Nationalsozialismus im Kirchenbezirk Herrenberg

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Das Jahr 1933: Kirchenbezirkstag und Predigt am 1. Mai
  2. 2: Aus dem Bericht des Dekans zum Kirchenbezirkstag 1935 (Abschnitt C, Die Gesamtlage der Kirche)
  3. 3: Stadtpfarrer Richter: Die Gehorsamspflicht der Christen im nationalsozialistischen Staat
  4. 4: Nach dem Krieg
  5. Anhang

1: Das Jahr 1933: Kirchenbezirkstag und Predigt am 1. Mai

Quelle: DA Herrenberg, 401c

a. Kirche und Nationalsozialismus.Vortrag auf dem Kirchenbezirkstag Herrenberg 1933 von Pfarrer Waßer in Kayh 

Wenn der Nationalsozialismus nur eine Staatsform wäre wie alle andern, die es auf dieser Welt gab und gibt, so könnte sich die Kirche dabei beruhigen, daß er ihr im Rahmen seines Staates die Freiheit ihrer Wirksamkeit gewährleistet. Weil es sich aber im neuen Staate zugleich um eine neue Weltanschauung handelt, so ist die Beantwortung der Frage für die Kirche dringlich, wo in diesem Staate der Ort ihrer Wirksamkeit sei, was der Staat von ihr rechtmäßigerweise zu erwarten habe und was sie andrerseits vom Staate erwarten dürfe.

Kirche und Staat sind immer aufeinander angewiesen gewesen, sie haben immer ihr gegenseitiges Verhältnis in irgend eine Ordnung zu bringen versucht. Denn beide stellen ein Stück der gefallenen Schöpfungsordnung Gottes dar. Während das Amt des Staates die Erhaltung dieser Ordnung mit den Mitteln irdischer Gewalt ist, so ist die Kirche an die Menschenseelen gewiesen, um sie in das göttliche Vaterhaus zurückzuführen. Damit ist schon die Begrenzung beider Mächte ausgesprochen: auch der totale Staat des Nationalsozialismus wird jedenfalls dann sein Ende finden, wenn der erste Himmel und die erste Erde vergeht, und der Dienst der Kirche ist zu Ende, wenn Christus wiederkommt zur Aufrichtung seines Reiches.

Für diese Zeit aber haben Staat und Kirche ihrem Volk zu dienen, wobei jetzt außer Betracht bleiben mag, daß staatliche und kirchliche Grenzen nicht zusammenfallen. Die Ohnmacht eines Staates, dem das Volk sein Vertrauen entzieht, haben wir vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler zur Genüge kennen gelernt; und die Ohnmacht der Kirche ohne Volk hat in den letzten Monaten und Wochen uns alle, zumal die altpreußische Landeskirche, in bittere Nöte gebracht. Das heißt freilich noch nicht, daß Staat und Kirche dem Volke gleich gegenüberstünden. Wenn der Nationalsozialismus „Volk“ sagt, so meint er sich selber; denn wenn auch das Ziel wahrer Volksgemeinschaft noch nicht erreicht ist, so wird er doch nicht ruhen, bis er alle Glieder des Volkes mit seinem Geist erfüllt hat. Wenn die Kirche „Volk“ sagt, so redet sie von den „Schafen, die keinen Hirten haben“, und weiß, daß sie gerade bei treuer Ausrichtung ihres Dienstes niemals alle wird für das Evangelium gewinnen können. Darum besteht der Dienst des Nationalsozialismus am Volke in der Entfaltung dessen, was im Volke bereits angelegt ist; die Kirche weiß, daß sie ihren Dienst verleugnet, wenn sie nach dem fragt, wonach „den Leuten die Ohren jücken”.

Es ist heute nötiger denn je, diese Verschiedenheit der beiden Größen deutlich zu sehen. Die Substanz des Staates ist von dieser Welt, die Substanz der Kirche stammt aus der andern Welt. Darum hat der Staat die Erziehung der menschlichen Fähigkeiten zur Aufgabe, während die Kirche das Wort verkündigt, das ihr anvertraut ist. Es ist eine der Gefahren der gegenwärtigen Stunde, daß Bewegung zum Wesen des nationalsozialistischen Staates wie dem der Kirche gehört. Aber man verwechsle nicht die Bewegung des Volkstums, das Erwachen des rassischen Empfindens, mit dem, was die Schrift das Wehen des Geistes Gottes nennt! Scheinbar ist die Kirche gegenüber dem Staate beständig im Nachteil, weil ihr keine Machtmittel zu Gebote stehen, sondern das Arbeitsmittel des Geistes Gottes einzig das Wort ist. Besonders wo sich der Staat als unveränderlich und unvergänglich ausgibt, scheint das Anliegen der Kirche sehr nebensächlich. In der Tat muß der Wille des Staates auf Selbsterhaltung ausgehen, während sich die Kirche als Handlangerin der Herrschaft Gottes weiß bis auf den Tag, wo Staat und Kirche in die neue Ordnung Gottes verschlungen werden.

