-
Inhaltsverzeichnis
1: Literatur zur Einordnung: Der Einsatz gegen die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ – verspäteter Protest gegen den Holocaust
-
Schloss Grafeneck, Heim für Behinderte der Samariterstiftung seit 1929. Dort wurden 1940 im Rahmen der Euthanasieaktion über 10.000 Menschen durch Gas ermordet.
Fotografin: Ursula Guttmann. Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. 4448
Aus: Hermann Ehmer, Kleine Geschichte der Evangelischen Kirche in Württemberg, Leinfelden-Echterdingen 2008, S.152-156
Protest gegen die Euthanasie
Die schon in der Vorkriegszeit geplante Euthanasieaktion, mit der die Gesellschaft von unnützen Existenzen befreit und die Anstalten der Inneren Mission geleert werden sollten, begann Anfang des Jahres 1940. Das Schloss Grafeneck bei Münsingen auf der Schwäbisch Alb, das der Evangelischen Samariterstiftung gehörte, war als eines der insgesamt sieben Vernichtungszentren im reich ausersehen worden. Es wurden dort bis Dezember 1940 etwa 10 500 Menschen, die aus über vierzig württembergischen, badischen und bayerischen Heil- und Pflegeanstalten hierher verbracht worden waren, vergast und ihre Leichen verbrannt. Die Angehörigen erhielten Todesnachrichten, die ohne weiteres als fingiert zu durchschauen waren. Versuche, die in den Anstalten unternommen wurden, die Pfleglinge zu retten, waren weitgehend umsonst gewesen. Trotz Geheimhaltung wurde die Euthanasieaktion bald bekannt. Landesbischof Wurm schrieb daher am 19. Juli 1940 einen Protestbrief an Reichsinnenminister Frick, dem weitere Briefe an führende Persönlichkeiten folgten. Die Aktion wurde schließlich am 24. August 1941 durch Führerbefehl offiziell eingestellt, aber an andern Orten und mit anderen Mitteln fortgesetzt. Sie bildete auch einen Probelauf für die bevorstehende physische Vernichtung der Juden im deutschen Machtbereich.
Protest gegen den Holocaust
Die Feindschaft gegen die Juden war seit 1933 schrittweise gesteigert worden. Die Landeskirche hatte sich hinsichtlich der "Judenfrage" in erster Linie für ihre Mitglieder zuständig gesehen. Ende 1938 wurde beim Landesverband für Innere Mission in Stuttgart eine "Hilfsstelle für nichtarische Christen" eingerichtet, die von dem jüdischen Zahnarzt Dr. Wilhelm Goldmann geleitet wurde. Während des Krieges trat die Feindschaft gegen die Juden dann in ihr letztes Stadium, das der Vernichtung. Die württembergischen Juden wurden in dem Sammellager auf dem Stuttgart Killesberg zusammengefasst, um von dort in die Vernichtungslager im Osten transportiert zu werden. Der erste Transport mit etwa 1000 Personen ging am 1. Dezember 1941 von Stuttgart ab.
Im Laufe des Jahres 1941 ging Wurm von seiner Kompromisspolitik ab und begann zunehmend, die Maßnahmen des Regimes zu kritisieren. In einem Brief an Propagandaminister Goebbels vom 10. November 1941 ließ Wurm erkennen, dass er die harten Maßnahmen gegen die Nicht-Arier der deutschen Sache für abträglich hielt. Dieser Brief zeigt, dass sich Wurm in seiner Argumentation gegen die Maßnahmen des Regimes auf eine bewusst nationale Grundlage begab, um von da aus Kritik üben zu können. Dieses Argumentationsmuster ist bei ihm durchgängig zu finden. In einem Brief an Adolf Hitler vom 16. Juli 1943 protestiert Wurm mit aller Deutlichkeit gegen die Judenvernichtung. Da er auf einer Antwort auf diesen und andere dergleichen Briefe bestand, wurde er mit Schreiben der Reichskanzlei vom 3. März 19433 ernstlich verwarnt und ihm seine Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat vorgehalten. Man wolle jedoch aufgrund seines hohen Alters und der Tatsache, dass auch seine Familie im Krieg hatte Opfer bringen müssen, von Maßnahmen gegen ihn absehen. Wurm war damit zum Schweigen verurteilt. Während die Kirchenleitung hier so gut wie keine Möglichkeit der Hilfe sah, wurde wenigstens im Kleinen versucht, bedrohtes Leben zu retten. Es gab in Württemberg ein Netzwerk von Pfarrhäusern, in denen Juden versteckt wurden. Diese mussten jedoch nach kurzem Aufenthalt wieder weitergereicht werden, damit niemand Verdacht schöpfte. Angesichts der Massenvernichtung konnten diese Hilfen jedoch nicht mehr sein als Lichter im Dunkel, wie der Erlebnisbericht eines auf diese Weise geretteten betitelt ist.
