Martin Frecht und die Reformation in Ulm

Von: Kirn, Hans-Martin

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Herkunft und Jugend in Ulm
  2. 2: Auf dem Weg zum geachteten Gelehrten: Studium und Dozententätigkeit in Heidelberg
  3. 3: Die Berufung nach Ulm als theologischer Lehrer
  4. 4: Die Nachfolge Konrad Sams
  5. 4.1: Konfliktfeld Kirchenzucht
  6. 4.2: Schul- und Bildungswesen
  7. 4.3: Synoden und Visitationen
  8. 5: Das Verhalten gegenüber der altgläubigen Minderheit
  9. 6: Radikalreformatorische Herausforderungen
  10. 6.1: Täufer
  11. 6.2: Sebastian Franck
  12. 6.3: Kaspar von Schwenckfeld
  13. 6.4: Ein Seitenthema: Das Verhältnis zu den Juden
  14. 7: Frechts Unterstützung von Bucers Konkordienwerk
  15. 8: Frechs reformatorisches Wirken über Ulm hinaus
  16. 9: Das Interim: Gefangenschaft und Verbannung
  17. 10: Die letzten Jahre in Tübingen
  18. Anhang

1: Herkunft und Jugend in Ulm

Martin Frecht wurde 1494 als wohl ältester Sohn des Schuhmachers und langjährigen Zunftmeisters Martin Frecht gest. nach 1533 in Ulm geboren.(1) Seine Jugend in der wirtschaftlich prosperierenden Reichsstadt, einer "Zierde des Schwabenlands", bleibt weithin im Dunkeln. Die familiären Verhältnisse scheinen eher ärmlich gewesen zu sein. Frecht besuchte die renommierte Lateinschule der Stadt und nahm Anfang 1514 im Alter von 20 Jahren das Studium der Philosophie in Heidelberg auf. Von den Geschwistern treten in späteren Jahren hervor: Die in Nürnberg seit 1537 mit einem Kaufmann verheiratete Schwester Margarete und der jüngere Bruder Jörg gest. 1554 der in Ulm vom Vater das Schuhmacherhandwerk erlernte und wie dieser die Einführung der Reformation in Ulm unterstützte. Als Zunftmeister und Ratsherren nahmen beide einflussreiche politische Ehrenämter wahr.

2: Auf dem Weg zum geachteten Gelehrten: Studium und Dozententätigkeit in Heidelberg

Im Oktober 1517 legte Frecht in Heidelberg das Magisterexamen ab, trat dem Lehrkörper der Artistenfakultät bei und begann mit dem Theologiestudium. Spätestens Anfang 1529 hat er den akademischen Grad des Lizentiaten der Theologie erworben (entspricht praktisch dem Doktortitel). Bedeutsam wird die Heidelberger Zeit durch die hier geknüpften Verbindungen mit humanistisch gebildeten Studienfreunden und Kollegen, genannt seien nur Martin Bucer 1491-1551 Johannes Oekolampad 1482-1531 Simon Grynaeus 1493-1541 und Johannes Brenz 1499-1570 Ein persönlich und theologisch besonders inniges Verhältnis entwickelte sich zu Martin Bucer.

Die entscheidende reformatorische Weichenstellung bringt das Erlebnis Martin Luthers bei der Heidelberger Disputation 1518: Luther gewinnt neben Bucer, Brenz, Erhard Schnepf 1495-1558 und Theobald Billican um 1490-1554 auch Frecht für seine an Paulus und Augustin orientierte Kreuzestheologie. Diese wird freilich noch weithin im Rahmen des erasmischen Humanismus gedeutet. Ein Parteigänger Luthers ist Frecht nicht geworden: In den mit großem Unbehagen verfolgten Abendmahlsstreitigkeiten der 20er Jahre gelten seine Sympathien ganz Luthers Gegnern Andreas Karlstadt um 1480-1541 und Huldrych Zwingli 1484-1531 Seiner irenischen Grundhaltung gemäß liegt ihm jedoch von Anfang an die Verständigung mit der lutherischen Seite am Herzen.

Offenbar hat sich Frecht schon seit 1522 an theologische Lehrveranstaltungen herangewagt. Von 1529-1531 nimmt er die offizielle Aufgabe eines Lektors der Heiligen Schrift wahr, und zwar in Vertretung seines an der Pest verstorbenen theologischen Lehrers Peter Scheibenhart um 1478-1529 Versuche, Frecht zu dessen Nachfolger zu machen, scheitern an Einsprüchen am Hof des reformatorisch gleichgültigen Kurfürsten Ludwig V. reg. 1508-1544

Bei seinen Kollegen erfreute sich Frecht wegen seiner organisatorischen und vermittlerischen Fähigkeiten großer Wertschätzung. In einer für die Universität krisenreichen Zeit versah er mehrfach wichtige Ehrenämter: 1524 und 1526/1527 war er Dekan der Artistenfakultät, zweimal stand er in leitender Funktion an der Spitze der Universität, davon einmal als Rektor gegen Ende seiner Heidelberger Zeit 1531.(2) In Heidelberg hat sich Frecht den Ruf eines humanistisch gebildeten und von Männern wie Wolfgang Capito 1478-1541 und Sebastian Münster 1489-1552 geschätzten Gelehrten erworben. Das Publizieren eigener Werke war freilich seine Sache nicht. Von den wenigen Veröffentlichungen, die er Zeit seines Lebens zuwege brachte, verdient die in Heidelberg entstandene und 1532 in Basel gedruckte Sammlung von Chroniken zur deutschen Geschichte vom 10.-15. Jahrhundert Beachtung.(3) Damit leistete Frecht einen Beitrag zur Fortentwicklung der Geschichtswissenschaft über die humanistische Begeisterung für die "alte" Geschichte hinaus.(4)

3: Die Berufung nach Ulm als theologischer Lehrer

Der erste offizielle Ruf nach Ulm als theologischer Lehrer erging an Frecht Anfang Februar 1529 auf Konrad Sams 1484-1533 Wunsch hin. Dieser suchte dringend Unterstützung für die reformatorische Neuordnung in der Stadt, die der Rat bislang vermieden hatte. Nicht nur persönliche und vertragsmäßige Bindungen, sondern die Liebe zur Lehre und die Angst vor einem Übermaß an praktischen Aufgaben in einer reformatorisch ungeordneten Situation hielten ihn vorerst zurück.(5)

Die Hoffnung auf eine bessere Gelegenheit, in Ulm zu wirken, erfüllte sich 1531 mit der Einführung der Reformation im oberdeutsch-schweizerischen Sinne. Frecht übernimmt am 21. Oktober 1531 das Amt des Lektors der Heiligen Schrift. Seine lateinischen Vorlesungen über Bibelbücher dienen in erster Linie der Fortbildung der Geistlichen, stehen aber auch den Absolventen der Lateinschule und interessierten Bürgern offen. Um den letzteren verständlich zu sein, hält Frecht einen Teil der Vorlesung auf Deutsch. Wissenschaftliche Textauslegung am Urtext und aktualisierender Gegenwartsbezug ergänzten sich.(6) Damit besaß Ulm eine Bildungseinrichtung, die, wenn auch weit bescheidener, in ihrer Anlage der von Zwingli in Zürich eingerichteten "Prophezei" entsprach.(7)