Kirche und Staat suchen sich heute. Die Kirche dankt es dem Staate, daß er die grimmigsten gemeinsamen Feinde aus dem Felde geschlagen hat, so gewiß freilich dies hinzugefügt werden muß, daß es die Kirche auch zu tragen hätte, wenn ihr der Staat weniger entgegenkäme, und daß sie sich nicht um solcher Dankbarkeit willen an den Staat verkaufen darf. Sie stellt sich nicht bloß gehorsam, sondern freudig im neuen Staate dar als zum Dienste bereit. Ihr kommt das Suchen des Staates entgegen. Er weiß, daß man eher eine Stadt in den Wolken bauen kann als ein Volk ohne Religion regieren. Aber er sucht eine Kirche, die wirklich ihren Platz ausfüllt. Er will kein Anhängsel an sich selbst; er will nicht, daß die Kirche mit etwas andern Worten, und das heißt wahrscheinlich schlechter, seine eigenen Gedanken wiederhole.

Es ist die Tragik der Gegenwart, daß die große Bewegung unseres Volkes zunächst politischer Natur war. In der Vergangenheit mochte die Kirche wohl leiden unter dem Druck der Gottlosenbewegung und um Befreiung von diesem Druck bitten; ihn zu beseitigen lag nicht in ihrer Macht, weil sie das Schwert nicht führt. Sie konnte sich darum auch nicht als Ganzes, sondern nur in einem Teil ihrer Glieder, der nationalsozialistischen Sache verschreiben, wenn sie ihren Dienst am Volke recht ausrichten wollte. Heute haben die Kräfte des Staates die Lage von Grund aus geändert. Die Kirche hat sich auf den Nationalsozialismus einzustellen, wenn sie nicht in einem Sonderdasein schließlich versanden will; freilich kann sie das so wenig von heute auf morgen tun, als das gesamte Volk so plötzlich dem Nationalsozialismus zufallen kann. Hier von bösem Willen der Kirche zu reden, ist eine Verkennung der Wirklichkeit; denn die Bereinigung der Vergangenheit, welche in ihren Tagen auch ihre beschränkte Berechtigung hatte, braucht ihre Zeit.

Der Vorsprung der politischen Kräfte unsres Volkes bringt für die Kirche die Gefahr mit, daß sie nun in ungeistlichem Eifer hinterher zu rennen und aufzuholen sucht. Damit übersieht sie ihre Pflicht, ihre Schritte im Lichte des göttlichen Wortes zu prüfen; sie rast in einer Bahn vorwärts, wo nicht sie Tempo, Weg und Ziel bestimmt, sondern andre Kräfte, und so entsteht die für die Kirche beschämende Lage, daß sie sich selbst der Freiheit begibt, die ihr der Nationalsozialismus ausdrücklich gewährleistet.

Die Kirche hat diese Zusage Adolf Hitlers anfänglich falsch verstanden; sie meinte innerhalb ihrer Mauern alles beim Alten lassen zu dürfen. Sie sah nicht, daß sie mit ihrem Dienste an das Volk gewiesen ist, dem der Nationalsozialismus einzig und allein zu dienen gewillt ist. Aus dem ersten Fehler der Volksfremdheit, der allerdings weniger in Württemberg als in Norddeutschland in Erscheinung trat, erwuchs fast notwendig der zweite, daß man die Volksverbundenheit weithin mit politischen Mitteln und in politischer Form erstrebte. Man nahm zwar Leben in sich auf, aber fremdes, unorganisches. Daher heute die große Verwirrung, wenn man von den gegenseitigen Forderungen zu reden unternimmt, die Kirche und Nationalsozialismus aneinander zu stellen haben. Es entsprach dem Zuge der Zeit ebenso wie dem Willen Adolf Hitlers, daß dem geeinten Reich auch eine geeinte deutsche evangelische Kirche gegenüberstehe. Ich kann mich hier mit dem Ausdruck des Dankes gegen Gott und Menschen begnügen, daß dies Werk nun endlich nach viel Kampf und Not innerhalb der Kirche selbst als vollendet angesehen werden kann. Die auf nächsten Sonntag angeordneten Wahlen als Folgeerscheinung der preußischen Verhältnisse werden uns nachher noch kurz beschäftigen.

Eine Aenderung der Verfassung im Sinne der Ueberwindung des Parlamentarismus schien zwar seitens der Kirche nicht unbedingt geboten. Aber war es unter ihrer Würde, sich von der staatlichen Neuordnung daran erinnern zu lassen, daß diese auf dem Gebiete des Staates überwundene Form des Aufbaus auch ihrem Wesen wenig gerecht wurde? Das hinderte sie nicht an der Einsicht in den Unterschied zwischen dem Gebot geistlicher Führung und dem staatlichen Führerprinzip. Wir haben daher jetzt auch in Württemberg, wie in allen lutherischen Landeskirchen, einen Landesbischof.

