Jakob Andreae und die Reformation in Wiesensteig, Öttingen und Wachendorf

Von: Raeder, Siegfried

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Zur Person
  2. 1.1: Die Größe von Andreaes Lebenswerk
  3. 1.2: Der geschichtliche Rahmen seines Wirkens
  4. 1.3: Biographische Quellen
  5. 1.4: Biographische Daten
  6. 2: Die Reformation in Öttingen
  7. 2.1: Ihr Verlauf
  8. 2.2: In Öttingen gehaltene Predigten
  9. 3: Die Reformation in Wiesensteig
  10. 4: Die Reformation in Wachendorf
  11. 4.1: Ihr Verlauf
  12. Die Wachendorfer Predigten
  13. 5: Abschließende Würdigung
  14. Anhang

1: Zur Person

1.1: Die Größe von Andreaes Lebenswerk

Jakob Andreae (1528-1590), Kupferstich

Reproduktion des Kupferstichs. Landeskirchliches Archiv stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2534.

Als der Tübinger Theologieprofessor und Kanzler der Universität Jakob Andreae am 7. Januar 1590 gestorben war, sah sich sein Kollege Jakob Heerbrand 1521-1600 der ihm die Leichenrede halten sollte, vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Wie konnte er in der gebotenen Kürze das Lebenswerk eines Mannes würdigen, der in allen wichtigen Dingen die Kirchengeschichte Deutschlands fast ein halbes Jahrhundert hindurch begleitet und maßgeblich mitgestaltet hatte?(1)

In diesem Beitrag ist nicht beabsichtigt, das weitgespannte Wirken Andreaes darzustellen. Nur um einen sehr kleinen Ausschnitt geht es hier: um seine reformatorische Tätigkeit in drei politisch eng begrenzten Gebieten: in der Grafschaft Öttingen und in den Herrschaften Wiesensteig und Wachendorf. Dennoch spiegeln sich gleichsam wie in einem Wassertropfen auch in diesen unscheinbaren reformatorischen Bemühungen die bestimmenden Bedingungen und Entwicklungen jener Zeit.

1.2: Der geschichtliche Rahmen seines Wirkens

Der Augsburger Religionsfriede von 1555 gestand allein den reichsunmittelbaren weltlichen Obrigkeiten das Recht zu, die kirchlichen Verhältnisse in ihren Territorien auf der Grundlage des lutherischen Bekenntnisses von Augsburg neu zu gestalten. Zwinglianer und andere reformatorische Gruppen blieben vom Reichsfrieden ausgeschlossen. Den geistlichen Reichsständen wurde die Abkehr vom alten Glauben durch das Reservatum ecclesiasticum verwehrt. Sie sollten ein Bollwerk gegen die sich ausbreitende Reformation bilden und den Bestand der römischen Kirche im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation sichern. Neben den katholisch gebliebenen weltlichen Obrigkeiten erwiesen sie sich als eine Basis für die gegenreformatorische Offensive. Der Augsburger Religionsfriede beruhte auf der Voraussetzung, dass es nur "eine heilige katholische Kirche" gebe, dass aber deren Lehre und Riten strittig seien. Dennoch verpflichteten sich beide Seiten, nach Wegen zur Überwindung des Zwiespalts in der Religion zu suchen. Der Augsburger Religionsfriede knüpfte also in zweifacher Hinsicht an die mittelalterliche Tradition an: 1. Die Obrigkeit verstand sich als Beschützerin der - wie auch immer interpretierten - una sancta et apostolica ecclesia einen, heiligen und apostolischen Kirche 2. An der Einheit der Kirche wurde prinzipiell festgehalten. Beide Gesichtspunkte bestimmten auch das Lebenswerk Jakob Andreaes.

Das Zentrum seines vielseitigen Wirkens war das Herzogtum Württemberg, wo schon 1534 Herzog Ulrich 1503-1519; 1534-1550 unmittelbar nach der Vertreibung der Habsburger aus seinem Land die Reformation eingeführt hatte, indem er einen Ausgleich zwischen der lutherischen und der oberdeutschen Richtung suchte. Die durchgreifend lutherische Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse, zunächst durch die Kirchenordnung von 1553 und in umfassender Weise durch die Große Kirchenordnung von 1559, war das Werk seines Nachfolgers Herzog Christoph 1550-1568 Dessen maßgeblicher Berater in allen kirchlichen Dingen war Johannes Brenz 1499-1570 ein entschiedener Anhänger Luthers, der gleichwohl ein ausgeprägtes eigenes theologisches Profil zeigte: 1. Sein Verständnis der Rechtfertigung schließt - ähnlich wie bei Luther - das Moment der Gemeinschaft des Gläubigen mit Christus ein. 2. In seiner späteren Form der Abendmahlslehre entwickelt Brenz, Gedanken Luthers spekulativ weiterführend, die Lehre von der Teilhabe der menschlichen Natur Christi an der göttlichen Allgegenwart seit der Inkarnation. 3. Brenz unterscheidet nicht wie Luther prinzipiell zwischen dem an sich weltlichen Amt des Fürsten und seiner auf dem Christsein beruhenden Liebespflicht, sich der Not der Kirche anzunehmen, sondern orientiert sich, in der Tradition des Humanismus und der Reichsstädte stehend, an dem Ideal der theokratischen Könige Alt-Israels.

Der Mann nun, der württembergische Theologie, Kirchenpolitik und kirchliche Ordnung nach außen vermittelte, war Jakob Andreae. Zu weitreichender Entfaltung kam sein Wirken freilich erst unter Christophs Sohn und Nachfolger Herzog Ludwig 1568-1593

1.3: Biographische Quellen

Über seinen Lebensweg bis zum Jahre 1562 hat Andreae eine Autobiographie hinterlassen. Sein Enkel Johann Valentin Andreae 1586-1654 hat sie neben anderen Dokumenten im Jahre 1630, als der Dreißigjährige Krieg Deutschland verwüstete und das Schicksal des Protestantismus sehr ungewiss schien, veröffentlicht. Das Sammelwerk trägt den Titel: "Fama Andreana reflorescens" Der wieder aufblühende Ruhm des Andreae Die Lebensbeschreibung umfaßt 153 Seiten in Octavo. Sie trägt die Überschrift: "Vita Jacobi Andreae, theol[giae] doctoris, ab ipso ad annum usque Christi 1562. magna fide et ingenuitate descripta" Das Leben des Jakob Andreae, des Doktors der Theologie, von ihm selbst bis zum Jahre Christi 1562 mit großer Treue und Aufrichtigkeit beschrieben Die Autobiographie schließt mit der Bemerkung des Herausgebers: "Reliqua desiderantur" das übrige wird vermisst

Eine weitere biographische Quelle ist die Leichenrede Jakob Heerbrands, die im Druck 67 Seiten in Quarto umfaßt und unter dem Titel erschien: "Oratio funebris de vita et obitu ... D. Iacobi Andreae ..., habita a Iacobo Heerbrando" Leichenrede über das Leben und den Heimgang ... des Doktor Jakob Andreae ..., gehalten von Jakob Heerbrand Sowohl Andreaes Autobiographie als auch Heerbrands Leichenrede berichten von Andreaes reformatorischem Wirken in Wiesensteig, Öttingen und Wachendorf. Ferner hat Andreae die in Öttingen und Wachendorf gehaltenen Predigten drucken lassen.

1.4: Biographische Daten

Jakob Andreae (1528-1590), Porträtminiatur

Original in Steiermärkisches Landesarchiv Graz. Postkarte. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2432.