4: Die Nachfolge Konrad Sams

Die theologische Lehraufgabe, für die Frecht angestellt worden war, blieb nicht lange das Zentrum seiner Arbeit. Nach dem frühen Tod Sams im Juni 1533 übernahm Frecht notgedrungen das Amt des Münsterpredigers und die laufenden Geschäfte an der Spitze der Ulmer Kirche. Die Suche nach einem Nachfolger zog sich hin, nicht zuletzt aufgrund des wählerischen Verhaltens des Rates. Man dachte an so bekannte Männer wie Leo Jud 1482-1542 aus Zürich oder Andreas Karlstadt. Auch der oberdeutsche Reformator Jakob Otter ca. 1485-1547 seit 1532 in Esslingen, kam ins Gespräch. Man wollte, so Frecht, einen "Prediger aus Utopien".(8) Da es zu keiner Lösung der Nachfolgefrage kam, verblieben zum Leidwesen Frechts das Lehr- und Predigtamt in seiner Hand.(9) Aus der Übergangslösung wurde ein Dauerzustand, dem der Rat erst 1537 offiziell entsprach: Frecht wurde der Titel "oberster Prädikant" zuerkannt.

Zwar erreichte Frecht als Prediger nicht die Popularität Sams – es fehlte ihm schon an stimmlicher Kraft -, doch hat er sich als Prediger, Seelsorger und Fürsprecher in allen Bevölkerungsschichten Achtung erworben. Dies gilt in besonderem Maße für die schweren Jahre der Pest, die auch seine Familie heimsuchte: 1543 starb die Mutter, 1547 seine erste Ehefrau an der Seuche. Ulms Gemeinde charakterisiert er des öfteren als ein undankbares "Nazareth", das den Dienst der Predigt, zumal eines gebürtigen Ulmers, nicht besonders schätzte.(10)

Einen mittelbaren Einblick in Frechts eher lehrhaft geprägte Predigtweise geben drei nach seinem Tod aus dem Lateinischen übersetzte Konzepte.(11)

Unter der Arbeitsbelastung des leitenden Predigt- und Lehramts hat Frecht schwer gelitten. Bei den Verantwortlichen des Rates fanden seine Klagen kein Gehör: Weder wollten die "feinen Herren" mehr Prediger anstellen noch die Pflichten der wenigen reduzieren. Für die Mehrheit des Rates und seiner Delegierten deckten sich die Gemeinwohlinteressen keineswegs mit denen der Prädikanten. Frecht erlebte Ulm, getreu seinem Ruf, eine "Stiefmutter der Wissenschaften" zu sein, auch als solche der reformatorischen Kirche.(12) Wie andere, die nach 1534 ins attraktivere Württembergische oder in Reichsstädte wie Esslingen abwanderten, dachte Frecht verschiedentlich an ein Weggehen, beschied jedoch entsprechende Anfragen, etwa Ambrosius Blarers 1492-1564 Angebot eines Wechsels nach Tübingen 1535, stets negativ.(13)

Die Schlüsselfigur der Ulmer Ratspolitik, die im federführenden Gremium der "Fünf Geheimen" bestimmt wurde, war neben dem Stadtschreiber Sebastian Aitinger über viele Jahre Bernhard Besserer "Berus", 1471-1542 Frechts Verhältnis zu ihm war meist gespannt. Besserer fürchtete nichts mehr als ein "papistisches" Regiment der evangelischen Geistlichen und eine konfessionelle Uniformierung der Stadt. Ihn bewegten politische wie persönliche Motive: Der Erhalt des innerstädtischen Machtgefüges angesichts einer besonders im Patriziat starken altgläubigen Minderheit wie auch die Nähe zu Kaspar von Schwenckfeld 1489-1561 und seinem Verständnis von Toleranz in der Trennung von Politik und Religion.(14) Isoliert war Frecht deshalb nicht. Er konnte auf Unterstützer im Rat und den Gremien, bei Zunftmeistern und beim "gemeinen Mann" zählen, doch tonangebend waren diese nie.

4.1: Konfliktfeld Kirchenzucht

Der Kontrollanspruch des Rats gegenüber den Prädikanten zeigte sich beispielhaft in der Organisation der städtischen Sittenzucht. Die Prädikanten waren ohne eigenes Gewicht in das obrigkeitliche System eingebunden. Die Letztentscheidung über konkrete Maßnahmen, etwa eine Haftstrafe bei Ehebruch oder der Ausschluss vom Abendmahl, blieb bis nach dem Interim beim Rat. Frecht hat diese Vermischung von weltlicher und geistlicher Gewalt immer kritisch gesehen. Schon in der Anfangszeit hat er eine Stärkung des kirchlichen Warn- und Mahnamtes gefordert, freilich ohne Ergebnis.(15) Den mangelnden Willen, zwischen weltlich und geistlich zu unterscheiden, beklagte Frecht auch im Zusammenhang der Neuordnung der Ehegerichtsbarkeit. Hier wollte man anfangs die erste Instanz ganz den fünf Predigern der Stadt und zwei weltlichen Richtern übertragen.(16) Eine reformatorische Eheordnung kam erst nach über zehn Jahren zustande.

4.2: Schul- und Bildungswesen

Neben Konrad Sam, Georg Besserer um 1502-1569 dem Sohn des Bernhard Besserer, und dem Schulmeister Gregor Lienhard 1497-1560 hat sich von Anfang an Frecht für das städtische Schul- und Bildungssystems eingesetzt. Für die Lateinschule arbeitete er eine neue Schulordnung aus. Mit der Berufung Michael Brodhags um 1500-1559 als Lehrer für Latein und Hebräisch, der von 1532 an auch mit pfarramtlichen Aufgaben betraut wurde, gewann Frecht zugleich bis 1539 einen Vertreter für seine Vorlesungsaufgabe.

Den Musikunterricht förderte Frecht nach Kräften. A. Blarer bat mehrmals um Psalmvertonungen und andere Musikstücke des namhaften Komponisten und Pfarrers Benediktus Ducis um 1480-1544 Freilich klagte Frecht, wie wenig die Ulmer die Musik schätzten, ihr Gesang sei: "Geld ist das erste". So fand er nach dem Tode von Ducis in Ulm keinen Käufer für dessen musikalischen Nachlass, um Geld für die Hinterbliebenen aufzutreiben.(17) Synoden und Visitationen boten Gelegenheit, die jeweiligen Missstände, etwa in der Lehrerbesoldung, in der Versorgung mit Büchern und Stipendienfragen zu benennen und auf Abhilfe zu dringen.