Aehnlich steht es mit der Forderung nach Umstellung der Kirche. Die Kirche war im Bann der Bürgerlichkeit, ja sie empfand das kaum mehr als eine Not, geschweige denn, daß sie Mittel und Wege gesucht und gefunden hätte, mit ihr fertig zu werden. Es war schmerzlich für die Kirche, sich den entscheidenden Anstoß zur Bereinigung dieser Frage von außen, vom Nationalsozialismus geben lassen zu müssen; aber durfte sie sich auf die Unantastbarkeit ihrer göttlichen Sendung zurückziehen nur darum, weil es keine kirchliche Instanz war, die den Finger auf die Wunde legte?

Wenn sich die Kirche das Streben des Nationalsozialismus nach Volksgemeinschaft zu eigen machte und diesen Gedanken der Volksgemeinschaft als geeignete, ja notwendige Grundlage ihrer Arbeit anerkannte, heißt das, daß sie vor Staat und Nationalsozialismus kapitulierte? Nein. Es genügt nicht, daß die Kirche schlecht und recht der Obrigkeit untertan sei und sich im übrigen zur Erfüllung ihres Dienstes ihren eigenen Weg suche. Wenn der Staat das Volk will und sonst nichts, so muß sich die Kirche mit Bewußtsein und Überzeugung auf den Boden des Staates stellen. Niemand gibt uns Gewähr dafür, daß diese jetzt in solcher Eindeutigkeit mögliche und nötige Entscheidung nicht später zu einer Fehlentwicklung führen könnte. Darauf haben wir stets ein waches Auge zu haben. Nichts aber kann zu dem Entschluß bestimmen, scheinbar um der Freiheit der Kirche willen und zur Vermeidung der eben erwähnten Möglichkeit künftiger Fehler aus dem alten inneren Bestande der Kirche noch möglichst viel zu retten. Art und Umfang dieses angeblich so unveräußerlichen Alten stimmen bedenklich.

Es mag ein schiefes Bild entstehen, wenn die heutige kirchliche Aufgabe der Zurückgewinnung der Entfremdeten als eine Forderung des Nationalsozialismus namhaft gemacht wird. Sie ist vielmehr das Gebot der Stunde, das die Kirche auch ohne besonderen Anstoß vernehmen kann und vernimmt. Immerhin wird ihr aus den Reihen des Nationalsozialismus ein Suchen und Drängen nach Kirche entgegentreten. Sie versteht dieses Streben nicht, wenn sie es abtut mit dem hochmütig-lächelnden Hinweis auf die Wiedereintrittsbewegung, die freilich weithin rein äußere Gründe hat, unter denen derjenige der Einschüchterung durch den Nationalsozialismus nicht die geringste Rolle spielt.

Beweglicher muß die Kirche werden, wenn sie die Entkirchlichten erreichen soll. Ihre Verkündigung muß streng wahrhaftig sein und auch jeden Schein der Lebensfremdheit vermeiden; sie muß sich bewußt sein, daß der übliche Kanzelstil von vielen einfach nicht verstanden  wird; auch die äußere Form ihrer Gottessdienste muß mannigfaltiger werden. Das bedeutet gerade nicht einen Abbruch am Gehalt des Evangeliums. Nie muß sich die Kirche davor mehr hüten als in Entscheidungszeiten; das ist ein Verrat, den ihr niemand dankt. Wir werden sogar über den biblischen Sprachschatz ohne tödliche Schädigung nicht hinauskommen. Nur daß wir uns dabei die Mannigfaltigkeit und unbedingte Aufrichtigkeit der Bibel anzueignen suchen!

Endlich ist durch den Sieg des Nationalsozialismus die Judenfrage für die Kirche brennend geworden. Ein schwärmerisches Christentum hat hier viel geschadet, indem es unbesehen vom auserwählten Volk redete, ohne zu bedenken, daß die Juden seit der Verurteilung Jesu unter Gottes Gericht stehen und der Menschheit zum Fluch gesetzt sind. Die Kirche hat keinen Grund, sich in der heutigen Auseinandersetzung zum Anwalt dieses Volkes zu machen. Der Kampf mußte einmal aufgenommen werden; Adolf Hitler weiß, daß Deutschland allein ihn nicht zum Siege führen kann. Aber daß das Ziel der Auseinandersetzung einmal erreicht wird, ist klare Verheißung der Bibel.

Etwas völlig anderes ist es um den Kampf gegen das Alte Testament. Niemand bestreitet, daß dies Buch auch ein Judenbuch ist. Aber es ist vor allem und ist für uns Christen Urkunde göttlicher Offenbarung, mit der unser Glaube steht und fällt. Diese Einsicht bricht sich auch innerhalb des Nationalsozialismus Bahn, und es sind beispielsweise vorgestern seitens der Deutschen Christen maßgeblich die drei Gesichtspunkte herausgehoben worden, unter denen das Alte Testament für uns unaufgebbar ist: 1) Es ist das Buch der Verheißung, deren Erfüllung uns im Neuen Testament geschenkt ist. 2) Kein Buch lehrt uns so klar wie das Alte Testament, was „Volk“ sei. 3) Nirgends ist dem jüdischen Wesen schärferer Kampf angesagt worden als auf den Höhepunkten des Alten Testaments. Das mag wohl genügen, um die ernste Christen vielfach in letzter Zeit bewegende Sorge um diesen Teil heiliger Schrift zu zerstreuen.

