Johannes Brenz: Stiftspropst, Prediger, Reformator Württembergs und Rat Herzog Christophs

Von: Brecht, Martin

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Zur Person
  2. 2: Die Stellung des Stiftspropsts
  3. 3: Das Ordnungswerk
  4. 4: Die Aufgaben des leitenden Theologen
  5. 5: Das Testament und Vermächtnis des Propsts
  6. Anhang

1: Zur Person

Johannes Brenz (1499-1570), Ausschnitt aus dem Epitaph von Jonathan Sauter in der Stuttgarter Stiftskirche, 1584

Johannes Brenz ist unter den Reformatoren ein vergleichsweise langes Leben von 71 Jahren 1499-1570 beschieden gewesen, Zeit genug für ein reiches Lebenswerk.(1) Mit dem Herzogtum Württemberg hatte er von Hause aus nichts zu tun, war er doch der Sohn des Schultheißen der Reichsstadt Weil der Stadt und hatte nicht in Tübingen, sondern in Heidelberg studiert. Dort hat ihn nicht nur der Humanismus geprägt, dort ist es 1518 bei der Heidelberger Disputation anlässlich des Kapitels der observanten Augustinereremiten auch zu der für einige spätere südwestdeutsche Reformatoren entscheidenden Begegnungen mit Martin Luther 1483-1546 gekommen. Schon 1522 erlangte Brenz ein festes Amt als Prediger - nicht Pfarrer, das war sein Freund Johannes Isenmann ca. 1495-1574 - an der Michelskirche in Schwäbisch Hall, das er mehr als 25 Jahre versah, bis er wegen des Interim und der Verfolgung durch den Kaiser aus der Stadt weichen musste.

Auch wenn man die Möglichkeiten der städtischen Prediger nicht unterschätzen darf, war der Wirkungskreis in Schwäbisch Hall begrenzt. Und doch ist Brenz schon sozusagen als Mann der ersten Stunde zu einem der bedeutenderen Reformatoren des Luthertums geworden. Gelegenheit dazu gaben die Herausforderungen, denen er sich zu stellen hatte. Im Bauernkrieg 1525 beharrte er auf dem gebotenen Gehorsam gegen die Obrigkeit, aber er mahnte auch die fälligen sozialen Reformen der Herrschenden an und widersprach später der drakonischen Unterdrückung der besiegten Bauern. Im selben Jahr stellte er sich an der Spitze einiger befreundeter fränkischer Pfarrer der symbolischen Deutung des Abendmahls durch Ulrich Zwingli 1484-1531 seinen Lehrer Johannes Oekolampad 1482-1531 und seinen Freund Martin Bucer 1491-1551 entgegen. Der biblische Wortlaut ließ auch nach der Auffassung von Brenz solche Interpretationskünste von 'ist' zu 'bedeutet' nicht zu. Von jetzt an kannte man Brenz als einen der Gefolgsmänner der lutherischen Reformation. Hohe und dauerhafte Schätzung genossen zudem seine ursprünglich aus den Haller Wochenpredigten erwachsenen Auslegungen biblischer Schriften. Die exponierten Pfarrer und Prediger der frühen Reformationszeit mussten kreative Generalisten sein, die auf den verschiedensten Gebieten neue und zugleich prinzipientreue Problemlösungen anzubieten vermochten. Sie wurden um ihren Rat gefragt in für die Evangelischen prekären politischen Situationen. Ihre Gutachten wurden von nah und fern erbeten. Darunter finden sich auch Stellungnahmen, die Meilensteine in der Praxis von Recht und Politik darstellen. Die evangelischen Geistlichen mussten lavierende Politiker bei der Stange halten. Dafür bedurfte es der Festigkeit wie der Verbindlichkeit gleichermaßen. Es war einer der großen Vorzüge von Brenz, dass er beide Eigenschaften besaß. Es galt neue Rechtsnormen zu entwickeln, z.B. im Ehe- oder im Ketzerrecht. Man brauchte die ausgewiesenen evangelischen Theologen bei den interkonfessionellen Verhandlungen auf dem Parkett von Reichstagen und Religionsgesprächen und damit erlangten diese Experten auch auf den politischen Etagen Bekanntheit. Ausdrücklich zu erwähnen ist, dass Brenz 1530 auf dem Augsburger Reichstag zu den Vätern und Verteidigern der Confessio Augustana, des evangelischen Hauptbekenntnisses, gehörte. Mehr als jemals sonst bedurfte es ferner der Architekten neuer Ordnungen für die Kirche. Schnell war Brenzens Begabung auf diesem Gebiet in Hall, in den Reichstädten, bei den benachbarten Rittern und nicht zuletzt in der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach gefragt. Zu diesem Anforderungskatalog gehörten auch neue Medien für die christliche Unterweisung der Jugend, ein Fragen- und Antwortbüchlein oder Katechismus. Das Endresultat von Brenz war der erfolgreichste Katechismus im Luthertum nach dem Luthers und in Württemberg jahrhundertelang im Gebrauch. Insgesamt hatte Brenz in seiner Haller Zeit so viel geleistet, dass "der Prediger" oder "Ecclesiast von Schwäbisch Hall" den Vergleich mit anderen süddeutschen Reformatoren keinesfalls zu scheuen brauchte. Wie nicht anders zu erwarten, erhielt Brenz mehrfach Berufungen in größere Ämter, ohne sie allerdings anzunehmen.