2: Quellentext: Am 16.7.1943 schrieb Wurm an Hitler
-
Theophil Wurm (1868-1953) an seiner Schreibmaschine
Fotograf: Eugen Kirschner, Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. NM44402
LKA Stuttgart D1, Bd. 109;
In den letzten Jahren und noch bis in die jüngste Zeit hinein haben Männer der Kirche mehrfach versucht, mit der Führung des Reichs oder mit einzelnen maßgebenden Persönlichkeiten in hohen Staats- oder Parteiämtern Fühlung zu gewinnen, um wichtige Anliegen der christlichen Volkskreise zu Gehör zu bringen. Ihre schriftlichen Vorlagen haben keine Antwort gefunden, ihre Bemühungen um persönliche Aussprache keinen Erfolg gehabt. Es läge nahe, nun zu schweigen und jede Mitverantwortung für alles weitere Geschehen abzulehnen. Denn eine Mitverantwortung trägt auch bei der heutigen Staatsform jeder Christ, wie ihm aufgetragen ist, für das Gute einzutreten und gegen das Böse zu zeugen. Die Liebe zu meinem Volk, dessen Geschicke ich als 75jähriger seit vielen Jahrzehnten mit innerster Anteilnahme verfolge und für das ich im engsten Familienkreis schwere Opfer gebracht habe (1), drängt mich aber dazu, es noch einmal mit einem offenen Wort zu versuchen.
Unter den vielen Männern und Frauen, die in diesem Krieg für Deutschland starben, sind ungezählte Christen. Unter denen, die weiter in schweigender Hingabe den Kampf für das Vaterland führen und die Opfer tragen, sind ebenfalls unzählige Christen. Für die lebenden, wie für die gefallenen evangelischen Christen Deutschlands wende ich mich als ältester evangelischer Bischof, des Einverständnisses weiter Kreise in der evangelischen Kirche gewiß, an den Führer und die Regierung des Deutschen Reiches.
Im Namen Gottes und um des deutschen Volkes willen sprechen wir die dringende Bitte aus, die verantwortliche Führung des Reiches wolle der Verfolgung und Vernichtung wehren, der viele Männer und Frauen im deutschen Machtbereich ohne gerichtliches Urteil unterworfen werden. Nachdem die dem deutschen Zugriff unterliegenden Nichtarier in größtem Umfang beseitigt worden sind, muß auf Grund von Einzelvorgängen befürchtet werden, daß nunmehr auch die bisher noch verschont gebliebenen sogenannten privilegierten Nichtarier erneut in Gefahr sind, in gleicher Weise behandelt zu werden. Insbesondere erheben wir eindringlich Widerspruch gegen solche Maßnahmen, die die eheliche Gemeinschaft in rechtlich unantastbaren Familien und die aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder bedrohen. Diese Absichten stehen, ebenso wie die gegen die anderen Nichtarier ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen, im schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Daseins und menschlicher Würde überhaupt.
Aktualisiert am: 20.09.2022
Bildnachweise
-
Schloss Grafeneck, Heim für Behinderte der Samariterstiftung seit 1929. Dort wurden 1940 im Rahmen der Euthanasieaktion über 10.000 Menschen durch Gas ermordet.
Fotografin: Ursula Guttmann. Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. 4448
-
Theophil Wurm (1868-1953) an seiner Schreibmaschine
Fotograf: Eugen Kirschner, Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung, Nr. NM44402
Zitierweise
https://wkgo.de/cms/article/index/der-nationalsozialistische-krankenmord (Permalink)
Nutzungsbedingungen
Alle Rechte vorbehalten.