Ueber das Verhältnis der Kirche zu getauften Juden braucht kaum mehr etwas gesagt zu werden, so sehr ich weiß, daß die Lage da u[nd] dort Härten verursacht hat. Die neue Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche enthält keinen sogenannten Arierparagraphen, d.h. Judenchristen sind vollberechtigte Glieder der Kirche. Auch die Deutschen Christen kommen von ihrer anfänglich überspannten und das Wesen der Kirche verkennenden Forderungen mehr und mehr zurück.

Unter den Forderungen der Kirche an den Nationalsozialismus scheint vordringlich zu sein diejenige der Gewährleistung ihrer Freiheit, die augenblicklich durch das Wahldiktat der Reichsregierung besonders bedroht ist. Die fast groteske Lage mag aber dadurch gekennzeichnet werden, daß die Deutschen Christen diese Wahl nicht gewollt haben, ferner daß zwar die Führer der drei süddeutschen Landeskirchen Bayern, Württemberg und Baden sich um ihrer Kirchen willen vergeblich gegen das Diktat gewehrt haben, daß aber die angeblichen Hüter der Freiheit der Kirche, die Vertreter der politischen Reaktion in der preußischen Landeskirche, gegen diesen Eingriff des Staates keine Silbe einzuwenden hatten. Wir können nun bloß gehorchen und uns sagen, daß wir diesen Ueberbegriff nicht als Laune eines toll gewordenen Staates werten dürfen, sondern ihn den Machenschaften staatsfeindlicher kirchlicher Kreise zu danken haben. Wir sind auch jetzt vor Überraschungen nicht sicher; denn der Kampf ist noch nicht zu Ende. Aber wer die Vorgänge der letzten Zeit, zumal in Preußen, unvoreingenommen verfolgt hat, der weiß, daß der Staat die Freiheit der Kirche will und daß er in Befolgung dieses Grundsatzes mit der Kirche viel Geduld haben mußte und noch muß.

Aber darf man noch die Wahrheit sagen? So fragt die Kirche. Ich antworte mit Ja im vollen Bewußtsein auch alles dessen, was auch mich schon zum gegenteiligen Votum verleitet hat, wie das dreimonatige Verbot der Täglichen Rundschau oder andere Dinge, die ich nur mit den Worten Denunziantentum und Gewissensterror andeuten möchte. Eines ist unerläßliche Voraussetzung: daß man einmal mit Bewußtsein und Ueberzeugung den für viele freilich großen Sprung auf den Boden des Nationalsozialismus wagt und alles aufbietet, um sich in diese Welt einzuleben. Sonst redet man unweigerlich an der Bewegung vorbei und wird zum unfruchtbaren Nörgler. Die Erfahrung lehrt, daß auch die Bewegung selbst unter dem Allermeisten von dem seufzt, was wir als unerträglich empfinden und brandmarken möchten; bedenken wir also, daß wir erst am Anfang des Aufbaus stehen und daß wir Kirche und Volk positive Arbeit schuldig sind; das Negative versteht sich weithin von selbst. Unter dieser Voraussetzung haben wir an die Bewegung die eine Bitte: Erwartet und verlangt nicht von der Kirche dasselbe Maß und dieselbe Form der Aktivität wie ihr sie haben könnt und müßt! Bedenket, daß unausgesetzter Sturmangriff zuerst der Kirche das Leben kostet! Verdächtigt nicht Sammlung und Besinnung, deren die Kirche nicht entraten kann, ohne Weiteres als Miesmacherei.

Die Jugendfrage will zwischen Kirche und Nationalsozialismus zu keiner Lösung kommen. Ich kann mich hier auf einige Andeutungen mehr grundsätzlicher Art beschränken. Der Wunsch der Kirche nach einem eigenen Jugendwerk ist nur allzu berechtigt, zumal sie das Recht der Priorität auf ihrer Seite hat. Augenblicklich scheint es, als solle dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Die Gefahr der Auflösung ist jetzt dank den Bestimmungen des Reichskonkordats bezüglich der katholischen Jugend auch für die unsrige gebannt. Wenn aber das Verbot der Gründung neuer Vereine ergeht, so kommt das praktisch im Lauf der Jahre auf Aushöhlung hinaus, wodurch mit etwas mehr Geduld der Zweck einer sofortigen Auflösung gleichfalls erreicht ist. Aber selbst bei Gewährleistung völliger Bewegungsfreiheit in Jugendfragen müßte sich die Kirche besinnen, ob ihr nicht allmählich die nationalsozialistischen Organisationen mit ihren erheblich günstigeren Arbeitsbedingungen bedenklich den Rang ablaufen, ob sie also nicht von vornherein besser tut, ihre ganze Jugendarbeit auf den Boden des Nationalsozialismus überzuführen.