Die Beziehungen von Brenz zum Herzogtum Württemberg wurden bereits mit der Einführung der Reformation 1534/1535 geknüpft. Zwar schien der profilierte Lutheraner Brenz in dem zwischen der lutherischen und der schweizerischen Einflusssphäre befindlichen Württemberg nicht der geeignete Reformator zu sein, aber als Ratgeber in Organisations- und Ordnungsfragen wurde er mehrfach geholt und konnte bereits bis hinein in den personellen Bereich entscheidende Weichen stellen. Herzog Ulrich 1487/1498-1550 war es dann auch, der unter eigenen riskanten Umständen den vom Kaiser Verfolgten 1548 zeitweilig versteckte.

Am 6. November 1550 starb Herzog Ulrich. Ihm folgte sein Sohn, der 35jährige Herzog Christoph 1515/1550-1568 den in seinen religiösen Anschauungen als evangelischer Fürst der damals eben erschienene und durchaus aktuelle Jesaiakommentar von Brenz nachhaltig geprägt haben dürfte, ließ er sich doch dieses Werk später in den Sarg mitgeben. Christoph hatte mehr politischen Spielraum als sein vom Makel des Aufruhrs gegen den Kaiser stigmatisierter Vater. Aber er musste auch zusehen, wie er die politische Knebelung durch die Habsburger und die kirchliche durch das 1548 vom Kaiser verordnete, die Rekatholisierung intendierende Interim los wurde. Christoph zog alsbald Brenz als seinen wichtigsten kirchlichen Ratgeber heran. Dieser konzipierte 1551 die Confessio Virtembergica, das Bekenntnis, das der Herzog 1552 dem Konzil von Trient vorlegen ließ und das in den folgenden Jahren neben der Confessio Augustana und als deren Repetition zum eigentlichen Landesbekenntnis des lutherischen Herzogtums wurde. An der Spitze der württembergischen Theologendelegation in Trient stand bereits Brenz. Er schrieb in den kommenden Jahren auch die erste, umfängliche Verteidigung des Bekenntnisses gegen den Dillinger Dominikaner Petrus a Soto 1494-1569 Schon 1551 hatte Brenz mit der zunächst lateinischen, aber alsbald auch ins Deutsche übersetzten Explicatio Erklärung seines Katechismus ein weiteres theologisches Grundlagenwerk geschaffen. Die Konzilsbeschickung und der für die Protestanten günstige Passauer Vertrag im selben Jahr eröffneten Christoph dann die Möglichkeit, das Interim abzuschaffen und eine umfassende kirchliche Neuordnung anzugehen. An die Spitze dieses weiten Tätigkeitsbereichs stellte der Herzog Brenz, der damit eine bedeutendere Stellung erhielt, als er sie je zuvor innegehabt hatte.

2: Die Stellung des Stiftspropsts

Die Belehnungsurkunde für die Anstellung als Stiftspropst ist noch vorhanden.(2) Sie wurde erst am 24. September 1554 ausgestellt, besagt aber selbst, Brenz sei schon am 10. Januar 1553 ernannt worden. Nach den Ortsangaben in den Briefen von Brenz zu schließen, hielt er sich bis in den den Sommer 1553 noch in Tübingen auf. Die neuen Einkünfte sollten ihm ab Pfingsten 13. Mai 1554 gereicht werden. Erst vom September 1553 wird er ständig in Stuttgart fassbar. Mit diesem Monat hat er auch seine Reihenpredigten über die Genesis aufgenommen. Erstmals unterschreibt er am 10. September 1554 ein Gutachten für den Herzog mit seinem neuen Titel. Die Stelle des Stiftspropstes war durch den Tod des früheren Amtsinhabers, Jacob von Westerstetten, freigeworden. Man muss sich klarmachen, daß die Stuttgarter Stiftskirche zwar die Hauptkirche der Hauptstadt war mit der alten Grablege der Dynastie, aber für die kirchliche Organisation des Landes hatte sie bisher keine herausragende Rolle gespielt und das Stift ließ sich auch kaum mit den großen Landesklöstern vergleichen. Dass der Stiftspropst nunmehr als erster Geistlicher des Herzogtums herausgestellt wurde, war die Entscheidung des Herzogs, mit dem früheren Episkopalsystem zugunsten eines Landeskirchentums zu brechen. Die Ernennung erfolgte demgemäß durch den Herzog unter Berufung auf dessen Patronatsrecht, nach dem er einen Kandidaten präsentieren konnte. Sonstige kirchliche Instanzen waren dabei nicht eingeschaltet. Der Herzog operierte praktisch aufgrund des schon bestehenden landesherrlichen Kirchenregiments. Brenz wird als gelehrt, geschickt und qualifiziert für das Amt bezeichnet.

Die Stiftskirche war jedoch nicht allein eine Eigenkirche des Herzogs. Mit dem Amt des Stiftspropstes war das Pfarramt "uber die gantze kurchen zu Stutgarten" - von der Leonhardskirche ist hier merkwüdigerweise nicht die Rede - , das der Propst mit zwei von ihm zu bezahlenden "Helfern" zu versehen hatte. Brenz war also jedenfalls nominell zugleich der erste Stuttgarter Pfarrer. Der Herzog hielt die Unterhaltung der Helfer für Brenz für beschwerlich, ließ sie darum direkt aus dem Stiftsvermögen bezahlen und legte das Einkommen von Brenz gesondert fest: 300 Gulden, dazu als Naturallieferung bestimmte Mengen an Roggen, Dinkel, Hafer, Gerste, Erbsen und Linsen, 3 Fuder Wein, alles ausdrücklich in guter Qualität, ferner Heu Stroh und 30 Klafter (auf eigene Kosten zu fällendes) Holz. Zu den Einkünften gehörte auch die Wohnung in der Propstei, Stiftstraße 5. Diese Einkünfte sollten bis ein Quartal nach dem Tod von Brenz gereicht werden.(3)