Jakob Andreaes Vater, Jakob Endriss aus Meckenlohe im Bistum Eichstätt, hatte sich in Waiblingen als Schmied niedergelassen und Anna Weißkopf geheiratet. Der dort am 25. März 1528 geborene Jakob ließ sich später in Tübingen unter der latinisierten Namensform Andreae d. h. Sohn des Endriss = Andreas in Tübingen immatrikulieren. Nach Abschluss des Theologiestudiums wurde der erst Achtzehnjährige 1546 als Diaconus, d. h. Hilfsprediger, nach Stuttgart berufen. Im selben Jahr heiratete er in Tübingen Johanna Entringer. Seine Standfestigkeit bewies Andreae in der Zeit des Interims 1548-1552 Durch dieses Religionsgesetz, das bis zur Entscheidung eines allgemeinen Konzils gelten sollte, versuchte Kaiser Karl V., in den evangelischen Territorien und Reichsstädten die wesentlichen Elemente des alten Kirchenwesens durchzusetzen. Andreae, der als Gegner des Interims kein Pfarramt ausüben durfte, wurde in Tübingen als "Katechist", d. h. als ein im christlichen Glauben "Unterrichtender", eingesetzt. Priestertum und Messopfer standen nach herkömmlichem Urteil hoch über der katechetischen Unterweisung des Volkes. Der Passauer Vertrag von 1552 setzte dem Interim ein Ende. 1553 wurde Andreae zum Pfarrer und Superintendenten in Göppingen ernannt und im selben Jahr zum Doktor der Theologie promoviert, was sogleich zu seiner Aufnahme in den Kreis der vier Generalsuperintendenten des Landes führte. 1562 wurde Andreae von Herzog Christoph zum Kanzler der Universität Tübingen ernannt. Institutionell verbunden waren damit die Stelle des ersten Ordinarius an der theologischen Fakultät und das Amt des Propstes an der Stiftskirche.

Von 1553 bis 1589, kurz vor seinem Tode, unternahm Andreae, zumeist im Auftrag seines Landesherrn, zahlreiche Reisen, um an verschiedenen Orten Deutschlands die Reformation einzuführen, zu fördern und zu sichern, um theologische Auseinandersetzungen beizulegen und um die Glaubenseinheit des Luthertums voranzubringen. Er war einer der Hauptverfasser der Konkordienformel von 1577. Der Enkel Johann Valentin Andreae hat in seinem Sammelwerk "Fama Andreana reflorescens" auch ein sechs Seiten umfassendes Verzeichnis der Reisen seines Großvaters zusammengestellt, "die er alle zur Ehre Gottes, zur Verbreitung seines Wortes und zum Heil der Kirche unternommen hat". In der langen Zeitspanne zwischen 1553 bis 1589 werden lediglich für sechs Jahre keine Reisen verzeichnet. Allein für das Jahr 1577 werden 18 verschiedene auswärtige Aufenthalte genannt. Das Gebiet, das Andreae im Laufe jener 36 Jahre bereiste, erstreckte sich von Paris bis nach Prag und von Dänemark bis nach Bern.

2: Die Reformation in Öttingen

2.1: Ihr Verlauf

Die Grafschaft Öttingen im Ries war seit dem 16. Jahrhundert in Öttingen-Wallerstein und Öttingen-Öttingen geteilt.(2) Das letztgenannte Territorium war seit 1522 wiederum aufgeteilt unter die Grafen Karl Wolfgang und Ludwig XV. Karl Wolfgang war spätestens seit 1529 der Reformation zugeneigt, später auch Ludwig. Dagegen blieb Öttingen-Wallerstein stets katholisch. Die beiden Grafen von Öttingen-Öttingen, die gute Verbindung zu Herzog Ulrich von Württemberg hatten, führten im Jahre 1539 die Reformation in ihren Territorien ein. Sie orientierten sich dabei an der Brandenburg-Nürnbergischen Kirchenordnung. Leiter der jungen Landeskirche war Georg Karg 1512-1576 Im Schmalkaldischen Krieg 1547-1548 stellten sich die beiden Grafen auf die Seite der Gegner des Kaisers. Nach dessen Sieg mussten sie sich ins Exil begeben, das sie u. a. in Württemberg verbrachten. In ihren früheren Herrschaftsgebieten wurde das Interim durchgeführt. Der Passauer Vertrag bereitete ihm ein Ende. Ludwig XV. wurde wieder in seine Rechte eingesetzt und übernahm auch das Territorium seines bereits verstorbenen Bruders Karl Wolfgang.

Jakob Andreae erwähnt in seiner Autobiographie zum Jahre 1553 seine Ernennung zum Generalsuperintendenten mit Sitz in Göppingen und berichtet unmittelbar darauf, wie er von Göppingen aus bei der Reformation der Grafschaft Öttingen mitgewirkt hat:(3) "Als Graf Ludwig XVI. von Öttingen, der Sohn des älteren Grafen Ludwig XV., gest. 1557 mit seinen Brüdern dem Vater im Erbe jenes Teiles der Grafschaft nachfolgte, die jenem nach erfolgter Versöhnung mit Kaiser Karl V. geschuldet wurde, rief er einige Male Doktor Jakob von Göppingen zu sich auf das Schloß Alerheim, das heißt nach Nördlingen."(4)

Andreae beschreibt darauf - im Rückblick - die durch den Schmalkaldischen Krieg eingetretenen Verhältnisse in der Grafschaft: "Da sich nämlich der Vater mit dem Sohn Ludwig XV. im sogenannten Schmalkaldischen Krieg mit den Fürsten verbündet hatte, die sich Karl V. widersetzten, übergab er d. h. der Vater als der Kaiser den Sieg behauptete, die Hälfte des berühmten Öttingen, die er vorher besessen hatte, den beiden Söhnen Friedrich und Wolfgang, weil sie sich noch zur päpstlichen Religion bekannten. Von diesen verhielt sich vor allem Friedrich ruchlos gegen seine frommen Eltern.(5) Während sie sich nämlich im Exil aufhielten, das ihnen Herzog Ulrich in Calw als Herberge zugestanden hatte, warf Friedrich der sehr verwirrten Mutter auf unschickliche und ruchlose Art die Religion vor, derentwegen sie aller Güter entblößt sei. Diese falsche Religion ließ er ihr melden, solle sie doch auf ihre Zähne schmieren, um Hunger und Bedürftigkeit zu vertreiben.(6) Einen Untergebenen aber ließ er enthaupten, weil dieser den Vater über Nacht beherbergt hatte."

Darauf berichtet Andreae, wie Graf Ludwig XVI. als Regent die Reformation mit Unterstützung der benachbarten Fürsten einführte: "Nachdem also dem Vater gest. 1557 der Sohn Ludwig gefolgt war, der nach der Geburt der älteste unter den übrigen Brüdern, Karl Ludwig Wilhelm und Otto, war, berief er mit Zustimmung der betreffenden Fürsten dieser Länder aus der Oberpfalz, der zu jener Zeit Herzog Otto Heinrich vorstand(7), Magister Bartholomäus Wolfart(8), den Superintendenten von Neuburg, aus der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach Magister Georg Karg(9) und aus dem Herzogtum Württemberg Doktor Jakob, dass sie das Papsttum, das seine Brüder Wolfgang und Friedrich, während die Eltern sich im Exil aufhielten, eingeführt hatten, abschafften und die wahre Verehrung Gottes sowohl in den Gemeinden ecclesiis als auch in den Klöstern einführten."