4.3: Synoden und Visitationen

Zu den wichtigsten Instrumenten für die praktische Umsetzung der reformatorischen Ordnung bei Amtleuten, Prädikanten und Gemeinden gehörten die von der Obrigkeit einberufenen Synoden in Ulm und die Visitationen vor Ort in den zahlreichen Landgemeinden. Die Kirchenordnung unterschied beide, doch schon auf der ersten Synode zeigte sich, daß die "Verhöre" der Pfarrer, Gemeinde- und Obrigkeitsvertreter praktisch Visitationscharakter hatten. Frecht hat als leitender Geistlicher neben den Pfarrkirchenbaupflegern, den vom Rat eingesetzten Hauptverantwortlichen, die Synoden von 1532, 1537 und 1539 und die Visitationen von 1535 und 1543/1544 mitbestimmt.(18) Sie geben vor allem Einblick in die Zustände auf dem Land.

Im Allgemeinen herrscht der Eindruck eines geordneten und von den Gemeinden willig mitvollzogenen Übergangs zur Reformation vor. Hauptmerkmale waren die Abschaffung der Messe und die evangelische Predigt. Die konkreten Befragungen der Verantwortlichen ergeben freilich ein differenzierteres Bild. Häufiger Prädikantenwechsel, schlechte Besoldung und der oft elende Zustand der Pfarrhäuser, Schwierigkeiten mit dem Katechismusunterricht und eine ungeregelte Tauf- und Abendmahlspraxis sowie die zum Teil starke Traditionsbindung der ländlichen Bevölkerung erschwerten die reformatorische Umgestaltung. So gelang es in Pfuhl jahrelang nicht, einen regelmäßigen katechetischen Unterricht zu organisieren. Anderenorts fand man 1537 einen Prädikanten, der wohl schon neun Jahr das Evangelium gepredigt, aber noch nie eine Abendmahlsfeier gehalten hatte. Stattdessen wurden im Widerspruch zur Ratsordnung weiterhin Kirchweihe und andere populäre Feste gefeiert.

Bibelstudium, Lektüre und Seelsorge nahmen wie auch anderswo nicht alle Prediger gleichermaßen erst. Nicht ohne Grund erfragt schon das Formular der Synode von 1532 bei den Gemeindevertretern, "ob der Pfarrherr weinsüchtig sei und stets im Wirtshaus liege".(19) Als Dauerprobleme erwiesen sich die rechte Sonntagsheiligung und, als Teil von ihr, der Kirchenbesuch sowie der Kirchengesang. Die Dorfbewohner entschuldigten sich zuweilen mit den Zuständen in der Stadt, wo es mit dem Kirchgang ebenfalls nicht zum Besten stehe.

Als außergewöhnlich renitent erschien Geislingen. Noch nach Jahrzehnten wird es als notorisch "papistisch" und starrköpfig gegenüber jeglicher obrigkeitlichen Anordnung gescholten. Der dortige Prädikant beklagte im Zusammenhang der Visitation von 1543/1544 bitter seine Erfolglosigkeit.(20) Auch Täufer und andere Dissidenten wie die Schwenckfelder hielten sich auf den Dörfern und machten zuweilen durch ihre Kritik den Prädikanten zu schaffen.(21)

5: Das Verhalten gegenüber der altgläubigen Minderheit

Nach 1531 verblieben rund tausend Katholiken in der Stadt, deren Zahl sich bis zur Mitte des Jahrhunderts auf etwa die Hälfte verringerte. Schon früh hatte man ein Verbot des Messelesens in der Stadt durchgesetzt, so dass die Altgläubigen in die reichsrechtlich geschützten Gebiete nach Söflingen ins Klarissenkloster oder zu den Benediktinern nach Wiblingen ausweichen mussten. Dieses "Auslaufen" wurde vom Rat nicht verhindert, obwohl Frecht und seine Kollegen auf ein härteres Vorgehen drängten, den Übermut der "Papisten" schalten und in der Predigt den Rat öffentlich in die Pflicht nahmen.(22)

Im Stadtgebiet selbst waren es die Dominikaner, die bis zur rechtlichen und finanziellen Übereinkunft im Jahr 1538 hartnäckig für ihre Wiedereinsetzung in das ehemals reiche Kloster kämpften. 1536 wirkte Frecht beratend an der Umgestaltung der sog. Sammlung, eines Konvents von Tertiarinnen, in ein evangelisches Damenstift mit und bemühte sich um eine reformatorische Neuorientierung. Freilich sah Frecht erst 1543 die Möglichkeit, ein schriftgemäßes geistlichen Lebens bei den Frauen der "Sammlung" einzufordern. Vor allem das Festhalten an den traditionellen Formen des Gebets und das Beibehalten der Gelübde störten ihn. Er wünschte sich anstelle der traditionellen Stundengebete die Beschränkung auf ein ermüdungsfreies (!) Morgen- und Abendgebet. Wichtig waren ihm die fortlaufende Bibellese mit Erläuterungen, die Psalmen, eine Auswahl an Liedern und Predigtlesungen, zuweilen auch kirchengeschichtliche Stoffe.(23) Seine hier erworbenen Kenntnisse auf dem Feld der Klosterreform gab Frecht auch an andere oberdeutsche und Schweizer Reformatoren weiter.

Das Söflinger Klarissenkloster wehrte aufgrund seiner besonderen reichsrechtlichen Stellung alle Reformationsversuche ab. 1543 predigte Frecht im Kloster, doch auch diesmal scheiterte sein Bemühen am zähen Widerstand der Äbtissin und an den politischen Rücksichtnahmen des Rates auf den Kaiser.

6: Radikalreformatorische Herausforderungen

6.1: Täufer

Die Bekämpfung des Täufertums gehörte für Frecht wie für andere Reformatoren zu den Grundbedingungen einer Konsolidierung der Reformation.(24) Die Ulmer Obrigkeit vermied jedoch nach Möglichkeit rigorose Maßnahmen wie Gefängnis und Ausweisung. Strenger wurde gegen führende Täufer vorgegangen, wie der Fall Glaser 1532 zeigt. Dieser wurde eingekerkert, musste widerrufen und sich vor Sam, Frecht und zwei Zensoren schriftlich zu Kindertaufe, Eidesleistung und schwertführender christlicher Obrigkeit bekennen. Der zusätzlichen Forderung, vor seiner Anhängerschaft auf dem Land öffentlich zu widerrufen, entzog sich Glaser durch die Flucht.(25)

Täufer hat es im Ulmer Gebiet noch weit über Frechts Amtszeit hinaus gegeben. Früh treten jedoch andere Gegner von Gewicht in den Vordergrund: Die sog. Spiritualisten Sebastian Franck um 1500-1542 und Kaspar von Schwenckfeld.