Brenz wurde vom Herzog jedoch nicht allein als Propst und Pfarrer angestellt, sondern daneben von vornherein auch lebenslänglich als Rat in Geschäften des Herzogs und der Kirche. Herzog Christoph kannte offensichtlich die besondere Begabung von Brenz als Glied eines leitenden Gremiums. Dafür wurden ihm als besondere, vom Stift (!) zu reichende Besoldung weitere 140 Gulden und zusätzliche beträchtliche Naturalien sowie zwei Hofkleider ausgesetzt Schließlich wurde er von Abgaben und Steuern freigestellt. Innerhalb der Kirche genoss Brenz nunmehr insgesamt eine Spitzenbesoldung, zu denen noch ein bescheidenes Vermögen in Schwäbisch Hall - 1553 hatte er dort 650 Gulden zu versteuern - hinzukam.(4) Der radikale Pietist Gottfried Arnold 1666-1714 hat sich in seiner Unparttheyische(n) Kirchen- und Ketzerhistorie über das politische Amt von Brenz mokiert(5), was dann von den württembergischen Apologeten von Brenz in der Württembergische(n) Unschuld des SuperintendentenCarolus entrüstet zurückgewiesen worden ist.(6) Unbestreitbar hat Arnold eine strukturelle Problematik wahrgenommen, die wesentlich zu der von Brenz wahrzunehmenden Funktion gehört. Ob der Kritiker ihr dabei ganz gerecht geworden ist, steht dahin. Dass Herzog Christoph seinem neuen Stiftspropst eine zentrale Rolle beim planvollen Ausbau der Landeskirche und damit des württembergischen Staatswesens überhaupt zugedacht hatte, wird sogleich darzulegen sein. Dass die Beziehung von Landesherr und führenden Theologen wohl über das bloß Dienstliche hinausging, deutet sich gelegentlich an. Jedenfalls schenkte Herzog Christoph Brenz bereits 1554 wenige Tage nach der Ernennung aus kirchlichen Pfründen einen Grundbesitz in Bulach im Schwarzwald, wo sich Brenz später auch gern und regelmäßig aufhielt.(7) 1561 konnte er ein weiteres Gut bei Bulach vom Herzog erwerben, das auch als Zukunftssicherung für die nach der zweiten Heirat noch junge Familie vorgesehen war.

Wie gesagt, war Brenz als Propst auch der Inhaber des Pfarramts an der Sitftskirche. Man wird annehmen müssen, dass er infolge anderer Beanspruchungen oder der nicht seltenen Abwesenheiten vieles von den laufenden pfarramtlichen Geschäften den erwähnten Helfern überlassen mußte und konnte. Während von seinen Stuttgarter Sonntagspredigten nur wenige noch nachweisbar sind, lässt sich belegen, dass Brenz sehr kontinuierlich Wochenpredigten, in denen fortlaufend einzelne biblische Bücher ausgelegt worden sind, gehalten hat. Diese Predigten waren bisweilen nur mäßig besucht. Brenz nahm es gelassen und selbstbewusst hin: "Die Brunnen geben auch Wasser, wenn keiner daraus trinkt." Aus den Wochenpredigten sind die Auslegungen von Genesis bis Josua (außer dem früher ausgelegten Leviticus), dazu die des Matthäus- und des Markusevangeliums entstanden.(8) Von 1568 an war der alte Brenz von seinem Predigtamt befreit. Den Stuttgarter Predigten lassen sich auch noch manche konkreten Anspielungen entnehmen.(9) Sogleich die erste ging auf die Übung des wöchentlichen Bet- und Bußtages ein. Der Sündenkatalog ist beträchtlich, aber vielleicht eher topisch als bereits der eigenen Erfahrung entnommen, die der neue Propst eigentlich gar nicht haben konnte: Abgötterei, Aberglauben, Gottlosigkeit, Fluchen und Schwören, ungenierte Trunkenheit, Unzucht als Scherz, Betrug im Handel, Verachtung von Gottes Wort. Brenz wollte sich jedoch nicht in der Gesetzlichkeit erschöpfen; wegen der Messiasverheißungen nannte er die Genesis einen liber euangelicissimus, ein ganz evangelisches Buch. Immer wieder wurde die Abgrenzung zu den Altgläubigen scharf markiert. Weil er das Fegfeuer als Zwischenzustand der Seelen der Verstorbenen nicht glaubte, hielt er auch nichts von angeblichen Poltergeistern. Auch gegen den Hexenglauben hat sich der alte Brenz prinzipiell gewandt, weil Gott die Geschicke in Händen hat. Die Bestrafung magischer Machenschaften schloss er deswegen jedoch nicht völlig aus

Brenz musste selbstverständlich dagegen sein, dass die Stuttgarter Jugend lieber zum Tanzen als zum Katechismusunterrricht ging, zumal er die groben Tanzsitten der Zeit ohnehin ablehnte. Scharf wandte er sich gegen die Trunksucht, die den Menschen für seine gesellschaftlichen Aufgaben untauglich mache und als Ursache mancher Sünde betrachtet wird. Die Auffassung von der Fürsorgepflicht der Obrigkeit für die Kirche, einer der Pfeiler der Ordnungsvorstellungen von Brenz, wurde von ihm auch von der Kanzel aus propagiert. Den Wiedertäufern wurde ihre Ablehnung der Obrigkeit, des Eides und natürlich der Kindertaufe zum Vorwurf gemacht.