Von seinem Landesherrn war Andreae vor allem instruiert, eine Zweckentfremdung der kirchlichen Güter zu verhindern: "Es hatte aber der Herzog von Württemberg, Christoph, der Beste und Frömmste, in einem gesonderten Schreiben scheda die Anordnung signatum gegeben, dass, wenn Herzog Ludwig gedächte, die kirchlichen Güter der Klöster vor allem an sich zu ziehen und in seinen Gebrauch zu übertragen, Doktor Jakob an keiner Beratung mehr teilnähme, sondern sich sofort nach Hause begäbe. Dieses Schreiben, das in dem vom H[erzog] Christoph an D[oktor] Jakob verfassten Brief eingeschlossen war, wurde dem Grafen Ludwig durch den älteren Kanzler Wilhelm N. überreicht, unter Hinzufügung einer sehr ernsten Ermahnung, dass er seine Hände nicht durch Entweihung kirchlicher Güter beflecke. Auf welche Weise Graf Ludwig mit seinen Nachkommen dessen eingedenk gewesen ist, bezeugen deren Gewissen. Denn durch kein Recht, weder göttliches noch menschliches, können diejenigen ihr Gewissen rein bewahren, die Güter der Kirche, die Gott einmal und für immer geweiht worden sind, in ihren privaten Gebrauch übertragen, seien es Obrigkeiten oder Untertanen. Dazu hat Doktor Jakob an allen Orten, an denen ihm die Erneuerung reformatio der Gemeinden anvertraut worden war, immer sorgfältig und ernst ermahnt." Es folgt ein vernichtendes Urteil über die kirchlichen Zustände in der Grafschaft zur Zeit des Interims: "Es läßt sich aber nicht beschreiben (dici), eine wie große Unbildung und Unkenntnis der Heiligen Schrift auf Schritt und Tritt bei den Opferpriestern (sacrificulis) aufgedeckt worden ist, die zur Ausbreitung der päpstlichen Religion die Brüder überall an die Spitze der Gemeinden der Grafschaft gestellt hatten."

Im Rückblick beschreibt Andreae den Kummer des älteren Grafen Ludwig über die Unterdrückung der Reformation durch das Interim und die Haltung seiner altgläubigen Söhne Wolfgang und Friedrich: "Von der Unwürdigkeit dieser Verhältnisse war in erster Linie der ältere Graf Ludwig bewegt, als er dem Hof Herzog Ulrichs folgte, und bewegt wegen der auf Grund des kaiserlichen Interims festgesetzten Beschlüsse oder: Beratungen, deliberationes als Magister Kaspar Greter(10), ein sehr gelehrter Mann, als Hofprediger in Stuttgart festgehalten wurde, Doktor Jakob aber, der damals Diakon der Stuttgarter Gemeinde war, an dessen Stelle in Böblingen und Bebenhausen durch Abhaltung von Predigten am Hofe aushalf. Diesem sagte der ältere Graf Ludwig]: 'Hätte ich doch dafür gesorgt, daß meine Söhne Wolfgang und Friedrich im ersten Bade erstickt wären! Dadurch wäre besser für ihr ewiges Heil verfahren worden.' Vor allem aber bereitete es dem besten Grafen Schmerz, dass so viele tausende Seelen seiner Untertanen wegen der Gottlosigkeit dieser zwei gräflichen Söhne in eine so große Gefahr ihrer Seelen geführt waren. Diese Tatsache vergrößerte ihm heftig das Unglück der Verbannung. Wenn er darüber nachdachte, vergaß er beinahe sein eigenes Elend."

Andreae gibt dann einen summarischen Ausblick auf seine weiteren Bemühungen um die Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Öttingen nach württembergischem Vorbild: "Da also die Überlegung, wie die Reformation der Gemeinden und der Klöster auf fromme Weise aufzunehmen sei, glücklich fortgeschritten war, wurde Doktor Jakob von Graf Ludwig, dem Sohn, nach dem Tod des Vaters, oft in die Grafschaft gerufen, wo durchgehend dieselbe Art und Weise des Kirchenrates, der Visitationen der Gemeinden und der sechsmonatigen Schulen sowie der Klöster und Synoden festgesetzt wurde, die im Herzogtum Württemberg zu Anfang der Herrschaft Herzog Christophs eingeführt worden ist. Sooft er also in die Grafschaft oder auf das Schloss Alerheim oder in das Kloster Zimmern bei Nördlingen zu Synoden gerufen wurde, sagte er mit reinem Gewissen [ex conscienta seine Meinung und richtete seine Bemühungen darauf, dass in erster Linie in den Gemeinden der Grafschaft die Reinheit der himmlischen Lehre vorgetragen, die Eintracht in ihr bewahrt und eine des Evangeliums würdige Zucht eingeführt und fortgepflanzt werde."

Zum Jahr 1559 berichtet Andreae über eine in Alerheim abgehaltene Synode, in der die Ergebnisse einer Visitation besprochen und die Auseinandersetzung mit den Täufern aufgenommen wurde:(11) "Im selben Jahr, im Monat Oktober, wurde Doktor Jakob zu einer Synode von Theologen und Räten in der Grafschaft Öttingen gerufen. Diese Synode wurde in Alerheim abgehalten. Dort wurden nicht nur Leben und Sitten der Pfarrer nach vorangegangener sorgfältiger Visitation geprüft, sondern es wurde auch nachgeforscht exploratum erat in welchem Maße sie durch ihr Amt Fortschritte gemacht hatten, so dass, nachdem gebessert wäre, was in der Lehre und den Sitten der Pfarrer und der Hörer zu bessern ist, die Gemeinde Gottes zunähme und die Lehre des Evangeliums reiche Frucht brächte. Und da im Grenzgebiet und innerhalb des Verwaltungsbezirks Göppingen nicht wenige Wiedertäufer wirkten, setzte Doktor Jakob einige Gespräche mit ihnen fest, um sie von den Irrtümern, in denen sie lebten, zurückzurufen."

Auf Grund eines Mandates vom 25. Juni 1558 wurden die Täufer im Göppinger Amt zu einem Gespräch vorgeladen, über das Andreae und der Obervogt am 5. September 1558 berichteten. Darauf könnte sich Andreae in seiner Vita beziehen, obwohl die zeitliche Einordnung "der Gespräche" ungenau ist.(12)

Am 4. Oktober 1559 visitierte Andreae die Öttinger Klöster Roth und Zimmern(13): "Am 4. Oktober (1559) wurde Doktor Jakob zu Graf Ludwig von Öttingen zur Visitation der Klöster Roth und Zimmern gerufen. In einem dieser wurden nach der Art der Lehre und Studien, die in den Klöstern des Herzogtums Württemberg eingehalten wurde, Schüler (studiosi) ausgebildet und unterhalten. Da im Kloster Zimmern in großer Zahl Jungfrauen unterhalten wurde, die dennoch fast alle zu unserer Religion hinzutraten, ermahnte Doktor Jakob Graf Ludwig fleißig, er solle nicht die Güter des Klosters zum persönlichen Gebrauch umwandeln. Dies zu sagen hatte ihm Herzog Christoph von Württemberg befohlen."

Das Zisterzienserinnenkloster Zimmern war 1558 aufgehoben worden, und im selben Jahr wurde in der Kartause Christgarten eine lateinische Schule eingerichtet.

1561 begab sich Andreae abermals zu einer Synode und Visitation nach Öttingen:(14) "Im Februar desselben Jahres wurde Doktor Jakob von Graf Ludwig von Öttingen zu einer Synode und zur Visitation der Klöster nach Harburg gerufen. Als dies erledigt war, kehrte er am 15. März (calendis Martii) nach Göppingen zur Familie zurück." Wahrscheinlich hängt mit dieser Visitation die Errichtung einer Schule in der Benediktinerabtei Mönchsroth zusammen.(15)

Andreaes Werk in Öttingen hatte Bestand. Graf Gottfried von Öttingen unterzeichnete ebenso wie die Kirchendiener seines Territoriums das Konkordienbuch von 1580.