Die Lage der Kirchen gegenüber den nationalsozialistischen Jugendorganisationen ist so, daß auf die örtliche Regelung, auf Geschick und Takt der kirchlichen Vertreter viel, wenn nicht alles ankommt. Den Geistlichen ist durch amtliche Verfügung Gelegenheit gegeben, bei den Veranstaltungen zu sprechen. Wir können das in einer hölzernen, unjugendlichen Weise tun, so daß wir praktisch die ärgsten Feinde der eigenen Sache werden. Es kann aber auch in einer Weise geschehen, daß das Sehnen nach Kirche neu geweckt wird und Erfüllung findet.

Erreicht die Kirche auf diesem Boden das, was ihr als Ziel vor Augen stehen muß? Ist nicht die Gefahr der Züchtung eines gewissen Allerwelts- oder Feldwebelchristentums auf dem Boden des Nationalsozialismus allzu groß? Zu leugnen ist sie nicht, nachdem ja Evangelische und Katholiken nebeneinander in seinen Organisationen stehen und mehr und mehr stehen werden, und nach dem die SA. zu all vierwöchentlichem Kirchgang verpflichtet ist. Es gibt hier kein Allheilmittel, freilich auch keinen Anlaß, an der Lösung der Aufgabe zu verzagen. Als einziges, was sich hier ganz besonders bewähren wird, sei die beständige Herausstellung der positiven Momente unsres evangelischen Glaubens unter möglichstem Verzicht auf alle Polemik empfohlen.

Hier sei ein Wort eingeschaltet über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur römischen Kirche. Die von dieser volksfremden Macht drohende Gefahr hat Adolf Hitler längst erkannt. Er weiß, daß sein Werk nicht gelingt, wenn der Blick der deutschen Katholiken nach wie vor über die Berge schielt. Er veranschlagt aber selbst für die Aufgabe der Brechung des römischen Einflusses in Deutschland einen Zeitraum von 40 Jahren. Dabei bleibt die Schaffung einer einheitlichen, Katholiken und Evangelische zusammenfassenden deutschen Kirche nicht nur auf absehbare, sondern auf unabsehbare Zeit ein Traum.

Wir können es der Gradlinigkeit des Nationalsozialismus zutrauen, daß das jüngst zustande gekommene Reichskonkordat nicht der Abschluß, sondern der Anfang seiner großen Auseinandersetzung mit Rom ist. Was man von Anfang an befürchtete, beginnt jetzt langsam durchzusickern: daß wir Evangelische an manchen Bestimmungen dieses Vertrages schwer zu würgen haben werden. Um so beschämender ist es für uns, sehen zu müssen, daß dieser Vertrag unsre Jugendorganisationen vor der Auflösung bewahrt hat. Das stimmt bedenklich. Sollte auch im dritten Reich, wie schon so oft, Rom die unfreiwillige und doch zielbewußte Retterin evangelischem Interessen sein? Ist auch der Nationalsozialismus Adolf Hitlers nur ein Werkzeug in der Hand Roms zum weiteren Ausbau seiner Weltherrschaft?

Etwas mehr biblisch ausgedrückt: der Nationalsozialismus ist in besonderer Weise berufen, aufhaltendes Moment im Sonne von 2. Thess. 2,6 zu sein. Ob er diesen Beruf erfüllt, das hängt vom Gelingen seines Kampfes gegen den römischen Antichrist ab.

Damit komme ich schließlich zu dem, was innerhalb der Kirche heute tatsächlich geschieht und was tatsächlich geschehen muß, ohne von außen veranlaßt zu sein. Vor etwa Jahresfrist erhob sich die Glaubensbewegung Deutsche Christen als eine Kampfgemeinschaft von Männern, deren vornehmstes Anliegen es war, daß die Volksbewegung des Nationalsozialismus auch der Kirche zugute komme. Ihre Kampfmethoden haben in der Zwischenzeit viel Kopfschütteln hervorgerufen, vor allem unter den ernsten und treuen Gliedern der Kirche. Ich gestehe selbst, mich lange bei der Auskunft nicht wirklich haben beruhigen zu können, daß sich in ihr Männer von festgegründeter biblischer Überzeugung an maßgebender Stelle befinden. Der Eindruck ungeistlichen Eifers und gelegentlich auch der Nichtachtung der ernsteren Richtung in der Bewegung war übermächtig. Das letztere Bedenken darf ich glücklicherweise heute als erledigt ansehen. Die Bewegung ist genau das, was ihre Glieder aus ihr machen. Wagen die kirchlichen treuen Kreise den Schritt hinein, so wird sich in ihr, zumal bei uns in Württemberg, das treffliche Erbe der Väter mit dem starken volksmissionarischen Wollen der Bewegung paaren. Bleiben sie weg, so sind der Bewegung die besten Kräfte versagt, sie kann ihre Aufgabe nicht erfüllen, die kirchlichen Kreise stehen in der Gefahr der Verknöcherung, und die große Stunde geht vorüber. Daß die Zielklarheit der Bewegung noch sehr zu wünschen übrig läßt und daß, wie bisher, so auch künftig noch manche bedenkliche Maßnahme von ihr ausgehen wird, bleibt mir nicht verborgen. Aber ich muß sie als den Ort werten, von dem aus heute allein die Bewältigung der Aufgabe der Kirche möglich ist.