 

 

6.2: Sebastian Franck

Frecht kannte Sebastian Franck aus Heidelberger Studienzeiten. Der ebenfalls aus einer Handwerkerfamilie stammende Franck war eine Zeitlang evangelischer Prediger gewesen, hatte jedoch sein Amt aufgegeben und sich zu einem der interessantesten religiösen Individualisten der Zeit entwickelt. Aus Straßburg vertrieben, kam Franck 1533 über Esslingen als Seifensieder und –händler nach Ulm und erhielt dort 1534 das Bürgerrecht. Franck erlebte in Ulm eine außerordentlich produktive und erfolgreiche Zeit als Autor, Übersetzer und Verleger. Schon Ende 1534 beanstandete Frecht ketzerische Aussagen in Francks "Paradoxa", etwa die zum "Inneren Wort", und stellte die Widersprüche zu Bekenntnis und Ordnung der Stadt heraus. Francks Toleranzdenken und seine radikale Kirchenkritik wirkten wie schon auf die Straßburger Reformatoren ausgesprochen provokativ.(26) Frecht erreichte, daß Franck Anfang Mai 1535 das Bürgerrecht aufgekündigt wurde. Franck protestierte jedoch erfolgreich gegen diesen Akt der Willkür, da man ihn nicht gehört hatte. In den folgenden Untersuchungen präzisierte Frecht seine Vorwürfe anhand weiterer Schriften Francks und warf ihm täuferische Häresien vor.(27) Die Bedingung der Vorzensur künftiger Schriften, an die man ein weiteres Verbleiben Francks in der Stadt knüpfte, wurde ihm 1538 zum Verhängnis. Frecht nahm das Erscheinen der "Goldenen Arche" zum Anlass, erneut Francks Ausweisung zu fordern. Ein längeres Hin und Her um ketzerische Inhalte und formale Verstöße gegen die Ratsauflage setzte ein, bis Franck 1539 ohne förmlichen Ausweisungsbeschluss zum Verlassen der Stadt gedrängt wurde.(28) Großzügiger als Straßburg und Ulm zeigte sich Basel, wo Franck bis zu seinem frühen Tod 1543 Aufnahme fand.

6.3: Kaspar von Schwenckfeld

Kaspar von Schwenckfeld (1490-1561), Kupferstich

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 2496

Weit schwieriger als die Auseinandersetzung mit dem Einzelkämpfer Franck war für Frecht die mit dem schlesischen Edelmann Kaspar von Schwenckfeld, der in Ulm wie an anderen Orten im südlichen Deutschland eine namhafte Anhängerschaft besaß. Frecht begegnete dem ebenfalls aus Straßburg vertriebenen Schwenckfeld von Anfang an mit Misstrauen, von Bucer und A. Blarer vorgewarnt.(29) Obwohl Schwenckfeld kein Täufer war, bedeutete seine Forderung einer strikten Trennung von Politik und Religion eine Schonung des gewaltfreien Täufertums und damit einen Angriff auf Bucers wie Frechts Idealvorstellungen von einer reformatorischen Stadt. Schwenckfelds Unnachgiebigkeit gegenüber Wittenberg machte ihn zudem zu einem höchst gefährlichen Störenfried der Bucerschen Verständigungsbemühungen.(30)

In Ulm wussten sich mit Schwenckfeld einflussreiche Persönlichkeiten wie die beiden Besserer und der Ratsschreiber Sebastian Aitinger 1508-1547 sowie das Haus der Witwe Helena Streicher mit ihren fünf Kindern verbunden. Zwinglisch orientierte Prediger wie Konrad Schaffner gest. 1563 und Johannes Liebmann sympathisierten ebenfalls mit ihm. Auch am Württembergischen Hof hatte Schwenckfeld seine Fürsprecher. Der Druck, zu einer Verständigung zu kommen, war groß. Die sog. Tübinger Konkordie vom 28. Mai 1535 brachte eine Art Waffenstillstand zwischen Schwenckfeld, Bucer, A. Blarer und Frecht, doch keine inhaltliche Einigung. Besonders ein Streitpunkt sollte noch für viel Ärger sorgen: Die von Frecht in den Tübinger Verhandlungen als häretisch angegriffene These Schwenckfelds von der Nichtkreatürlichkeit Christi. Schwenckfeld wollte damit die Göttlichkeit und Anbetungswürdigkeit Jesu nach Auferstehung und Himmelfahrt unterstreichen, Frecht sah darin eine Infragestellung des vollen Menschseins Jesu und so des christlichen Erlösungsglaubens insgesamt. Anders als Schwenckfeld beharrte Frecht getreu der theologischen Tradition auf der Unlösbarkeit der Verbindung von Mensch- und Geschöpfsein.(31) Trotz derart gravierender Differenzen musste sich Frecht zunächst mit Schwenckfelds Aufenthalt in Ulm abfinden.(32)

Schwenckfelds offene Ablehnung der Wittenberger Konkordie von 1536 bringt den Streit erneut in Gang.(33) Frecht klagte zudem über den negativen Einfluss Schwenckfelds auf das Gemeindeleben. Schwenckfeldanhänger mieden auffällig die Gottesdienste, besonders die Abendmahlsfeiern. Mahnungen und Pressionen Frechts und der Prädikanten fruchteten nichts.(34) Zu einer ersten direkten Konfrontation beider Männer kam es Anfang November 1536. Schwenckfeld erreicht, dass der Streit für beendet erklärt wird.(35)

Die Tübinger Konkordie empfand Frecht immer mehr als Fessel, die ihn band, Schwenckfelds freies Wirken aber nicht hinderte. Die Spannung stieg, als Frecht Mitte Juni 1538 eine in Ulm verbreitete anonyme Schrift über die Nichtkreatürlichkeit Christi in die Hände bekam und sogleich Schwenckfeld als Verfasser ausmachte.(36) Dieser hatte inzwischen seine These ausgebaut und, noch bedenklicher, auf den irdischen Jesus ausgedehnt.(37)

Nachdem es Frecht nicht gelang, Schwenckfeld sofort auf die Anklagebank zu bringen, setzte ein längeres Untersuchungsverfahren ein. Es endete mit einem offiziellen Religionsgespräch am 13. Januar 1539 vor dem Rat, dem Höhepunkt der direkten Auseinandersetzung.(38) Schwenckfeld konnte wiederum eine Verurteilung vermeiden.(39) Der Rat versprach, auswärtige Gutachten einzuholen. Einstweilen wurden die Kontrahenten zum Stillschweigen verpflichtet. Schwenckfeld publizierte freilich ungehindert an anderen Orten weiter. Frecht erhielt keine Erlaubnis zur Antwort, die Veröffentlichung seiner Apologie der Kreatürlichkeit Christi wird ihm untersagt. Ihm blieb nur die Kanzel. Zur Unterweisung der Gemeinde begann er Mitte Juni 1539 mit einer Predigtreihe zum Johannesevangelium über die Gottheit Christi.(40)

Die offenkundige Verzögerungs- und Beschwichtigungstaktik des Rats brachte schließlich Frecht und seine Kollegen zum Äußersten: Sie drohten mit geschlossenem Rücktritt, falls sie nicht die Erlaubnis zum offen Widerspruch gegen Schwenckfeld erhielten.(41) Nun lenkte der Rat ein. Schwenckfeld wird nahegelegt, sich anderenorts eine Bleibe zu suchen.(42) In Ulm blieb eine relativ starke Anhängerschaft Schwenckfelds zurück.(43) Frecht genügte der Weggang Schwenckfelds aus Ulm nicht. Er wollte dessen offizielle Verurteilung im reformatorischen Lager. Diese erreichte er im März 1540 bei der Theologenversammlung in Schmalkalden. Schwenckfeld wird in einer von Philipp Melanchthon 1497-1560 verfassten Erklärung ohne Anhörung zusammen mit S. Franck als Ketzer gebrandmarkt und Frechts Kampf gegen die beiden gerechtfertigt, eine deutliche Kritik an der Politik des Ulmer Rats.(44) Frecht sorgte für eine weite Verbreitung dieser Verurteilung.(45) Merkliche Folgen hatte sie für Schwenckfeld nicht, ließen sich doch seine hochgestellten Unterstützer von der rechtlich umstrittenen Aktion nicht beeindrucken.