2.2: In Öttingen gehaltene Predigten

Das eigentliche Mittel zur Reformation der Gemeinden war für Jakob Andreae stets die Predigt. Von ihm in Öttingen gehaltene Predigten liegen uns in gedruckter Form vor unter dem Titel: "Vier christlicher Predigen: vom Leiden Christi, vom Fußwaschen, von der Auferstehung Christi, von der Meß und Gebrauch einer Gestalt des Sacraments." Gewidmet ist das Werk, das 99 Seiten in Quarto umfasst, mit apostolischer Grußformel der Gräfin Susanna von Öttingen: "Der wohlgebornen Frauen, Frauen Susanna, Gräfin zu Öttingen, gebornen Gräfin und Frauen zu Mansfeld etc., seiner gnädigen Frauen, wünschet Jacobus Andreae D[octor] Gnad und Fried in Christo Jhesu, unserm Herrn."(16)

Aus der Vorrede erfahren wir, dass in der kleinen, nicht volkreichen Herrschaft gleichwohl drei Religionen existieren: "Dann offentlich werden getrieben dreierlei Religion oder Glauben: die bäpstisch, die jüdisch und die recht, wahr evangelische Religion." Über die Juden heißt es (S.4): "Von den Juden daselbsten wird unser Herr Christus täglich auf das heftigest gelöstert, geschändt und verflucht, den sie einen gehenkten, verfluchten Galgensprissel etwa: Galgenfrüchtlein nennen, der sein Lehr und Wunderwerk durch den Teufel fürgetrieben und ausgebracht habe. Diese Leut sollen under den Christen Platz, Schutz und Schirm haben?"

Andreae beschreibt die drei in Öttingen geübten Religionen. An der päpstliche Religion hebt er hervor die Anrufung der Heiligen, das Messopfer, die Laienkommunion unter nur einer Gestalt und die Ablehnung der Heilsgewissheit: "In der Bäpstischen Kirchen wird wider das Wort, Willen und Befehl Christi die abgöttische Anrufung der Heiligen geübet, das heilig Nachtmahl in ein Versöhnopfer verkehret, dar

durch den Lebendigen und den Toten für Schuld und Peen Pein, d. h. Strafe zu helfen. Dem armen Laien wird des Herrn Nachtmahl nicht nach der Stiftung Christi gereichet, und sie werden endlich (vermög des Concilii zu Trient Ausspruch(17)) in eim steten Zweifel gehalten, ob sie in der Zahl der Auserwählten begriffen, ob ihnen ihre Sünd verziegen d. h. verziehen oder nicht, ob sie ein gnädigen Gott haben oder nicht, unangesehen, was und wieviel Guts sie im Leben geton oder nach ihrem Tod ihnen nachzutun gestiftet haben. Welche also neben und mit den Juden in ungewisser Hoffnung dahinsterben" (S.2).

Die Charakteristika der evangelischen Religion sind: Sündenerkenntnis, Glaube, Wandel im Licht, Gebrauch der Sakramente nach dem Befehl Christi und Gebet: "In der dritten Kirchen oder Versammlung wird das rein, heilig und ungefälscht Euangelium geprediget, welchs lehret ein rechte, wahrhaftige, lebendige Erkanntnus der Sünden und herzliche Reu, ein festen, beständigen, wahrhaftigen, lebendigen Glauben, der allein auf den Verdienst des Gehorsams und Kreuzopfers Christi sich verlaßt, dardurch vollkommene Vergebung aller Sünden und Versöhnung mit Gott ohn allen seinen oder auch der lieben Heiligen Verdienst zu erlangen. Desgleichen lehret es auch vermög des ewigen Gesetzes Gottes, nach dem Exempel Christi im Licht wandeln, alle Finsternis der Sünden zu fliehen und also zu leben, dass durch den Schein der rechten Werck, so aus dem Licht des Glaubens fließen, andere zum Lob Gottes gereizet werden. Da werden auch die heilig Sacrament einfaltig nach der Lehr, Befehl Christi und dem Exempel der lieben Apostel gehandelt, da wird allein Gott im Namen unsers Herrn Jhesu Christi für alles Anliegen der ganzen Christenheit angerufen" (S.4 f.).

Zudem setzt sich Andreae kritisch mit dem Judentum und dem Papsttum auseinander: Der Messias, auf den die Juden warten, hätte nach der Heiligen Schrift schon vor 1500 Jahren geboren sein müssen. Die Ausrede der Juden, ihrer Sünde wegen sei der Messias bisher noch nicht erschienen, gelte nicht. Denn Gottes Verheißung sei von menschlichem Verhalten ganz unabhängig, wie Dan. 9 zeige. Aber die Juden seien gegenüber klaren Schriftbeweisen blind und verstockt, und die Päpstischen würden sie noch durch falsche Nachgiebigkeit in ihrem Starrsinn bestärken.

Bei der Kritik der päpstischen Religion stellt Andreae deren Ähnlichkeit mit dem Judentum in den Vordergrund. Nicht nur in den Zeremonien komme dies zum Ausdruck, sondern auch im Glauben: "In dem Hauptartikel, daran unser Seligkeit stehet, ist zwischen Juden und rechten Papisten nur ein Wortstreit, im Grund aber einerlei Glauben. Denn obwohl die Juden laugnen d. h. leugnen daß unser Herr Christus der rechte Messias seie, welches die Bäpstischen widersprechen, so lehren und glauben sie doch zugleich, daß eim Menschen müglich sei, die Gebot Gottes vollkummenlich zu halten." Mit ihrer Lehre von den "evangelischen Räten" consilia evangelica gehen die Päpstischen sogar über die jüdische Auffassung hinaus: "In diesem Artikel sind sie nicht allein den Juden gleich, sonder auch über die Juden, da sie lehren und glauben von ihren Ordensleuten, sie könnten nicht allein Gottes Gebot[e] erfüllen, sonder auch noch viel guter Werk ton, die sie nit schuldig sind und überig haben, anderen Leuten mitzuteilen" (S.8f.). Juden und Papisten würden stimmen im Glauben an ein Fegfeuer übereinstimmen. Daß die Päpstischen im Unterschied zu den Juden die Dreinigkeit Gottes lehren, sei ohne Bedeutung. Denn die Erkenntnis der Gottheit Christi helfe ohne die Erkenntnis des Amtes Christi nicht im geringsten zur Seligkeit.