Ihr sind vor einigen Monaten die Jungreformatorischen gegenübergetreten als ein Sammelbecken verschiedener älterer kirchlicher Richtungen. Sie schienen zunächst gemäß ihrer Herkunft bessere Sachwalter der Kirche zu sein als die Glaubensbewegung. Ihre Sätze waren sachlich einwandfrei, und es mochte einen Augenblick scheinen, als müßten sich alle, die noch irgendwie um die Erhaltung der Substanz der Kirche sich mühten, ihr anschließen und die Glaubensbewegung mit den Heiden zum Teufel fahren lassen. Doch büßt die Richtung wegen ihrer weitgehenden Verbindung mit politischer und kirchlicher Reaktion und ihrer Versteifung auf theologische Auseinandersetzung mehr und mehr an Stoßkraft und Kredit ein. Gerade auch Leute, die den Wert einer sauberen Theologie hoch zu schätzen wissen, erkennen heute, daß in diesem Augenblick ein noch so ernsthaftes Theologengespräch niemand etwas nützt. Die Schließung des unheilvollen Risses innerhalb der Kirche ist ein dringliches Anliegen aller ihrer Freunde; aber die Lage ist heute so, daß die Einigung nur auf dem Boden der Glaubensbewegung Deutsche Christen noch möglich und wertvoll erscheint.

Tut aber der Kirche nicht in erster Linie Selbstbesinnung not? Haben ihr die demütigenden Ereignisse der letzten 2 Monate noch nicht deutlich genug ihre Ohnmacht gezeigt? Rächt sich jetzt nicht hundertfach, daß sie zu einem geistigen Sprechsaal geworden war, wo in der Verkündigung auch das finsterste Heidentum noch als Christentum sanktioniert wurde? Es gibt zu denken, daß alle großen religiösen Bewegungen an ihrem Anfang irgendwie den Ton unüberhörbar erschallen lassen: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Das war zu Elias Tagen nicht anders als beim Auftreten Jesu, und hierin stimmen der Täufer Johannes und Martin Luther völlig überein. Wenn sich auch viele Befürchtungen in den letzten Wochen nicht bewahrheitet haben, so besteht doch aller Grund, die Kirche unablässig daran zu erinnern, daß Selbstsicherheit ihr sicheres Verderben ist. Erkennt sie das, so erkennt sie auch die große Lücke, zu deren Schließung ihr jetzt die Schaffung des Reichsbischofsamtes eine einzigartige Gelegenheit gibt: den Mangel einer lebendigen, wirksamen Lehrautorität.

Gelingt dieses Werk, so wird die gegenwärtige Gottesstunde auf weit hinaus eine Segensstunde sein. Gelingt es nicht, so mag die Kirche in den nächsten Jahren ihren Mitgliederstand etwas erhöhen und da und dort neues kirchliches Interesse wachrufen – aufs ganze gesehen, wird alles beim Alten bleiben, und der Nationalsozialismus wird die Kirche vergeblich gerufen haben. In der heutigen Lage hat die Kirche kein Recht, den Nationalsozialismus zu schelten, als gäbe er ihr nicht, worauf sie Anspruch hat; denn sie ist zum größten Teil durch eigene Schuld in ihr heutiges schiefes Verhältnis zum Staate gekommen. Es ist Entscheidungszeit heute. Sehe die Kirche, d.h. sehen wir alle zu, daß nicht einst über diese gegenwärtige Zeit die beiden Worte geschrieben werden müssen, die nach Ernst Kriecks Satz schon so oft die Tragik deutscher Geschichte ausgemacht haben: „Beinahe“ und „zu spät“! 

 

b. Verhandlungsbericht über den Kirchenbezirkstag Herrenberg, gehalten am 19. Juli 1933, §§ 1-5.

§ 1

Zum Anfang des K[irchen]b[e]z[irks]tags ist ein Gottesdienst. Pfarrer Thaidigsmann von Entringen predigt über Hbr. 11,1-2; 12,1-2. Der Gottesdienst beginnt 9.15 Uhr und schließt 10.15 Uhr. 

§ 2

10.15 Uhr beginnen die Verhandlungen. Herr Dekan dankt Pfarrer Thaidigsmann für seine vom Geist des Glaubens und der Ehrlichkeit getragene Predigt, die Fragen der Gegenwart ins Licht der Ewigkeit zu rücken versuchte. Wir sind dankbar, dass die weitgehende Gleichgültigkeit und Feindschaft gegen das Wort einer anderen Wertschätzung gewichen sind. Aber Sorgen haben wir trotz allem. In den letzten Wochen hat sich ein furchtbarer Riss im Kirchenvolk gezeigt. Einigkeit scheint aber nun wiederzukehren, die Gestaltung der Kirchenverfassung scheint auf gutem Weg zu sein. Das Volk und die Kirche zusammenzubringen, ist eine Aufgabe, die uns heute gestellt wird. Ob sie lösbar ist, ist freilich eine andere Frage. Wir dürfen am Wahrheitsgehalt der Kirche nichts abbrechen lassen. Unser Trost ist, dass Gott im Regiment sitzt.