Neben seinem pastoralen Amt ist Brenz zusammen mit dem Landhofmeister als höchstem weltlichem Beamten "die Superintendentz und Inspection" im sog. Kirchenrat, der für die Verwaltung der Kirche zuständigen Landesbehörde, zugewachsen. Im sich herausbildenden württembergischen Staatskirchentum war der Kirchenrat neben dem weltlichen Oberrat und der für die Finanzen zuständigen Rentkammer eine der Landesbehörden. Die kirchliche Verwaltung wurde zum Teil auch von weltlichen Beamten wahrgenommen und der weltliche Landhofmeister war eine der Spitzen des Kirchenrats. Aber mit Brenz als seinem Pendant war zunächst einmal für die Interessen der Kirche gesorgt. An gewichtigen Entscheidungen war er zu beteiligen. In der Tat ist Brenz von 1553 an vollends zu einem der maßgeblichen Architekten der württembergischen Kirchenordnung geworden.

3: Das Ordnungswerk

Das nach dem Interim wiederhergestellte evangelische Kirchenwesen bekam rasch, nämlich noch 1553, die sog. Kleine Kirchenordnung, wie es mit der Leere und Ceremonien im Fürstenthumb Wirtemberg angericht und gehalten werden soll. Lehrnorm waren die Confessio Augustana und (sozusagen als ihre Wiederholung) die Confessio Virtembergica. Es folgen sodann die Erläuterung der Taufe mit Abgrenzung gegen die Wiedertäufer und die Taufordnung, der Katechismus von Brenz, Buße und Absolution, die Ordnung des Nachtmahls, die kirchlichen Gebete, Kirchengesang (noch ohne Gesangbuch), Kirchenkleidung (mit Chorrock), die Ordnung der Feiertage, (erst jetzt) die (seit 1535 praktizierte) überaus schlichte Ordnung des Predigtgottesdienstes, die Trauungsordnung, Krankenbesuch und -kommunion und schließlich die Begräbnisordnung.

An der Entwicklung des württembergischen Systems der Kirchenleitung ist Brenz vielleicht schon 1551, mit Sicherheit jedoch 1553 zumindest entscheidend beteiligt gewesen. Er setzte dabei nicht auf zu wählende Dekane und Kapitelsynoden wie bisher, sondern in Fortentwicklung lutherischer Modelle auf Superintendenten und deren mehrfache Visitationen in ihren Bezirken im Jahr, wobei die sog. Spezialsuperintendenten ihrerseits von den insgesamt vier Generalsuperintendenten visitiert wurden. Die Generalsuperintendenten traten mit dem Kirchenrat zum Synodus - wohlgemerkt kein gewähltes oder repräsentatives Gremium - zusammen, der die Visitationsberichte auswertete und dann die entsprechenden Entscheidungen traf. Die Visitation vor Ort und die Entscheidung durch die Zentralbehörde waren, vom gewählten System aus betrachtet, ideal miteinander verbunden, und deshalb wurde nachher auch jahrhundertelang daran festgehalten. Das System der Beaufsichtigung von oben funktionierte so gut, dass es sogar auf die weltliche Verwaltung übertragen wurde. Schnell stellte sich jedoch das ohnedies für die Reformation schwer zu bewältigende Problem, ob man mit solcher weisungsgebenden Zentralisierung den Bedürfnissen der Seelsorge und der Kirchenzucht in den Gemeinden Genüge tun konnte.(10)

Den Gemeinden hatte Brenz ohnedies kaum Rechte und Selbständigkeit belassen. Pfarrwahlen waren nicht vorgesehen. Brenz hatte seit dem Bauernkrieg die Auffassung vertreten, wenn die Obrigkeit (!) einen geeigneten Kandidaten vorschlage, was sie z.B. als Patron schon längst praktizierte, habe die Gemeinde nichts einzuwenden. Bekanntlich sind jedoch Ablehnungen nur schwer triftig zu begründen. Auch wenn einem die Relativität und begrenzte Kompetenz von Pfarrwahlen bewusst ist und auch wenn man die schon von den Prüfungen herrührende eigentliche Personalkenntnis sowie übergeordnete Gesichtspunkte bei Personalentscheidungen anerkennt, muss man eingestehen, dass das Besetzungsrecht einseitig der Behörde zugefallen war.

Die Entmündigung der Gemeinden bestand gleichfalls im Bereich der Kirchenzucht. Dabei muss man sich klarmachen, dass eine eigene kirchliche Gerichtsbarkeit weder bei den politischen Instanzen noch in der Gesellschaft beliebt war. Die Kirche konnte jedoch um der Reinheit der Gemeinden willen offenkundige Sünder nicht zum Abendmahl oder als Paten zulassen. Sie musste deswegen auch gegen Trunkenbolde, Flucher usw. vorgehen, auch wenn solche Leute für die weltliche Justiz gar nicht auffällig waren. Ursprünglich hatte man diese Sittenaufsicht den Amtleuten überlassen, aber das funktionierte nicht. Eine presbyteriales Gremium gab es bei den Lutheranern nicht. Brenz war auch dagegen, die denkbare Zulassung oder Abweisung von Sündern den Pfarrern zu überlassen. Sie sollten die betreffenden Personen nach oben melden und dort, fern von der Basis (!), sollte entschieden werden. Bereits 1554 musste der Stiftspropst dem Herzog einen strittigen Fall unterbreiten.(11) Beeinflußt von calvinistisch-presbyterialen Vorstellungen hatte der Nürtinger Pfarrer Caspar Lyser 1526-1555 unter Berufung auf die Gemeindeordnung Mt 18 ein Exkommunikationsrecht auf Gemeindeebene gefordert. Brenz lehnte dies mit dem fadenscheinigen Argument ab, es müsse alles ordentlich zugehen. Die Kompetenz über Lehre, Sakramentsverwaltung und Gemeindeaufsicht, also auch über den Ausschluss vom Abendmahl stehe dem Gremium aus Generalsuperintendenten und Kirchenrat zu. Er wollte nicht einsehen, dass damit das System einen Fehler hatte und suchte die Schuld bei den weltlichen Beamten oder den Pfarrern. Brenz wollte großzügig und erstaunlich nachsichtig lieber eine Beeinträchtigung der Heiligkeit der Gemeinde in Kauf nehmen als eine neuerliche Klerikerherrschaft in der Kirche aufgerichtet wissen. Dementsprechend wurde vom Herzog entschieden. Auch der mit Lyser sympathisierende junge Jakob Andreae 1528-1590 der rasch im kirchlichen Dienst aufgestiegen war, konnte lediglich erreichen, daß den Pfarrer ein schwaches Abmahnungsrecht vom Abendmahl gegenüber offenbaren Sündern eingeräumt wurde, um einen Empfang des Sakraments zum Gericht zu vermeiden. Es konnte eigentlich nicht anders sein, als dass das Problem der Kirchenzucht in den folgenden Jahren immer wieder virulent wurde. Auch der Herzog wurde inne, dass es eigentlich einer gemeindeeigenen Kirchenzuchtinstanz bedurfte, ließ sich von seinen Ratgebern dann doch wieder davon abbringen, weil dies gesellschaftlich nicht realisierbar sei. Eine Korrektur des Systems erfolgte nicht. Man gab sich dem funktionierenden Beaufsichtigungsapparat zufrieden und nahm die damit nicht zu bewältigenden Unzulänglichkeiten auf Gemeindeebene hin.