Während Andreae in der Vorrede heftig gegen das Judentum und das Papsttum polemisiert, nimmt er den Text der vierten Predigt über die Emmausjünger Lk 24,13-35 zum Anlass, auf eine überraschend irenisch erscheinende Art über die Erlangung der Glaubenseinheit zu reden. Wie jene beiden Jünger auf dem Wege nach Emmaus in Gegenwart des von ihnen noch unerkannten Jesus miteinander über die jüngsten Ereignisse, die sich in Jerusalem zugetragen haben, disputiert hätten, so könnten ehrliche Menschen aus den beiden religiös getrennten Lagern versuchen, gemeinsam das wahrhaft Katholische zu ermitteln. Seine Anregung zum "ökumenischen Gespräch", wie wir heute sagen würden, kleidet Andreae in die Worte: "Darumb ist kein Zweifel, es kommen oft und viel gutherzige Christen zusammen, da je zween und zween miteinander reden, was der Weg zu der Seligkeit seie und was d. h. wie doch einer in dieser Spaltung sich verhalten solle. Und da der Herr Christus solchem Gespräch mit der Gnade seines heiligen Geists beiwohnet, kommen endlich die rechten, einfältigen Christen dahin, dass sie alle Menschen beider Religion aus den Augen setzen und suchen herfür, das beide Teil für die Wahrheit halten und bekennen müssen; nämlich, daß eines zum andern sagt: 'Lieber, warauf bistu getauft? auf des Bapsts oder des Luthers Namen?' Antwort das ander: 'Wir seind weder auf des Bapsts noch auf des Luthers, sonder auf den Namen Gottes, des Vaters und des Sohns und des heiligen Geists, getaufet worden, der uns zugesagt und verheißen hat, wer glaubt und getauft werde, der werde selig werden'" (S.80f.). So könnte man sich unter Absehen von Menschen und menschlichen Traditionen auch über die anderen "Hauptstuck christlicher Lehr" einigen, nämlich den "christlichen, catholischen Glauben" auf Grund des Apostolikums, das "catholische, christliche Gebet" Vaterunser die "christlichen, catholischen guten Werke" Eph. 1 das "catholische, christliche Sakrament des Altars" und die "christlichen, catholischen Schlüssel zum Himmelreich" (S.85). Wenn es den Gesprächspartnern nicht an Gottesfurcht fehlt, "wird gewißlich Christus mitten under ihnen sein und sie in seiner Erkenntnis stärken, so daß sie gewißlich selig werden, wie er diesen beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus zugesaget und ein lang Predig geton, auch endlich sich ihnen im Brotbrechen zu enkennen sic! [ge]geben hat" (S.86).

Andreaes "ökumenische" Methode überzeugt insofern, als er den Rückgang auf das Ursprüngliche, d. h. die biblische Botschaft, fordert. Daß die Reformation aber nicht nur durch die Berufung allein auf die Heilige Schrift, sondern auch durch eine spezifische Interpretation derselben gekennzeichnet ist, die von Altgläubigen nicht akzeptiert wird, ist ein hermeneutisches Problem, das Andreae zu seiner Zeit noch nicht in voller Schärfe erkannt hat.

3: Die Reformation in Wiesensteig

Anders als in Öttingen war Andreae bei seinen reformatorischen Bemühungen in der Herrschaft Wiesensteig(18) kein bleibender Erfolg beschieden. Wiesensteig im oberen Filstal befand sich im Besitze der Grafen von Helfenstein und grenzte an das Gebiet der Freien Reichsstadt Ulm, eines oberdeutschen Zentrums der Reformation. Die Grafen von Helfenstein unterhielten auch Beziehungen zum evangelischen Württemberg. Graf Sebastian 1521-1564 war Obervogt in Blaubeuren. Er bat 1555 Herzog Christoph, ihm und seinem Bruder Ulrich XVII. 1524-1570 einen Prediger zu schicken, der die Herrschaft reformieren sollte.

Über die Reformation in Wiesensteig schreibt Andreae:(19)"Im Jahr des Herrn 1556(20) ereignete sich auch die Reformation der Gemeinden der Grafschaft Helfenstein. Zu ihrer Einführung wurde Doktor Jakob von Graf Ulrich von Helfenstein nach Wiesensteig gerufen, als er noch der Gemeinde von Göppingen vorstand."(21)

Die Bemühungen des Grafen Ulrich stießen innerhalb der Familie, nämlich bei seinem Bruder Georg 1518-1573 seiner Mutter und seiner Ehefrau, auf heftigen Widerstand: "Obwohl er aber einen Bruder hatte, Sebastian, Graf von Helfenstein, der vor allem auch dieses Werk eifrig betrieb, stellten sich dennoch nicht leichte Hindernisse in den Weg, durch welche der Satan dieses fromme Beginnen abzubrechen versuchte. Ein anderer Bruder namens Graf Georg, der am Hofe Kaiser Ferdinands in höchster Gunst stand und der die päpstliche Religion hartnäckig verteidigte, leistete zusammen mit der Mutter und der Ehefrau des Grafen Ulrich, einer Tochter des Grafen von Montfort, nach Kräften Widerstand, und sie bemühten sich, beide, Graf Sebastian und Graf Ulrich, von ihrem Vorhaben abzubringen."

Ein weiteres Zentrum der reformationsfeindlichen Kräfte war das reiche Chorherrenstift Wiesensteig: "Dazu kam als Zuwachs das Collegium der Opferpriester in der Stadt Wiesensteig, dessen jährliche Einkünfte die jährlichen Einkünfte der Grafen, wie man glaubt, übertreffen. Diese widersetzten sich mit großer Kraft dank der Bemühung, Hilfe und Autorität des Kardinals und Bischofs von Augsburg, Otto Truchseß von Waldburg, 1514-1573 (22)"

Andreae musste zuerst unter widrigen und entwürdigenden Umständen dem zahlreich versammelten Volk das Evangelium predigen: "Daher kam es, dass Doktor Jakob, der zur Reformation gerufen war, gezwungen war die erste Predigt nicht in der Kirche zu halten, welche die Opferpriester für sich beanspruchten, sondern im Burghof, wo das fromme Volk versammelt war, das nach der Lehre des Evangeliums dürstete. Er stand auf einer Treppe (scala) an einem erhöhten Ort, damit er vom Volk gesehen werden konnte. Das wiederholte sich später einige Male. Diesen Doktor Jakob zusammen mit Graf Ulrich und einer zahlreichen Volksmenge verspottete ruchlos dessen d.h. Ulrichs Gattin mit dem Frauenzimmer d. h. ihrer weiblichen Dienerschaft indem sie aus dem Fenster auf den freien Platz schaute, wie einst Michal den König David verspottete als er vor der Lade des Herrn spielte.(23) Da aber bei der Kirche der Opferpriester auch eine Kapelle errichtet worden war, besetzte diese der Graf mit den Untertanen, die Hörer des Evangeliums waren, bis die Sache mit den Opferpriestern erledigt würde. Da die Kapelle allzu eng war, so dass sie eine so große Menge nicht aufnehmen konnte, besetzte er schließlich die Kirche selbst gegen den Willen der Opferpriester. Fortan lehrten in ihr nicht nur Doktor Jakob, sondern alle seine Nachfolger, Magister Leonhard Culmann(24), Doktor Laurentius(25) und Magister Jakob Dachtler."(26)

Der eigenmächtige Eifer, mit dem Graf Ulrich Bilder und Altäre zerstören ließ, steigerte den Zorn seiner am alten Glauben festhaltenden Gattin: "Gewaltig aber war der Eifer Graf Ulrichs. Da dessen Herz den päpstlichen Götzendienst verabscheute, sorgte er dafür, daß alle Bilder und Altäre niedergerissen wurden (destrui). Er hatte dabei nicht den Rat und die Rückkehr Doktor Jakobs abgewartet, da dieser anderer Geschäfte wegen einige Wochen abwesend war. Durch diese Tat wurde seine Gattin zu noch größerer Wut gegen die Lehre des Evangeliums entzündet. Ihr Blick, wie auch ihr Gesicht[sausdruck] war neiderfüllt und voll satanischen Hasses gegen Doktor Jakob, den sie nach dem Willen des Grafen Ulrich, ihres Gemahls, gezwungen war, mit ausgestreckter Hand zu begrüßen und auch bei Tische gegen ihren Willen zu ertragen."