§ 3

Die Anwesenheitsliste wird verlesen. Pfarrer Krauß von Bondorf ist im Urlaub. Die andern Abgeordneten sind zur Stelle. 

§ 4

Es folgt von 10.25 Uhr bis 10.50 Uhr ein Vortrag von Pfarrer Waßer von Kayh über das Thema: „Kirche und Nationalsozialismus“.

§ 5

In der Aussprache stellt Herr Dekan fest, dass die Versammlung gegen einzelne Teile des Vortrags wohl kritisch sein, aber in der Gesamthaltung mit dem Vortrag einverstanden sein werde.

Stadtpfarrer Richter Herrenberg fragt, was der Vortragende unter der genannten „Reaktion“ (in der Kirche) verstehe. – Eine eindeutig klare Antwort wird nicht gegeben. Pfarrer Wasser spricht von „Deutschnationalen Kirchenführern, die sich gegen den Nationalsozialismus zu halten versuchen und schränkt seine Aussage „im Wesentlichen“ auf Preussen ein.

Pfarrer Steinbach Reusten fragt, wie die Lehrautorität in der neuen deutschen evang. Kirche des Reiches zu denken sei. Die Kirchenleitungen hätten in der jüngsten Zeit auf diesem Gebiet versagt: Man habe die reine Lehre nicht geltend gemacht. Das neue Reichsbischoffsamt trage stark katholischen Charakter, sofern dem Reichsbischoff eine ganz ungeheure Macht auf dem Gebiet der Lehre gegeben sei. Man sollte sich einen Mann wie Hossenfelder (Reichsleiter der Glaubensbewegung deutscher Christen) als Reichsbischoff denken, dann sehe man wie bedenklich es sei, dem Reichsbischof solche Vollmacht zu geben.

Herr Dekan fragt Pfarrer Steinbach, worauf er sein Urteil gründe, die Kirchenleitungen hätten in der Wahrung der Lehre versagt. Pfarrer Steinbach führt als Beispiel an, Stadtpfarrer Schairer habe in der Presse ausgeführt, die neutestamentlichen Urteile über „Welt“ und „Fleisch“ seien daraus zu verstehen, dass man damals korruptes Volkstum vor sich gehabt habe im Judentum und Heidentum, heute habe man unter uns ein Volkstum vor sich, das zum Leben auferstanden sei. Das heiße in Wahrheit das Kreuz Jesu als nötig verleugnen. Die Kirchenleitung habe sich gegen solch eine Äußerung nicht gewandt.

Herr Dekan sagt darauf, Herr Landesbischoff Wurm könne natürlich nicht alle Presseäusserungen kontrollieren und „dumme“ Äußerungen korrigieren.

Pfarrer Steinbach stellt fest, die Substanz der Kirche sei angegriffen. Tatsächlich haben wir „Staatskirche“, wenn man es auch nicht wahrhaben wolle. Es seien ja durch Reichsgesetz kirchliche Wahlen angeordnet und dadurch z.B. unser württembergisches Wahlgesetz außer Kraft gesetzt worden. Die Kirche sei heute frei in dem Augenblick, wo sie tue, was der Staat will.

Bezirksnotar Hascher stellt fest, aus mündlichen Besprechungen mit Professor Fezer u[nd] Landesbischof Wurm wisse er, dass vom Reichskanzler kirchliche Neuwahlen gefordert worden seien, um die Zurückziehung der staatl[ichen] Kommissare damit zu rechtfertigen. In der neuen Verfassung der deutschen Gesamtkirche sei es ursprünglich so vorgesehen gewesen, dass allein der Reichsbischoff das Recht gehabt hätte Nationalsynoden einzuberufen. Es sei jedoch dann eine Abänderung dahin getroffen worden, dass sie auch zu berufen sei auf Verlangen der Mitglieder.

Herr Dekan sagt, wir leben eben in einer Übergangszeit. In solchen Übergangszeiten, gehe es häufig ungut zu. Die Vernunft werde aber auch wieder zum Sieg kommen. Wir müssten eben ringen um die Wahrheit und darum die Kräfte des Evangeliums in uns zur Darstellung zu bringen und dafür auch werben.

Pfarrer Hermelink Nufringen erklärt, diese Hoffnung auf die Vernunft gehe ihm wider das Gewissen. Unsere Sache sei zu glauben, nicht auf die Vernunft zu hoffen.

Herr Dekan erkennt diesen Gegensatz nicht an. Er meine die christliche Vernunft.

Pfarrer Gruber Tailfingen berichtet davon, was Professor Fezer auf der letzten Tagung der Glaubensbewegung zu der Frage Kirche und Staat gesagt haben: Es gibt keine Neutralität gegenüber einem Staat, der sich besinnt über seine Aufgabe. Im alten Staat sei diese Haltung möglich gewesen. Heute geht man entweder mit dem neuen Staat oder man hasst ihn bis in den Tod. Für die Freiheit der Kirche beten kann man nur, wenn man für die Freiheit des Volkes kämpft.

Herr Dekan: Auch ihm sei Kirche und Staat in der Glaubensbewegung zu nahe zusammen gerückt, fast identifiziert. Die Absicht des christlichen Glaubens sei, die Seele des Einzelnen zu läutern. Daneben stehe man auch im Staat.

