
- Titelblatt der 1. Auflage von JOHANN JAKOB FRIEDERICHs im Jahr 1
Titelblatt der 1. Auflage von JOHANN JAKOB FRIEDERICHs im Jahr 1800 anonym erschienener Schrift „Glaubens und Hoffnungs-Blik“. Ein Werk, das die Auswanderungsbestrebungen stimuliert hat.
Landeskirchliche Zentralbibliothek Stuttgart
Zitierweise
https://wkgo.de/cms/article/index/die-auswanderung-nach-sudrussland-1816-1817-ein-pietistisches-unternehmen (Permalink)
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