Die Grafen besoldeten die drei Prediger aus eigenen Mitteln, weil das Chorherrenstift über die geistlichen Einkünfte verfügte. Herzog Christoph riet den Grafen, nach württembergischem Vorbild die Verwaltung des Stifts zu übernehmen, den Stiftsherren ihren Unterhalt zu gewähren und aus dem übrigen Vermögen für die Prediger zu sorgen. Die Stiftsherren lehnten diese Lösung ab. Sie wandten sich an den Bischof von Augsburg, Kardinal Otto Truchseß von Waldburg, der die Sache vor das Reichskammergericht brachte. Auf die Seite des Grafen stellten sich Herzog Christoph, Kurfürst Ottheinrich und Markgraf Karl von Baden 1529-1577 Nachdem Graf Sebastian 1564 gestorben war, verstärkte sich der Druck auf Graf Ulrich. Schließlich ließ er sich durch seine Frau, den Bischof von Augsburg und den Jesuiten Petrus Canisius 1521-1597 den ersten deutschen Jesuiten, dazu bewegen, zur römischen Kirche zurückzukehren. Jakob Andreae und Herzog Christoph von Württemberg bemühten sich vergeblich, Graf Ulrich umzustimmen. Andreae und ein württembergischer Rat wurden am 7. Mai 1567 nach Wiesensteig zu Graf Ulrich geschickt, um ihm einen Brief Herzog Christophs zu überbringen und seine Rückkehr zum Papsttum zu verhindern. Als Grund seiner Entscheidung nannte der Graf vor allem die Spaltungen unter den Evangelischen und seine Pietät gegenüber dem schon mehr als 700 Jahre bestehenden Chorherrenstift, das er nicht auflösen wolle. Schließlich versuchte Andreae zu erreichen, dass wenigstens die evangelischen Prediger in Wiesensteig bleiben durften. Sie wurden aber 1567 entlassen.(27) Damit endete die kurze reformatorische Periode der Herrschaft Wiesensteig.

Im Zusammenhang mit Andreaes Bemühungen, dieses kleine Gebiet und seinen unsicher gewordenen Landesherrn dem Evangelium zu erhalten, steht eine umfangreiche Mahnschrift astrologisch-biblischen Charakters. Sie ist veranlasst durch eine für den 9. April 1567 erwartete Sonnenfinsternis.(28) Der Titel lautet: "Christliche, notwendige und ernstliche Erinnerung, nach dem Lauf der irdischen Planeten gestellt, daraus ein jeder einfältiger Christ zu sehen, was für Glück oder Unglück Teutschland dieser Zeit zu gewarten."

Andreae hat das Werk mit apostolischer Grußformel Graf Ulrich von Helfenstein gewidmet: "Dem wohlgebornen Herrn, Herrn Ulrichen, Grafen zu Helfenstein, Freiherrn zu Gundelfingen etc., seinem gnädigen Herrn, wünschet Jacobus Andreae Gnad und Fried in Christo, unserm einigen Heiland." Andreae setzt sich der Vorrede seelsorgerlich mit den Anstößen auseinander, die Graf Ulrich an unerfreulichen Begleiterscheinungen der Reformation genommen hat: an der Verachtung der "guten Ordnung" durch einige Prediger und vor allem ein sektiererisches Unwesen. Wiedertäufer und Schwenckfeldianer werden u. a. genannt. Diesen "Anstößen vom leidigen Teufel"(29) könne nur durch ein enges Zusammenwirken der christlichen Obrigkeit und der Prediger des Evangeliums begegnet werden. Schließlich will Andreae mit diesen Predigten dem Grafen seine tiefe Verbundenheit mit der Kirche seines Herrschaftsgebietes bekunden und appelliert zugleich an dessen Verantwortung für das Schicksal der Reformation, zu der er selbst als Landesherr den Auftrag gegeben hat. Er deutet zart an, dass Gott zuletzt sogar gegen die Absicht des Grafen das Werk der Reformation erhalten habe und künftig erhalten wolle: "Ich hab auch hiemit anzeigen wöllen, daß E[uer] G[naden] Kirchen mir sowohl heutigs Tags und für und für, als den ersten Tag, mit christlicher Sorg angelegen und E[uer] G[naden] christliche Reformation fürgenommen. Und demnach den Allmächtigen bitte d. h. bitte ich den Allmächtigern er wöll dies angefangen Werk mit Gnaden erhalten und vollführen, welcher mit E[uer] G[naden] bis daher wunderbarlich gehandelt und das angefangen Werk wider E[uer] G[naden] selbst eigne Gedanken erhalten, gesegnet und gebenedeiet hat "(30) Die Thematik der Predigten soll alle Leser und vor allem den unsicher gewordenen Grafen an Gottes apokalyptisches Strafgericht "erinnern", das nur durch Gehorsam gegen das Evangelium abgewendet werden könne. Der Fehlschlag der Reformation in Wiesensteig hat Andreae persönlich schwer getroffen.(31)

4: Die Reformation in Wachendorf

4.1: Ihr Verlauf

Wachendorf war eine kleine Herrschaft in der Nähe von Rottenburg, im habsburgischen Gebiet gelegen. Der Augsburger Religionsfriede bot auch kleinsten reichsunmittelbaren Obrigkeiten das Recht, in ihrem Bereich die lutherische Reformation einzuführen. Über Andreaes reformatorisches Wirken in Wachendorf in Jahren 1564/65 berichtet Heerbrand in seiner Grabrede. Er erwähnt zuerst Johannes von Au, den Herrn von Wachendorf, und die Personen, die ihn an Jakob Andreae verwiesen, damit dieser den Adligen und seine Gemeinde gründlich in der Lehre des Evangeliums unterrichte: "Es lebte hier in der Nachbarschaft von Tübingen etwa zwei Meilen entfernt, ein Mann, hervorragend durch Adel des Geschlechts, durch Tugend, Weisheit, Frömmigkeit und Großmütigkeit, Johannes von Au zu Wachendorf. Er wurde von dem verehrungswürdigen Arzt Doktor Gabler, mit dem er hier sehr freundschaftlich verkehrte, über die katechetischen Grundlagen unserer Religion unterrichtet. Bevor dieser Gabler von unserer Religion abfiel, veranlasste er jenen, auch mit einem anderen, dem Rechtsgelehrten Magister Johannes Bietigheim, unseren Kanzler zu sich zu rufen, um von ihm vollständiger mit seiner Gemeinde unterwiesen zu werden. Sie wüßten, daß er sich nicht unzugänglich erweisen werde."(32)

Dann wird Andreaes reformatorisches Wirken in Wachendorf beschrieben: "Da sich diese Gelegenheit bot, erwies unser Doktor Jakob Andreae nachdem er die Angelegenheit mit dem durchlauchtigsten Fürsten Christoph besprochen hatte, jenem seine Hilfe. Er tat es auf diese Weise, dass er an den Samstagen nach Wachendorf hinaufzog und danach an den Sonntagen dort öffentlich anstelle der Predigt (pro concione) den Katechismus überlieferte und erklärte. Unterdessen fehlten diejenigen nicht, die ihn hier in Tübingen im Gottesdienst vertraten. Er leistete dies etwa ein Jahr oder mehr, indem er am 8. November des Jahres 1564 anfing und seine erste katechetische Predigt hielt. So pflanzte er diese Kirche, nachdem allmählich der päpstliche Götzenwahn abgeschafft worden war. Diese Predigten sind später hier in Tübingen gedruckt worden. Obwohl der Adlige auf verschiedene Weise in Versuchung geführt wurde, blieb er dennoch bei der erkannten Wahrheit standhaft bis zum Ende." Die evangelische Gemeinde von Wachendorf erlosch im Dreißigjährigen Krieg.