Als weitere Ordnungsleistung lässt sich Brenz die konstruktive Verwendung der bisherigen großen Mannsklöster zuschreiben. Die Reformatoren waren der übereinstimmenden Meinung, die Klöster seien ursprünglich Schulen und Stätten der Schriftauslegung gewesen. Brenz hatte schon 1529 entsprechende Reformvorschläge für das ansbachische Kloster Heilsbronn gemacht. Auf ihn geht wohl auch die württembergische Klosterordnung von 1556 zurück, die die Klöster in auf die Universität vorbereitende Lateinschulen verwandelte, wobei die Stellen der Prälaten an ihrer Spitze samt der damit verbundenen Zugehörigkeit zum Landtag erhalten blieben und verdienten evangelischen Geistlichen eingeräumt wurden. Zum Teil wurden damit auch die Generalsuperintendenturen verbunden. In den Klosterschulen wurden Elemente eines monastischen Lebens weiterhin praktiziert. Die Klosterschüler waren faktisch Stipendiaten, finanziert aus dem Klostergut. In Verbindung mit dem Herzoglichen Stipendium in Tübingen war damit für die Finanzierung der Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses großzügig, effizient und meist besser als anderswo gesorgt. Mit diesen personellen Ressourcen ließ sich alsbald erfolgreiche lutherische Konfessionspolitik machen. Das Bildungssystem hat sich auch nachhaltig auf die sich ausbildende lutherisch-ständische Gesellschaft des Herzogtums ausgewirkt. Wie sehr Brenz an der Entwicklung der Klosterschulen persönlich lag, erkennt man noch daraus, dass er deren Visitation, die selbstverständlich auch in diesem Bereich praktiziert wurde, zu seiner eigenen Aufgabe machte. Dafür gibt es noch ein literarisches Denkmal. Bei seinen Visitationen pflegte Brenz jeweils einen Psalm auszulegen. Dies hatte eine Beziehung zu dem in den Klöstern weiterhin geübten Psalmengesang, zu dem jedoch nach reformatorischer Auffassung unabdingbar die Auslegung gehörte. Von 1565 an ist die solide, kaum aktualisierende, gelegentlich aus der Kirchengeschichte illustrierende und manchmal auch trockene Auslegung dieser Psalmen im Druck erschienen, mit der Brenz immerhin bis zu Ps 107 gekommen ist.

Binnen vergleichsweise weniger Jahre war das kirchliche Ordnungswerk 1559 vollendet und wurde nunmehr nochmals insgesamt in einem stattlichen Band publiziert mit dem Titel Von Gottes gnaden unser Christoffs Hertzogen zuo Würtemberg und zuo Teckh / Graven zu Mümpelgart / etc. Summarischer und einfältiger Begriff / wie es mit der Lehre und Ceremonien in den Kirchen unsers Fürstenthumbs / auch derselben Kirchen anhangenden Sachen und Verrichtungen bisher geübt und gebraucht / auch fürohin mit verleihung Göttlicher gnaden gehalten und volzogen werden solle, häufig auch als württembergische Große Kirchenordnung bezeichnet. Genau besehen und genau entsprechend der obwaltenden Konzeption, wie sie auch das Vorwort nochmals entfaltet, gibt sich der Sammelband als das Ordnungswerk des Landesherrn für die Landeskirche auf der Grundlage der Confessio Virtembergica und der geltenden Landesordnung unter Einbeziehung der weiteren Ordnungen (Kirchendiener, Ausbildung, Kirchenzucht usw.) betreffend. Die ganzen kirchlichen Ordnungen sollten "in einem Werck verfaßt" zur Hand sein. Der Herzog betrachtete die Versorgung der "Undergebene(n) Landschaft mit der reinen Leer des heiligen Euangelii, so den rechten Frieden des Gewissens bringt unnd die hailsame Waid zuom ewigen hail unnd Leben ist", durchaus als Verantwortung der weltlichen Obrigkeit, obwohl der Vorrede bekannt war, daß es auch die Auffassung gab, die Regierung habe sich auf das Weltliche zu beschränken. Die Formulierungen stammen direkt oder indirekt von Brenz. Die einzelnen Ordnungen werden zwar nicht absolut gesetzt, gelten aber unter den gegebenen Umständen als optimal und darum verbindlich. Man sollte den Anhängern der Confesssio Augustana nicht nachsagen können, bei ihnen herrsche keine Ordnung. Deshalb werden auch keine Sekten und abweichende Meinungen geduldet. Um Gottes Gnade und Segen willen und zur Abwendung seines Zorns wird der Gehorsam gegen die Ordnung eingefordert.