Seit 1538 bemühte sich Frecht im Kampf gegen Schwenckfeld mit anderen um Schützenhilfe aus der Schweiz, vor allem bei Joachim Vadian 1483/1484-1551 in St. Gallen. Tatsächlich hat Vadian einige Schriften gegen Schwenckfeld verfasst.(46) Auch im Württembergischen versuchte er, den Einfluss Schwenckfelds zurückzudrängen. So intervenierte er bei Margarete von Grafeneck, der Gattin des Blaubeurener Obervogtes, als er 1544 von deren Hinwendung zu Schwenckfeld erfuhr.(47) Noch in der Tübinger Zeit sah sich Frecht von Schwenckfeld als "Kreaturist" verfolgt. Ihn enttäuschte, daß trotz seiner Bitten J. Brenz nicht aktiver in den Kampf gegen Schwenckfeld eingriff.(48)

Schwenckfelds Wirken blieb für Frecht eine heimtückisch-gefährliche Bedrohung gesamtreformatorischen Ausmaßes. Es fehlt nicht an dämonisierenden Elementen, die Schwenckfeld als sektiererisch Verstockten wie den Papst zu einem Phänomen des Antichristen im Vorfeld des Jüngsten Tages machten.(49)

Ein Seitenthema: Das Verhältnis zu den Juden

Juden wohnten seit der Ausweisung im Jahr 1499 nicht mehr in Ulm. Kontakte zwischen Ulmer Bürgern und auswärtigen jüdischen Händlern und Pfandleihern versuchte die Obrigkeit möglichst zu unterbinden. Alles deutet darauf hin, dass Frecht diese Politik wie auch die Praxis der Judenvertreibung bejaht hat. So begrüßte er das Ausweisungsdekret des sächsischen Kurfürsten und die Ausweisung der wenigen Judenfamilien in Esslingen 1541/42. Von anderen Städten mit bedeutenden Judengemeinden wie Frankfurt/M. erwartete er Vertreibungsmaßnahmen. Es scheint, als habe er dem mittelalterlichen Koexistenzmodell noch weniger Chancen gegeben als Martin Bucer. Gleichwohl hat Frecht wie andere im reformatorischen Lager die Schärfe der späten Lutherschen Judenpolemik irritiert. Er bat A. Blarer, er möge ihm seine Meinung dazu kundtun und auch die des befreundeten "Fachmannes" Paul Fagius 1504-1549 einholen. Vom Ergebnis ist nichts bekannt.

6.4: Ein Seitenthema: Das Verhältnis zu den Juden

Juden wohnten seit der Ausweisung im Jahr 1499 nicht mehr in Ulm. Kontakte zwischen Ulmer Bürgern und auswärtigen jüdischen Händlern und Pfandleihern versuchte die Obrigkeit möglichst zu unterbinden.(50) Alles deutet darauf hin, dass Frecht diese Politik wie auch die Praxis der Judenvertreibung bejaht hat. So begrüßte er das Ausweisungsdekret des sächsischen Kurfürsten und die Ausweisung der wenigen Judenfamilien in Esslingen 1541/42. Von anderen Städten mit bedeutenden Judengemeinden wie Frankfurt/M. erwartete er Vertreibungsmaßnahmen. Es scheint, als habe er dem mittelalterlichen Koexistenzmodell noch weniger Chancen gegeben als Martin Bucer. Gleichwohl hat Frecht wie andere im reformatorischen Lager die Schärfe der späten Lutherschen Judenpolemik irritiert. Er bat A. Blarer, er möge ihm seine Meinung dazu kundtun und auch die des befreundeten "Fachmannes" Paul Fagius 1504-1549 einholen. Vom Ergebnis ist nichts bekannt.(51)

7: Frechts Unterstützung von Bucers Konkordienwerk

Ein Zusammentreffen mit Brenz in Schwäbisch Hall im Jahr 1529 ließ Frecht die Schwierigkeiten ahnen, die einer Einigung mit den Anhängern Luthers in der Abendmahlsfrage im Wege standen. Kaum einer schien ihm eigensinniger und unnachgiebiger in dieser Frage wie Brenz.(52) Die lutherische Seite sah er in abstruse Theorien über das "Wie" von Christi Gegenwart in Brot und Wein verstrickt.(53) Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie begrüßte er als tragfähige Verständigungsbasis zwischen Wittenberg, den Oberdeutschen und den Schweizern. Mit der Übereinkunft in Schweinfurt im April 1532, die den Schmalkaldischen Bund abschließend organisierte, hatte sich auch Ulm auf diese Basis eingelassen. Frecht öffnete sich der von Melanchthon und Bucer angebahnten Konsensdeutung des umstrittenen Zeichenbegriffs, mit der man den gröbsten Mißverständnissen in beiden Lagern wehren wollte: Die Abendmahlselemente sind nicht nur auf Christus verweisende, sondern ihn "darbietende" Zeichen. Zentral blieb für Frecht dabei das Motiv der lebensspendenden Christusgemeinschaft als dem eigentlichen Mysterium des Abendmahls. Hier sah er sich nahe bei Urbanus Rhegius 1489-1541 und dem von Heidelberg her vertrauten Theobald Billican.

Frecht begrüßte die Stuttgarter Konkordie vom 2. August 1534 zwischen Schnepf und A. Blarer als wichtigen Schritt hin auf eine umfassendere Einigung. In Ulm selbst machten ihm die Spannungen zwischen zwinglisch und lutherisch Gesinnten weiterhin zu schaffen.(54)

Eine wichtige Etappe in Bucers Konkordienwerk war die Zusammenkunft oberdeutscher Theologen und Städtevertreter in Konstanz vom 16.-22. Dezember 1534. Frecht hat sie auf Bucers Bitte hin mit vorbereitet und durchgeführt. Leider waren die Württemberger und die Schweizer ferngeblieben. Heinrich Bullinger 1504-1575 schickte immerhin ein Bekenntnis aus Zürich, dem sich die Versammlung anschloss. So half Frecht mit, dass Bucer mit einem gewissen Rückhalt bei den Oberdeutschen in die unmittelbar folgenden Verhandlungen mit Melanchthon nach Kassel gehen konnte.(55) Kassel führte nach Frecht so nahe wie noch nie an eine Verständigung in der Abendmahlsfrage heran.(56) Luthers wenig ermunternde Reaktion befremdete ihn, doch besonders störten ihn offene Angriffe wie der von Nikolaus von Amsdorffs 1483-1565 Er fürchtete den Einfluss der gestrengen Lutheraner auf die Württemberger und warb bei Schnepf für Bucers und Melanchthons Bemühungen. Auch Brenz sah er kompromisslos, meinte jedoch, die Liebe hoffe "Besseres von dem alten Freund".(57)