Die Wachendorfer Predigten

Die in Wachendorf gehaltenen Predigten gab Andreae in gedruckter Form unter dem Titel heraus: "Christliche, getreue Anleitung, welcher Gestalt die rein Lehr des heiligen Euangelions in den Kirchen, so bisher unter dem Papsttum gewesen, ... gründlich und fruchtbarlich gepflanzt ... werden mögen."(33) Die erste der 31 Predigten wurde am 8. Oktober 1564 und die letzte am Martinstag, den 11. November 1565 gehalten. Die Vorrede ist an Hans von Au gerichtet: "Dem edlen und festen Hansen von Ow zu Wachendorf etc., seinem günstigen, lieben Junkern, wünschet Jacobus Andreae D. Gnad und Fried in Christo Jhesu."

Andreae beschreibt in der Vorrede die der Obrigkeit auferlegte Pflicht, für die rechte Gottesverehrung zu sorgen. Er vertritt dieselbe Auffassung, die auch in der Großen Württembergischen Kirchenordnung von 1559 ausgesprochen ist:(34) "Dargegen aber, so sie d.h. eine Herrschaft mit Ernst und Fleiß betrachtet, wie ernstlich allen Menschen, besonders aber eines jeden Orts Oberkeit und Herrschaft, von Gott auferlegt und eingebunden, daß sie über dem rechten, wahrhaftigen Gottesdienst halten und, was demselben zuwider, abschaffen soll, so haben sich alle christliche Regenten wohl zu erinnern, wie ein schwere Rechenschaft sie Gott am jüngsten Tag geben müssen, da sie ihrer Untertonen sich in geistlichen Dingen nichts angenommen und nach dem reinen Gottesdienst nicht mit allem Fleiß und Ernst getrachtet und also wenig geachtet, ob sie selig oder verdammt werden, wann sie allein die Rent und Gülten d. h. Abgaben ordenlich bezahlen und sunst ihre Dienst leisten." Andreae tadelt ungestüme Prediger, welche die Reformation mit der gewaltsamen Beseitigung der Bilder beginnen und dadurch die Einfältigen und noch Irrenden für immer dem Evangelium entfremden: "Es wird auch nit wenig gesündiget durch etlich Prediger, die der Kirchen Reformation mit der Axt und Pflegel anfahen, stürmen gleich wider die Bilder und raumen sie dem unverständigen Volk aus den Augen hinweg, darvon es noch gar keinen oder doch nit genugsamen Bericht hat, durch welch ungestüm Wesen die Einfältigen und noch Irrenden für den Kopf gestoßen und um diese Weis willen auch die d. h. der Predigt des Worts Gottes anfangen feind zu werden und sich hernach nit mehr lehren noch unterweisen lassen wollen, an welcher Verderben solche ungestüme Reformatores schuldig werden."

Anders ist Andreae in Wachendorf vorgegangen. Er hat sich seiner schlichten Gemeinde angepasst und ihr aus der Bibel das katechetische Grundwissen vermittelt: Ich habe mich erstlich erinnert, was ich für Zuhörer haben wurde, die weder schreiben noch lesen konnten, sonder ihrer Arbeit und Beruf gelernet auszuwarten. Und demnach habe ich mit ihnen aus ihrer Bibel gered't, die ihnen so wohl bekannt sein mocht als mir. Dann welcher Baursmann sollt die zehen Gebot, den christlichen Glauben, das Vaterunser, sein Tauf, das Sacrament des Leibs und Bluts Christi und die Schlüssel zum Himmel nicht wissen? Und also aus denselben Stücken habe ich ihnen einfältig angezeigt, warauf unser Seelenheil und Seligkeit stehet, und wie sie nicht allein den Menschen Rechenschaft ihres Glaubens geben, sonder auch im letzten Kampf und Todesnöten des bösen Feinds sich erwehren und ihn gewaltiglich überwinden könnten, da gleich an ihrem letzten Ende kein Mensch um oder bei ihnen sein werde."

Die letzte Predigt trägt die Überschrift: "Von dem Inhalt der ganzen Lehr zu Wachendorf geprediget und des Pfarrherrs Pflichten, so er seim Bischof geton hat" (S.454). Andreae zeigt den Wachendorfern, wie sie ihren Glauben und ihren evangelischen Pfarrer gegen Vorwürfe der reformationsfeindlichen Nachbarn verteidigen sollen. Zunächst erfahren wir, wessen man die Wachendorfer beschuldigt: "Ich setze ganz und gar kein Zweifel, es seien von euch zu Wachendorf, beides, dem Prediger und Zuhörern, diese Zeit über bei den Nachbarn ringsweis umbher allerlei Reden ergangen, nämlich als sollten d. h. solltet ihr zu Wachendorf vom christlichen Glauben abgefallen und ein neuen ketzerischen Glauben angenommen haben. Von euerm Pfarrherr aber sagt man daß er über solchem treulos und meineidig an seim Bischof worden, dem er bisher als ein Priester verpflicht gewesen, außerhalb dem Ehestand zu leben, Meß zu lesen und alle Kirchenbräuch nach der römischen Kirchen und seines Bischofs Befehl zu verrichten" (S.454). Zuerst setzt sich Andreae mit der Anschuldigung auseinander, die Wachendorfer seien vom christlichen Glauben abgefallen und hätten eine Irrlehre angenommen. Er erinnert die Gemeinde in katechismusartiger Gliederung an den wesentlichen Inhalt seiner Predigten. Dabei hebt er immer wieder das Moment der Gewißheit durch die einleitenden Worte "Ihr wisset" hervor: "Nun wißt ihr euch zu erinnern, daß ich auch von keim andern Tauf gesagt hab, dann den ihr im Namen des Vaters, Sohns und Heiligen Geists als Brief und Siegel empfangen haben, daß euch Gott für seine Kinder halten und ewiglich selig machen wöllen. Ihr wisset, daß ich euch kein andern Glauben gelehrt hab, denn euern alten, catholischen, christlichen Glauben in Gott Vater, der euch erschaffen hat, in Gott Sohn, der euch mit seinem Blut erlöset hat von allen euern Sünden, Tod, Teufel, Höll und ewiger Verdammnus, in Gott Heiligen Geist, der euch den Glauben in Gott Vater und Sohn wirket, der euch heiliget, der euch versichert des Ablaß d. h. der Vergebung euerer Sünden, der Auferstehung des Fleischs und ewigen Lebens. Ihr wisset, daß ich euch das alt Vaterunser erklärt habe, welches unser Herr Christus seine Jünger gelehrt und uns allen fürgeschrieben hat, und wie wir in allen unsern Nöten allein zu Gott schreien, rufen und laufen sollen. Ihr wisset, daß ich euch gelehrt hab die alten zehen Gebot, wie sie Gott vom Himmel herabgegeben und unser Herr Christus selbst ausgelegt und erkläret hat, in welchen beschrieben seind die rechte, wahrhaftige, gute Werk, an welchen wir unser Leben lang zu tun haben, uns gegen dem himmlischen Vater, dem Herrn Christo und H[eiligen] Geist für alle seine Guttaten dankbar zu erzeigen. Ihr wisset, daß ich euch gelehrt und gegeben hab das hochwirdig Sacrament des Leibs und Bluts Christi, wie es unser Herr Christus eingesetzt und seinen Jüngern gegeben hat, der Gestalt auch seine Jünger allen Christen und nicht anderst gegeben, dann wie sie es von Christo empfangen haben. Ihr wisset, daß ich euch kein andern Schlüssel zum Himmelreich gelehrt hab dann eben den Schlüssel, welchen S. Peter und alle Apostel von Christo empfangen und allen rechtschaffenen Kirchendienern samt der ganzen christlichen Kirchen hinter ihnen auf Erden verlassen haben d. h. ihnen hinterlassen haben nämlich die gnadenreiche Zusagung unsers Herrn Christi, daß er allen bußfertigen und glaubigen Christen mit seinem Blut all ihr Sünd zugedeckt habe und daß uns dieselbige so wahrhaftig verziegen d. h. verziehen und vergeben seien, so gewiß wir sein Wort von dem Diener der Kirchen nach Laut seiner Zusagung gehört haben: 'Wer euch höret, der höret mich, und welchem ihr die Sünde vergeben, dem seind sie vergeben' Lk 10,16 (S.456-458). Dies sei der Inhalt der ganzen Bibel. Auf diese Artikel sollen die Wachendorfer ihre päpstischen Ankläger in aller Bescheidenheit hinweisen.