4: Die Aufgaben des leitenden Theologen

Der pastorale Dienst an der Stiftskirche, die Verwaltungsarbeit in der Kirchenbehörde, die Visitationstätigkeit und das Ordnungswerk waren an sich schon mehr als genug für eine einzelne Person, zumal Brenz auch sonst noch theologisch arbeitete, wie sein Großer Kommentar zum Römerbrief (1564) beweist. Darüber hinaus war der Theologe noch durch die theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit gefordert, ging es doch jeweils um die Behauptung und Verteidigung der evangelischen Wahrheit und der reinen Lehre. Auch wenn 1555 der politische Religionsfriede erreicht worden war, ging die theologische Auseinandersetzung mit der katholischen Gegenseite weiter. Dazu kam die vielfache bittere Zerstrittenheit der Evangelischen untereinander. Es war die Zeit, als sich Melanchthon sehnte, allem Streit entnommen zu werden. Wer sich in leitender theologischer Stellung befand, konnte den Auseinandersetzungen kaum entgehen. Brenz war also in den letzten Jahren seiner Berufstätigkeit nicht allein äußeren Anstrengungen, sondern, wie bei kirchlichen Oberen nicht selten, Anfeindungen, Irrtümern und Ärger ausgesetzt. Er hat dies ohne allzu große Klagen als eine seiner Pflichten auf sich genommen und ist dabei in unterschiedlichen Rollen nochmals einer der aktiven Mitwirkenden an der Kirchen- und Theologiegeschichte seiner Zeit mit eigenen Beiträgen gewesen. Hier sollen lediglich die bedeutenderen Konfrontationen in den Blick gefasst werden, wobei jedoch zu erinnern ist, daß es deren noch mehr gegeben hat.

Schon als einer der Leiter des Kirchenrats hatte Brenz u.a. etwaige Sektierer - hauptsächlich Schwenckfelder und Wiedertäufer - zu examinieren, was beides nicht neu für ihn war. Die Ablehnung der lutherischen Sakramentslehre konnte sich bei ihnen mit der Kritik am sittlichen Zustand der Kirche verbinden.

Schon aufgrund seiner alten Bekanntschaft mit dem Nürnberger Reformator Andreas Osiander 1498-1552 war Brenz in die Auseinandersetzungen um dessen Rechtfertigungslehre verwickelt worden, die nach Osianders Wechsel nach Preußen dort aufgebrochen waren. Osiander war weniger an der zugerechneten Gerechtigkeit aufgrund der Genugtuung Christi als an der übereigneten (effektiven) göttlichen Gerechtigkeit interessiert, was sich mit dem herrschenden Wittenberger Frömmigkeitstypus kaum vereinbaren ließ und deshalb in Königsberg auch zu schwerem Streit führte. Osiander war dabei durch spekulative Vorstellungen der Renaissancephilosophie bestimmt, die sich theologisch schwerlich vermitteln ließen. Obwohl Brenz eigentlich mit Melanchthon einig ging, hielt er die Differenz lediglich für einen Wortstreit und suchte mit den württembergischen Theologen zu vermitteln. Nicht von ungefähr bot ihm Herzog Albrecht eines der preußischen Bistümer an. Offenkundig unterschätzte Brenz die Tiefe des Gegensatzes, dem er dann faktisch auch nicht beizukommen vermochte, weil sich die Wittenberger von seinen Verharmlosungen nicht überzeugen ließen. Immerhin fanden einige Schüler und Nachfahren des schon 1552 gestorbenen Osiander in Württemberg eine Bleibe.

Kein Streit hat die Evangelischen so tief und nachhaltig gespalten wie der über das Abendmahl, an dem Brenz von Anfang an auf der Seite Luthers in vorderer Linie beteiligt war. Auch die Wittenberger Konkordie von 1536 hatte die Gegensätze auf die Dauer nicht überbrücken können. Die Schweizer hatten sich ihr nicht angeschlossen, und mit dem mit Zürich liierten Calvinismus breitete sich in den 50er Jahren in Westeuropa und dann auch in Deutschland eine Richtung aus, die mit der lutherischen Lehre nicht übereinstimmte. Allerdings blieb es nicht verborgen, dass Melanchthon den calvinistischen Vorstellungen Sympathien entgegenbrachte. Schon die räumliche Nähe zur Schweiz und alsbald auch zu calvinistischen Territorien innerhalb des Reiches musste die württembergischen Lutheraner in ihrer Wachsamkeit sensibilisieren. Gegenüber dem 1556 nach Stuttgart gekommenen Johannes à Lasco 1499-1560 ehemals Vorsteher der Londoner und Emdener Fremdengemeinde, wahrten der Herzog und Brenz wegen seiner Nähe zu Johannes Calvin 1509-1564 Distanz. 1556 trat Brenz erneut in der Reihe der Verteidiger der realen Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl und der damit verbundenen Christologie in Erscheinung. Es handelt sich dabei um den Sachverhalt, daß die menschliche Natur Christi teil hat an den Eigenschaften der göttlichen und umgekehrt. Dabei ergeben sich erhebliche zu bewältigende Denkschwierigkeiten, aber dahinter steht als respektables Frömmigkeitsinteresse, dass Gott sich in Christus ganz zu den Menschen begeben und sie angenommen hat.(12) Hier stand jenes theologische Profil auf dem Spiel, das kaum einer so treu wie Brenz von Luther übernommen und weitervermittelt hatte.