In Ulm blieben die Verantwortlichen reserviert. So sehr sie sich in kluger politischer Taktik um den Anschluss an die lutherischen Mächte bemühten, so sehr sahen sie sich in religiös-theologischer Hinsicht dem oberdeutsch-schweizerischen Erbe verpflichtet.(58) Frecht missfiel dies. Umso wichtiger wurde für ihn die Beförderung von Bucers Konkordienwerk in Richtung Wittenberg durch Ulm an der Seite Straßburgs und Augsburgs. Am 13. August 1535 schrieben Frecht und die Ulmer Geistlichen einen werbenden Brief an Luther. Dieser zeigte sich erfreut über die Initiative der drei Städte, die schließlich zum Treffen der Oberdeutschen mit Luther und anderen Reformatoren in Wittenberg und zur Unterzeichnung der sog. Wittenberger Konkordie vom 26. Mai 1536 führte. Damit endete die "Mittelstellung" der Oberdeutschen. Wieder hatte sich Frecht um eine Teilnahme der Schweizer bemüht, doch nichts erreicht. Wider Willen beförderte auch er die Entfremdung von den Schweizern.(59)

Bei der Rückkehr aus Wittenberg sah sich Frecht in Ulm mit einem überraschend heftigen Widerstand gegen die Konkordie bis hin zu Drohbriefen und beleidigenden Angriffen konfrontiert. Mit Georg Keller, gen. "Schramjörg" 1529-1536 Münsterprediger und Johannes Liebmann gest. 1574 lief die zwinglische Opposition unter den Amtskollegen Sturm. Typisch für die gespannte Situation in Ulm war, dass im Jahr der Konkordie eine zweite überarbeitete Auflage von Sams Katechismus erscheinen konnte, der in Aufnahme von Wolfgang Capito eine deutlich zwinglische Fassung der Sakramentenlehre vertrat. Frecht kam zustatten, daß er auf positive Stimmen in der Schweiz verweisen konnte. So hatte ihm der Freund Vadian seine "Aphorismen" mit der Versicherung übersandt, die Konkordie stützen und nicht bekämpfen zu wollen.(60) Vadian blieb für Frecht ein wichtiger Vertreter des nach Wittenberg zu Luther hin offenen kirchlichen Einheitsstrebens in der Schweiz.

Der Rat bequemte sich in der Folgezeit zu einer offiziellen Annahme der Wittenberger Konkordie, doch in einer betont auf das Augsburger Bekenntnis und die Schweinfurter Übereinkunft eingeschränkten Weise. Dies teilte man auch Luther mit. Frecht wollte mit der Mehrheit der Kollegen ein eigenes, positiveres Schreiben an Luther schicken, um ihm die uneingeschränkte Zustimmung zur Konkordie zu signalisieren, durfte den Brief aber so nicht absenden. Wieder trat das gespannte Verhältnis zwischen Rat und Prädikantenmehrheit hervor. So ergab sich: Der Rat stimmte der Konkordie aufgrund diplomatischer Rücksichten nach außen hin zu, lehnte sie aber nach innen hin ab. Frecht verfocht dagegen mit der Mehrzahl der Kollegen die Konkordie als Meilenstein kirchlich-politischer Einigung nach innen wie nach außen, mußte jedoch hinnehmen, daß der Rat Ende Oktober 1536 den Predigern eine in seinem Sinn zwinglisch-distanzierte Stellungnahme zur Konkordie verordnete. Die Abendmahlsfrage blieb auch in der Folgezeit unter den Prädikanten strittig. Die Verhärtung der Fronten zwischen Wittenberg und den Schweizern Anfang der 40er Jahre hat Frecht mit tiefem Schmerz verfolgt. Als er 1543 von Reisenden aus Wittenberg hörte, Luther sei über Bullingers Aussagen zum Abendmahl sehr erbost, ahnte er Schlimmes.(61) Noch glaubte er, über Gewährsmänner wie Melanchthon und Vadian Luther und Bullinger zur Beilegung des Dissenses mittels eines privaten Briefwechsels bewegen zu können, ohne Erfolg. Als halber "Lutheranus" und "Buceranus" besaß Frecht zudem bei Bullinger nur begrenztes Vertrauen.(62)

Die Abendmahlsstreitigkeiten betrachtete Frecht immer als Schmach für das Evangelium. Umso glücklicher war er, wo seine Vermittlungsbemühungen Erfolg hatten wie im Biberacher Abendmahlsstreit, der 1545 beigelegt werden konnte.(63)

8: Frechs reformatorisches Wirken über Ulm hinaus

Nicht nur am Ausgleich mit Wittenberg, sondern auch an der Verständigung mit den Altgläubigen unter der Regie des Kaisers war Frecht beteiligt. 1540/41 kam es zum Religionsgespräch in Hagenau, Worms und Regensburg. Wie Brenz und Schnepf gehörte Frecht zur Theologendelegation der Protestanten, die in Worms und Regensburg 1540/1541 zusammentrat. Obwohl es im Zuge der Wormser Verhandlungen zu einem diskutablen Vergleichsentwurf, dem "Wormser Buch" kam, scheiterten die weitergehenden Unionsbemühungen auf dem Regensburger Reichstag 1541.(64) Auch an dem fünf Jahre späteren, ebenfalls vergeblichen Versuch einer Einigung, dem Regensburger Religionsgespräch vom Februar 1546 am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges, war Frecht im zweiten Glied der Verhandlungsführer Georg Major 1502-1574 für Melanchthon, Bucer, Schnepf und Brenz an der Seite Bucers beteiligt. An Vadian, den er ausführlich über die Ereignisse informierte, schrieb er offen von den Vorbehalten vieler gegenüber diesem neuerlichen Unionsversuch und bedauerte einmal mehr die Abwesenheit der Schweizer.(65)

Zu einem informellen Religionsgespräch am Rande der großen Ereignisse kam es am 19. Juli 1543 beim Besuch des Kaisers in Ulm zwischen Frecht, dem Erzbischof Gasparo d’Avalos 1485-1545 von Santiago de Compostela, der an Informationen über die evangelische Sache interessiert war, und dem Dominikaner Pedro de Soto 1495/1500-1563 (66) Frecht musste enttäuscht feststellen, dass die Religionsfrage für die Spanier zuallererst eine Frage von Papst- und Zeremonientreue war. Andere Gespräche mit reformfreudigen Italienern in der Tradition eines Bernhardin von Siena 1380-1444 stimmten ihn zuversichtlicher. So hoffte er auf ein weiteres Vordringen der evangelischen Bewegung in Italien, welches er endgeschichtlich deutete: "Jenes Feuer, das der Herr auf die Erde warf Lk 12,49 beginnt in Italien zu brennen, damit auch das Lager des Antichristen hinweggerafft werde".(67)

Wenig erfolgreich waren die Reformationsbemühungen in Dillingen, Elchingen und Söflingen, die 1546 nach den anfänglichen militärischen Erfolgen im Schmalkaldischen Krieg unternommen wurden. Sie führten Frecht unter anderem als "Prediger wider den Antichristen" nach Dillingen. Der für die Protestanten ungünstige Kriegsverlauf machte einen Erfolg unmöglich. Statt neuer Gebietsgewinne für die Reformation standen am Ende zahlreiche von den näherrückenden kaiserlichen Truppen geplünderte und gebrandschatzte Ortschaften Ulms.