Dann nimmt Andreae zu dem Vorwurf Stellung, der Pfarrer sei durch den Eintritt in den Ehestand und durch die Unterlassung des Messelesens und anderer Zeremonien gegenüber seinem Bischof meineidig geworden. Was den ersten Punkt betrifft, so werde in der Bibel keinem Priester oder Pfarrer die Ehe verboten. Im Gegenteil: Paulus befehle allen, die nicht enthaltsam leben können, zu heiraten 1. Kor. 7, 2 Das Eheverbot sei nach 2. Tim. 4, 3 ein Teufelsgebot. Nach 1. Tim. 3, 2 und Tit. 1, 6 stehe jedem Pfarrer die Ehe frei. Die Anhänger des Papsttum würden aber bestreiten, daß der Priesterzölibat schriftwidrig sei: "Ja, sprechen sie, man zwingt niemand, daß er muß ein Priester werden, so verbeut man auch keinem den Ehestand; dann es steht in eines jeden freien Willen, geistlich zu werden oder nit und demnach auch zu geloben oder nicht; was aber einer mal gelobet, das ist er schuldig zu halten" (S.462). Diesen Einwand hält Andreae für eine Ausflucht. Der Papst habe ein strenges Gebot auf den bischöflichen und Priesterstand gelegt. "Wo steht aber dies Gebot in Heiliger Schrift?" (S.463). Besonders schlimm findet es Andreae, daß nur die Ehelosigkeit der Priester, aber nicht ihre Verpflichtung zu keuschem Lebenswandel streng durchgesetzt wird. Denn die Priester brauchen nur zu geloben, "nit weiter die Keuschheit zu halten, dann soviel menschliche Blödigkeit d. h. Schwachheit leiden möge" (S.463). Der unkeusche Priester brauche seinem Bischof nur den "Milchzins" zu zahlen, wenn er etwa seine Magd geschwängert habe, dürfe aber sein Amt ohne jede Einschränkung weiterhin ausüben (S.464). Als "Milchzins" wurde nicht nur die Steuer bezeichnet, welche die Bischöfe von ihren Geistlichen unkeuschen Lebens wegen erhoben, sondern auch die jährliche Abgabe gewerbsmäßiger Huren.(35)

Darauf wendet sich Andreae der zweiten gegen den evangelischen Pfarrer von Wachendorf erhobenen Beschuldigung zu, er lese nicht mehr die Messe und halte nicht die päpstlichen Zeremonien. Andreae wendet dagegen ein, daß der Pfarrer durchaus die Messe halte, allerdings nicht nach päpstlicher Weise, sondern nach apostolischer Norm: "Dann einmal, so hält euer Pfarrherr Meß aller Maß und Gestalt, wie Sant Peter und alle Apostel Meß gehalten haben" (S.466). Es sei wohl wahr, dass der Pfarrer gelobt hat, den römischen Ritus zu zelebrieren, zugleich aber habe er auch gelobt, das Evangelium zu predigen. Beides widerspreche sich jedoch: "Was aber belangt den Anhang der Meß und andere viel mehr Ceremonien, die er unterläßt, hat es die Gestalt d. h. verhält es sich folgendermaßen]: Da euer Pfarrer zu einem Priester geweihet worden, ist nicht weniger [geschehen, als daß ihm sein Weihbischof alle bäpstliche Ceremonien auferlegt und befohlen hat zu halten. Er hat ihm aber zugleich und zumal auch auferlegt und befohlen, das heilig Evangelium zu predigen. Da nun das heilig Evangelium und die Bäpstischen Ceremonien widereinander seien und nebeneinander nicht bestehen könnten, ist die Frag, wie er sich in diesen widerwärtigen d. h. sich widersprechenden Dingen verhalte, die er aus Unverstand und Einfalt zu halten zugleich zugesagt und versprochen hat" (S.466 f.). Andreae zeigt durch ein Gleichnis, wie das Problem zu lösen sei: Ein Sohn verspricht zugleich, seinen Vater zu töten und ihn am Leben zu lassen. Tötet er ihn, bricht er sein Versprechen, ihn am Leben zu lassen. Lässt er ihn am Leben, bricht er sein Versprechen, ihn zu töten. Bei gesunder Vernunft kann sich der Sohn nur so entscheiden, dass er den Vater leben lässt. Ebenso verhalte es sich mit dem in sich widersprüchlichen Gelübde, das der Priester bei seiner Weihe aus Unverstand abgelegt hat. Die Rechte Entscheidung könne nur für das Evangelium und gegen die Opfermesse und die päpstlichen Zeremonien fallen. Der Pfarrer der Gemeinde Wachendorf habe früher aus Unverstand bei der Priesterweihe das widersprüchliche Gelübde abgelegt (S.467). Denn die "dicke Finsternis des Papsttums" habe nicht jeder sogleich erkannt (S.469). Zuletzt ermahnt Andreae seine Gemeinde, Obrigkeit und Untertanen, die Anschuldigungen der Nachbarn friedfertig und zugleich entschieden zurückzuweisen und am Evangelium festzuhalten (S.471).

5: Abschließende Würdigung

Bewundernswert ist, wie Andreae, eine Gestalt von großer kirchengeschichtlicher Bedeutung, bei der unglaublichen Fülle seiner Verpflichtungen dennoch auch auf kleinstem Raum mit größter Hingabe für die Ausbreitung und Erhaltung des Evangeliums und evangelischer Gemeinden gearbeitet hat. Seine Bemühungen hatten ein einziges Zentrum: die Predigt des Evangeliums. Von dieser Mitte her ist auch seine Beteiligung an Synoden und Visitationen zu verstehen, wo es um die Ordnung der Gemeinden, die Amtsführung der Pfarrer und die Bildung der Jugend durch Einrichtung von Schulen ging.

Andreaes Appell an die Pflicht der Obrigkeit, das Evangelium und die Gemeinden zu fördern und zu schützen, hatte keineswegs die geistliche Entmüdigung des Volkes zur Folge. Die Predigten zeigen, zu welcher geistlichen Urteilsfähigkeit Andreae mit schlichten, treffenden Worten sogar Analphabeten wie die Bauern von Wachendorf zu erziehen wußte. Von Fürstendienerei kann bei diesem Mann, der freilich ganz in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen jener Zeit lebte, nicht die Rede sein. Dagegen sprechen die vielfältigen Ermahnungen, die hohe Herren - bei allem geschuldeten Respekt - aus seinem Munde zu hören bekamen. In der Art des Apostels Paulus wußte er sich mit den Gemeinden verbunden, und nichts schmerzte ihn mehr als deren Gefährdung durch die Obrigkeit, sei es, daß sie sich an Kirchengut zu bereichern trachtete oder im Glauben wankend wurde. Unverkennbar ist schließlich die wahrhaft katholische Gesinnung dieses Mannes. Sie gründet sich nicht auf vieldeutige Kompromißformeln, sondern auf das Zeugnis der Apostel und Propheten, das er in einheitlichem, evangeliozentrischen Sinne versteht.

Aktualisiert am: 19.03.2018