1559 wurde Bartholomäus Hagen gest. 1569 Pfarrer in Dettingen bei Kirchheim/T. und geistlicher Vertrauter der im benachbarten Nürtingen lebenden Mutter Herzog Christophs, auffällig mit calvinistischen Anschauungen über das Abendmahl. Auf Anweisung des Herzogs befassten sich die führenden Theologen mit dem Fall auf einer Art Synode in Stuttgart. Die Synode verpflichtete die württembergischen Geistlichen auf ein "Bekenntnis von der wahrhaftigen Gegenwärtigkeit des Leibes und Blutes Christi im heiligen Nachtmahl", was mit Ausnahmen (Matthäus Alber 1495-1570]) auch durchgesetzt wurde. Dieses energische Vorgehen hatte seinen Grund zunächst wohl darin, dass eben damals die Württemberger erkennen mussten, dass der alte Melanchthon von der Christologie Luthers abrückte und alsbald das Stuttgarter Bekenntnis abfällig als "Hechinger Latein", unverständliches Kauderwelsch, qualifizierte, für Brenz zweifellos die bittere Erfahrung eines Dissens, der nicht mehr ausgeräumt werden konnte. Dazu kam 1560 der Übertritt Kurfürst Friedrichs von der benachbarten Pfalz zum Calvinismus. Brenz und die Württemberger hatten mit ihren Gegenvorstellungen keinen Erfolg. Aus diesem Anlass entfaltete Brenz seine durch die württembergischen Theologen ausdrücklich wiederum Auffassung Von der persönlichen Einigung dere beiden Naturen in Christus... (1561), die auch die Realpräsenz erweisen sollte. Dies erweckte den entschiedenen Widerspruch der Zürcher Theologen Heinrich Bullinger [1505-1575 und Petrus Martyr Vermigli 1500-1562 die sich von Brenz völlig getrennt wußten. Die Kontroverse entwickelte sich zu einem bis in die letzten Jahre von Brenz andauernden Streitschriftenwechsel, dem immerhin die konsequente Entfaltung der späten Christologie von Brenz in dessen theologisch gewichtigsten Schriften zu verdanken ist. Eine Einigung mit den kurpfälzischen Theologen, wie sie 1564 mit dem Maulbronner Gespräch versucht wurde kam nicht mehr zustande. Damals überließ Brenz übrigens bereits die Wortführung dem jüngeren Jakob Andreae. Die Württemberger haben sich mit ihrem konsequent lutherischen Standpunkt auch die Kritik anderer Lutheraner zugezogen und haben die eckigen Positionen von Brenz im deutschen Luthertum lediglich abgeschwächt durchsetzen können, waren doch ihre Partner allesamt eben auch Schüler Philipp Melanchthons 1497-1560

Weder die wohl doch zu starke Vermittlungsbereitschaft im osianderschen Streit noch die Ausarbeitung einer überaus markanten Position in der Abendmahlslehre und Christologie kennzeichnen die theologische Linie von Herzog Christoph und Brenz zureichend. Die Württemberger mussten auch zu den heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Wittenberger Melanchthonianern und den sie wild bekämpfenden sog. Gnesiolutheranern unter der Führung von Matthias Flacius 1520-1575 Stellung nehmen, zumal sie wie z.B. im osiandrischen Streit gelegentlich selbst zwischen die Fronten und in die Schusslinien gerieten. An sich war man sich in Württemberg darüber bewusst, wie wichtig die Einigkeit des Luthertums auf Reichsebene und für die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus war. Nachdem die Uneinigkeit des Protestantismus beim Wormser Religionsgespräch 1557 zur Genugtuung der Katholiken offenbar geworden war, ließ sich auch 1561 auf dem Naumburger Fürstentag keine Einigung herbeiführen. Die Streitigkeiten motivierten die Württemberger nach eine Beilegung zu suchen: Dies gelang zu den Lebzeiten von Brenz nicht mehr, aber später sollte man auf dieser Linie zum Ziel kommen.

5: Das Testament und Vermächtnis des Propsts

Bereits 1566 machte Brenz im mit 1. Kön 20,1 nüchtern formulierten Bewusstsein, dass er sein Haus zu bestellen habe, sein Testament, dessen offizieller Teil "das Predigtamt betreffend" nach seinem Tod auch veröffentlicht wurde.(13) Es beginnt mit der Bitte um die rechte Lebensgestaltung angesichts des bevorstehenden Todes, nicht in falscher Sicherheit, sondern in gottesfürchtiger, gehorsamer Erwartung des Ziels mit fröhlichem Gewissen. Eine Rückblende erwähnt die christlich verstorbenen Eltern, die ihm die Schulbildung hatten angedeihen lassen, sodann die beiden Stände des Predigtamts des heiligen Evangeliums Christi und der Ehe, in die Brenz durch göttliche Schickung gekommen sei. Dies sind dann auch die beiden Bereiche, mit denen sich das Testament befaßte, von denen jedoch die ökonomischen Verfügungen nicht erhalten sind.