9: Das Interim: Gefangenschaft und Verbannung

Mit der sich abzeichnenden Niederlage im Schmalkaldischen Krieg und Ulms Unterwerfung unter den Kaiser Ende 1546 bestand höchste Gefahr für den Fortbestand der Reformation.(68) Die Wiedereinführung des Messgottesdienstes in der Dominikanerkirche während des Aufenthalts des Kaisers in Ulm Ende Januar bis Anfang März 1547 und die Kanzelpolemik des Augustinermönches Johannes Hoffmeister verhießen nichts Gutes.(69) Frechts Klagen über das "papistische" Treiben am kaiserlichen Hof und der beschwörende Ruf um Beistand durch Bucer und Blarer, den "Vätern" der Ulmer Kirche, machen deutlich, wie ernst für ihn die Lage war.(70) Getröstet hat ihn Brenz, der zum geduldigen Ertragen des Geschicks ermutigte, aber auch der Blick über die Grenzen hinaus bis nach Sizilien und nach England, wo Frecht das "evangelische Feuer" noch kräftig brennen sah.(71) Ein gesteigertes Endzeitbewusstsein half bei der Deutung der gegenwärtigen Bedrängnisse.(72)

Die Verabschiedung des Augsburger Interims im Mai 1548, das den Protestanten mit Laienkelch und Priesterehe nur geringe Zugeständnisse machte, verschärfte die Situation. Frecht sprach sich gegen eine Annahme des Interims aus, doch der Rat beugte sich dem Druck des Kaisers und nahm Ende Juni das Interim an. Schon einen Tag später wurde deutlich, was die Prädikanten bei Unbotmäßigkeit zu erwarten hatten: Bonaventura Steltzer, Münsterprediger seit 1546, der die Gemeinde mit einem Hinweis auf die römischen Christenverfolgungen zu trösten versuchte, wurde wegen Unruhestiftung unter Hausarrest gestellt. Die Prediger mussten das Interim am 15. Juli von den Kanzeln des Münsters und der Spitalkirche bekanntgeben. Es blieb nicht bei diesem formellen Akt.(73) Wenig später wurde im Vorfeld des Kaiserbesuchs der hölzerne Abendmahlstisch aus dem Münster entfernt. Zwei steinerne Messaltäre wurden errichtet. Einen Tag nach der Ankunft des Kaisers am 14. August in Ulm weihte der Sohn des Kanzlers, Antoine Perrenot de Granvella 1517-1586 Bischof von Arras, die Altäre und las eine Messe.

Als Frecht und die anderen Prädikanten am 16. August vorgeladen wurden, die Annahme des Interims eidlich zu bestätigen, kommt es zur Spaltung: Zwei Prädikanten nehmen das Interim an, Frecht und die Kollegen Jakob Spieß gest. 1554 Martin Rauber gest. 1561 und Georg Fieß gest. 1569 verweigern trotz hartem Drängen und Einzelverhör den Eid. Immerhin waren sie bereit, sollte der Rat sie entlassen, sich nicht aktiv gegen das Interim zu stellen. Für den Kanzler des Kaisers, Nicolas Perrenot de Granvella 1484/86-1550 war der Affront durch die Hartnäckigkeit der Ulmer "Erzketzer" perfekt. Die vier Prediger wurden gefangengenommen, in Ketten gelegt und ins Gefängnis gebracht. Ein Zwischenfall auf dem Weg beleuchtet Strenge und Nervosität der Kaiserlichen: Als Jörg Frecht seinem Bruder Martin beim Vorbeigehen Mut zuspricht, wird er unter dem Vorwand aufrührerischer Parolen sogleich mitverhaftet. Am 20. August 1548 führt man die vier Prediger zusammen mit dem schon Arretierten Bonaventura Steltzer und Jörg Frecht als kaiserliche Gefangene in die Festung Kirchheim/T. Schon vorher hatte Karl V. im Zuge seiner allseits betriebenen Verfassungsänderungen zugunsten der Patrizier einen neuen Rat eingesetzt und den Altgläubigen eine stärkere Stellung gegeben. Dieser neue, dem Kaiser willfährige Rat tat alles, um den Anschein zu vermeiden, er hintertreibe das Interim. Dennoch war der Kaiser mit der Umsetzung des Interims in Ulm nicht zufrieden. Entsprechend gering war die Bereitschaft, den Bitten des Ulmer Rates um Freilassung der Gefangenen zu entsprechen. Mehr noch: Die Durchsicht der beschlagnahmten Korrespondenz von Frecht offenbarte den Kaiserlichen, wie weit die Kontakte dieses Stadtreformators reichten und welche Brisanz im länder- und städteübergreifenden Zusammenspiel von protestantischer Obrigkeit und Prädikanten steckte. So hieß es, trotz des nach dem Tode B. Besserers gewachsenen politischen Einflusses gewiss übertrieben, Frecht habe die Stadt mehr regiert als die weltliche Obrigkeit.

Die Nachricht von der Verhaftung Frechts und seiner Kollegen wurde im evangelischen Lager mit Entsetzen aufgenommen und als neuerliche Christenverfolgung thematisiert.(74) Anders Schwenckfeld: Er hat die Gefangennahme Frechts und seiner Kollegen als schwere, aber gerechte Strafe Gottes für deren Kampf gegen ihn und seine Anhänger in Ulm verstanden. Das Elend, das er über andere gebracht habe, sei nun auch seines geworden.

Frechts Briefe an seine zweite Frau Christina geb. Fingerlin schildern eindrücklich die Zeit der Gefangenschaft.(75) Mut und Zuversicht, die ihn noch Ende August einen Brief mit "des Kaisers Gefangener, aber Christi Freier" unterzeichnen ließen, wichen bald dem Kampf um das geduldige Tragen des Leidens in der Nachfolge Christi. Dankbar waren die Gefangenen für die Dienste des jungen Wendelin Schempp um 1530-1567 der in Ulm die Lateinschule besucht und die Gefangenen begleitet hatte. Krankheiten, Verpflegungs- und Geldprobleme machten jedoch zunehmend zu schaffen. Sie veranlassten Frecht zu dem bitteren Resümee, "daß unsre Gewissen beschwert, der Magen versehrt und der Seckel Geldbeutel geleert."(76) Mitte September mussten sich zudem alle sechs an eine Kette legen lassen. Frecht suchte Stärkung und Trost für sich und seine Mitgefangenen in der Psalmenauslegung. Auch im Gefängnis blieb er "Leser der Heiligen Schrift". Niederschriften zu den Psalmen 39, 63 und 77 schickte er an seine Frau.