Die Spitze bildet ein Glaubensbekenntnis zunächst hinsichtlich der Heiligen Schrift. Deren Bücher "seien ein wahrhafftige Schrifft des H. Geists, unnd ein gewisse Missiva, Epistola oder Sendtbrief des Allmechtigen, Barmhetzigen Gottes an das gantz menschlich Geschlecht", - der Prediger hebt charkteristische die Adressiertheit der Bibel hervor -; sie sei ausgewiesen durch Wunder, daß wer daran zweifle unter die verzweifelen Epicurer, Juden, Heiden und Türken zu zählen sei. In der Schrift lehre der Heilig Geist, "was von Gott, von dem Wesen Gottes und von dem Willen Gottes gegen dem menschlichen Geschlecht zu wissen, zu erkennen, zu halten, zu glauben, zu reden und zu predigen se, auch was der Mensch zu Gott sich zu versehen hab", samt dem entsprechenden Verhalten. Es wird erkennbar dass für Brenz der persönliche Glaube und die dem Prediger aufgetragene Botschaft zusammenfallen. Dies stimmt für ihn zugleich mit den drei altkirchlichen Bekenntnissen überein. Von den altkirchlichen Konzilsentscheidungen werden das trinitarische und, wie bei dem großen Christologen Brenz nicht anders zu erwarten, das christologische Dogma ausdrücklich übernommen. Alle anderen Konzilsentscheidungen haben sich an der Heiligen Schrift zu bewähren. Entsprechend dem Apostolicum bekennt sich Brenz zur Existenz einer auserwählten Kirche und deren Erhaltung, nicht ohne zugleich der Verunreinigung und Verdunklung, besonders auch mit dem Papsttum zu konstatieren. Unter den von Gott wiederfahrenen Guttaten wird besonders dafür gedankt, "daß er mir das zeitlich Leben eben zu dieser Zeit gegonnet und gegeben, da es seiner Barmhertzigkeit wolgefallen, den Greuel des Papstthums und das rechte Licht des Evangelions Christi der Christlichen Kirchen durch den Herrn Doctor Martin Luther, seliger Gedächtniß, meinen freundlichen lieben Praeceptorem zu offenbaren." Als Summa dieser Lehre wird die "Augsburgisch Confession" aufgeführt, zu der sich Brenz mit Herz und Mund bekennt und alle Lehre und Sekten verwirft, die sich wider sie erheben. Ausdrücklich und ausführlich werden hier die Zwinglianer mit ihrer Leugnung der Realpräsenz im Abendmahl und der Vereinigung der beiden Naturen in der Christologie genannt, besonders auch die (kurpfälzischen) Bemühungen den Zwinglianismus der Confessio Augustana unterzuschieben. Einer gewaltsamen Verfolgung der Zwinglianer sei jedoch damit nicht das Wort geredet. Von Irrtum oder verderblicher Lehre in seinen eigenen Schriften weiß Brenz nichts; etwaiges Ungereimtes sei nach der Norm der Heiligen Schrift zu beurteilen.

Dankbar gedenkt Brenz schließlich Herzog Christophs und des Hauses Württemberg wegen seiner Aufnahme, nachdem er durch das Interim verjagt worden war. Herzog Christoph habe ihm seine fürstliche Gnade liebevoll zugewendet und ihm mehr Guttaten erwiesen, als er je vergelten könne. Eine Fürbitte für den Herzog und sein Haus um Gottes Schutz und Erhaltung in der Erkenntnis des Evangeliums Christi schließt sich an, und Gleiches empfiehlt Brenz seinen Angehörigen. In sämtlichen Elementen läßt dieses Testament nochmals erkennen, was für den alten Brenz wesentlich war.

Der Tod Herzog Christophs Ende 1568 musst Brenz schwer treffen, beendete er doch ein nahezu einzigartiges Zusammenwirken. Ein Jahr später erlitt Brenz einen Schlaganfall, der seine Kraft brach. Am 31.August 1570 ließ er vor seinen Angehörigen und den Stuttgarter Geistlichen sein Testament als Bekenntnis verlesen und verband dies mit der Mahnung des Ps 133 zur Einigkeit. Für sein Grab hatte er den heute noch markierten Platz unter der Kanzel der Stiftskirche bestimmt, "damit, wenn etwa nach der Zeit Jemand von dieser Kanzel eine Lehre verkündigen sollte, entgegensetzt der, welche ich meinen Zuhörern vorgetragen, ich mein Haupt aus dem Grab erheben und ihm zurufen kann: Du lügst!"(14) Am 11. August ist Brenz gestorben.

Nachzutragen bleibt noch die Bitte der Witwe mit den unversorgten Kindern, ihr analog wie für die Prälaten vorgesehen nicht bloß eine Gnadenquartal, sondern ein ganzes Gnadenjahr zu belassen. Herzog Ludwig hat dieser Bitte umgehend stattgegeben.(15)

Das Epitaph, heute in der Sakristei der Stiftskirche, bezeichnet Brenz der Herkunft nach als Schwaben aus Weil der Stadt, qualifiziert ihn vorweg als hochberühmten Theologen und führt als berufliche Stellung Propst und Rat der württembergischen Herzöge an. Er habe zu den ersten Wiederherstellern der gereinigten Kirche gehört was zutraf die prophetischen und apostolischen Schriften auf Hohen Schulen, in Predigten, aber auch auf Reichstagen und in seinen Werken erhellt und verfochten, um des Bekenntnisses willen die Verbannung standhaft ertragen, mit seinem Rat die Kirche und das Vaterland unterstützt, durch sein unbescholtenes Leben seinem Beruf Ehre gemacht und über 50 Jahre zum großen Nutzen der Kirche gearbeitet. Das große organisatorische Werk von Brenz, das Spezifische seiner Theologie und ebenso seine Frömmigkeit werden damit nicht voll ausgeleuchtet.

Unter den führenden Geistlichen der Stiftskirche hat keiner mehr die Bedeutung von Brenz erlangt, die ihm in später Phase seines Lebens und vergleichsweise kurzen anderthalb Jahrzehnten in der eigentümlichen Beziehung mit seinem Herzog zuteil geworden ist. Man kommt nicht darum herum, sich mit dem Werk und Erbe auch kritisch auseinanderzusetzen. Aber Respekt und Dankbarkeit wird man der Gestaltung insgesamt schwerlich versagen können.

Aktualisiert am: 19.03.2018