In der Hauptfrage, dem verweigerten Eid auf das Interim, ließ die kaiserliche Seite keinerlei Entgegenkommen erkennen. Man wollte ein Exempel statuieren und die Prediger zur aktiven Annahme des Interims zwingen. Die mildere Variante einer passiven Annahme hätte Frecht ebenso akzeptiert wie die Entlassung aus dem Dienst, doch beides war dem Kaiser zu wenig. Damit wurde immer unwahrscheinlicher, was Frecht lange gehofft hatte: Auf eine weniger bedeutende Stelle in Ulm zurückkehren zu können, etwa an die Spitalkirche. Unter dem Druck der Haft gaben die Gefangenen ihren Widerstand auf. Im Dezember 1548 beschworen sie die aktive Annahme des Interims. Dennoch blieben sie weiter in Haft. Freigelassen wurden sie erst am 3. März 1549 durch einen Gnadenakt des Sohnes Karls V., Philipp von Spanien, mit Ausnahme des Bruders Jörg, der noch bis Ende Juli festgehalten wurde.(77) Für ihre Freiheit zahlten die Prediger einen hohen Preis. Zur aktiven Annahme des Interims kam das eidliche Versprechen, Ulm "für ewige Zeiten" nicht mehr zu betreten – später wohl auf acht Jahre begrenzt - und alle Haftkosten zu ersetzen.

Nach dem Abschied von Freunden, Frau und Kindern in Söflingen Anfang März 1549 zog Frecht für rund ein Jahr zu Schwester und Schwager nach Nürnberg und weilte dann von April bis November 1550 unter dem Schutz Herzog Ulrichs in Blaubeuren, stets um eine Rückkehr nach Ulm bemüht. Dort war das Interesse gering. Frecht fühlte sich auch finanziell im Stich gelassen. Von einer erst 1547 mündlich zugesagten Pension wollte man nun nichts mehr wissen. Sein ernüchterndes Fazit lautete: "Arme Leute kennt man nicht, darumb muß Gott drein sehen".(78)

Frechts Hoffnungen auf eine Rückkehr gründeten sich nicht zuletzt auf die flexible Interimspolitik, wie er sie im Württembergischen, in Augsburg und in Nürnberg beobachtete. Den Ulmern empfahl er, sich bei der Neugestaltung ihres Kirchenwesens an Nürnberg und seiner Kirchenordnung zu orientieren. Der voraussehbare Protest des "gemeinen Mannes", der ein "Abscheuen und Gespött aus Nürnbergisch Meß machen" würde, sollte in Kauf genommen werden.(79) Frecht machte sich die Nürnberger Linie so weit zu eigen, daß man ihn sich dort als Prediger vorstellen konnte.(80)

Während seines Nürnberger Aufenthalts beschäftigte sich Frecht unter anderem mit schriftstellerischen Arbeiten zum Interim.(81) Philipp Melanchthon versuchte zu dieser Zeit, ihm ein leitendes Kirchenamt beim Fürsten von Liegnitz zu vermitteln. Auch eine entsprechende Anstellung in Bayern brachten die Freunde ins Gespräch, doch ließ sich beides nicht realisieren.(82)

10: Die letzten Jahre in Tübingen

Frecht blieb eine Rückkehr in sein Ulmer Amt versagt. Im Winter 1550/1551 wurde er als Magister domus später Ephorus an das Evangelische Stift in Tübingen berufen. Im Juni 1553 übernahm er die dritte theologische Professur an der Tübinger Universität, 1555/1556 versah er das Amt des Rektors. Sechs Jahre waren ihm und seiner Frau mit den sieben Kindern in Tübingen vergönnt. An Stift und Universität konnte er seine Gaben als theologischer Lehrer wieder zur Geltung bringen. Verschiedene Niederschriften, so zum Papsttum und zur Abendmahlslehre, entstanden. Von Gewicht war die Mitarbeit Frechts an der reformatorischen Neuordnung Württembergs, etwa bei der Anfang 1553 verabschiedeten Eheordnung oder der für das Trienter Konzil bestimmten Confessio Wirtembegica. Kränklich geworden, nicht eben üppig besoldet und mit seiner großen Familie in beengten Verhältnissen lebend, legte sich über alles die Last des erzwungenen Abschieds von Ulm. Die offenbar nicht überwundenen Vorbehalte von lutherischer Seite in der Abendmahlsfrage verstärkten das Gefühl der Vereinsamung. Für die verfeinerten dogmatischen Streitigkeiten, die nach dem Augsburger Interim unter den Nachfolgern Luthers etwa im adiaphoristischen und majoristischen Streit aufbrachen, fehlte ihm jedes Verständnis.(83)

In Ulm kam im Jahr 1554 noch einmal ernsthaft der Gedanke auf, Frecht wieder in das Amt des leitenden Geistlichen der Stadt einzusetzen. Dieser bereitete sich schon darauf vor und bemühte sich um Prediger aus der Schweiz, die das Augsburger Bekenntnis anerkannten – wohl ein Hinweis darauf, dass Frecht nach der Annäherung an Wittenberg nochmals eine Brücke zu den Schweizern schlagen und in Ulm ein Kirchenwesen im Sinne des mit Bucer verfolgten Konkordienwerks schaffen wollte.(84) Der hinhaltende Widerstand des Kaisers hat Frechts Rückkehr verhindert. Frecht betrat die Stadt Ulm nach seiner Haft nur noch einmal Mitte 1556 auf der Durchreise nach Bad Thalfingen zur Kur. Bald darauf, am 14. September 1556, starb er in Tübingen und wurde in der dortigen Stiftskirche begraben.

Ulm hat sich nach dem Interim in der Neuordnung seines Kirchenwesens an Nürnberg und der Württembergischen Kirchenordnung orientiert. In das Amt der Kirchenleitung berief man im Herbst 1556 den Straßburger Münsterprediger Ludwig Rabus 1524-1592 Unter seiner Führung wurde aus der von Frecht behutsam eingeleiteten Öffnung der Ulmer Kirche in Richtung Wittenberg eine lutherische Konfessionskirche in enger Verbindung mit Württemberg und scharfer Abgrenzung gegenüber den Schweizern. Das Territorium siegt auch hier über die Stadt. 1577 unterzeichnen Rabus und die Ulmer Prediger die Konkordienfomel. Insgesamt siebzehn Jahre lang hat Frecht in Ulm für die Festigung der städtischen Reformation und, mit großem Engagement, aber letztlich erfolglos, mit Martin Bucer für einen "mittleren Weg" der Verständigung zwischen Schweizern, Oberdeutschen und Wittenbergern gekämpft. Er bleibt ein städtischer Reformator von Rang, dessen Bedeutung noch weithin unterschätzt wird.

Aktualisiert am: 19.03.2018