Stadtpfarrer Richter: Er sehe nicht ein, warum es gleich so sein solle, dass man den Staat hasse, wenn man nicht mit allem einverstanden sein könne. Ihm sei zu Herzen gegangen ein Satz aus der vorhergegangenen Predigt, das Volk begehre unsern Dienst nicht, wenn wir von Sünde redeten. Die Freiheit dazu müssten wir uns wahren.

Pfarrer Steinbach: Professor Fezer sage: Ihr dürft nicht mehr neutral sein. Das alttestamentliche Jerusalem sei zugrunde gegangen durch seine Kirche, die ihm alles sagte, was es hören wollte. Weil wir den nationalsozialistischen Staat lieben, wollen wir nicht, dass es ihm auch so gehe.

Herr Dekan: Wir müssen festhalten: Wir sind Kirche und bleiben Kirche. Wir erfüllen auch unsere Pflicht gegen Volk und Staat, wenn wir Kirche sind. Mit der Zeit werde sich der rechte Weg zeigen, aber Kirche müssen wir bleiben. 

 

c. Predigt in der Stiftskirche am Tag der Arbeit

Ephes. 4, 4-6

Wir haben unseren Gottesdienst mit einem Loblied begonnen und unser Kirchenchor ist im Ton des Lobens fortgefahren. Wir sind voll Dankes darüber, daß in unserem Volk aufs neue vaterländlischer Sinn, der Glaube an die Zukunft unseres Volkes, der ernste Wille zur Erneuerung unseres Volkes zum Durchbruch gekommen ist. Wir wissen, wem der Dank dafür gebührt, wer in zäher Geduldsarbeit allem Widerstand zum Trotz auf dieses Ziel hingearbeitet hat. Aber wir wissen auch, wer zuletzt alle Fäden des Geschehens in seinen Händen hat, und so wollen wir nicht säumen, auch unserem Gott herzlichen Dank für diese Wendung zu sagen.

Wir sind heute zur Feier des 1. Mai, zur Feier des Tages der nationalen Arbeit, im Gotteshaus zusammengekommen. Wir wollen auch bei dieser Feier zu Gott aufblicken.

Die Feier des 1. Mai ist eine alte. Aber in vergangenen Zeiten entsprang aus dieser Feier meist Zwietracht. Die furchtbare Kluft, die sich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgetan hatte, wurde durch diese Feier erweitert. Zu einem guten Teil aus dieser Kluft entstammten die bösen Dünste, die unser Volksleben weithin vergifteten, Neid und Bitterkeit auf der einen Seite, Uebermut und Rücksichtslosigkeit auf der andern. Unsere heutige Feier des 1. Mai soll dazu helfen, daß mehr und mehr ein Band der Einigkeit um unser ganzes Volk sich schlingt. Gerade wenn wir von der Verbundenheit der Glieder unseres Volkes reden, glauben wir uns auf dem Boden des Evangeliums zu bewegen. Wer das Neue Testament durchblättert, der findet immer neue Worte über das Einswerden der Christen, sowohl aus dem Mund Jesu als aus dem Mund der Apostel. Nur ein Wort aus dieser langen Reihe ist das Apostelwort, das wir vorhin gehört haben. Wir wollen heute an drei Einigungsbande denken, die uns verknüpfen sollen. Von diesen drei Einigungsbanden wollen wir der Reihe nach reden.

Das erste Einigungsband ist das Band der Arbeit. Unser heutiger Tag ist ja der nationalen Arbeit gewidmet. Wie vielgestaltig ist die menschliche Arbeit zur Erfüllung des Gottesworts: Füllet die Erde und machet sie euch untertan. Lasset mich nur einige Arbeitsstätten nennen: das Kohlenbergwerk, die rauchenden Fabrikschlote der schweren Eisenindustrie, den Hamburger Hafen, ein modernes Kaufhaus, ein Universitätsgebäude, eine großstädtische Fernsprechzentrale, ein Elektrizitätswerk, das Sprechzimmer eines Arztes, einen Bauernhof in Heuet und Ernte, das Laboratorium eines Chemikers, einen Güterbahnhof, das stille Studierzimmer eines Gelehrten, das Haus mit dem Walten der treuen Mutter. Und doch gehören trotz aller Verschiedenheit die hier tätigen zusammen und sind auf einander angewiesen: der ruhige Kohlenschipper und die blendend weiß geschürzte Schwester im Operationssaal, der Fabrikherr des Großbetriebs und der Kleinhandwerker, der Ingenieur, der die Maschine entwirft und baut, und der Arbeiter, der jahraus, jahrein den nämlichen Handgriff an ihr macht; der Kapitän auf der Kommandobrücke und der Heizer im untersten Kesselraum; Hochschullehrer und Feinmechaniker; Beamte und Steinklopfer.

Zu diesem großen Organismus der Arbeit stehen auch wir drinnen, ein jeder an seinem Ort, aber wir gehören alle zusammen und wir wollen uns je länger je mehr mit vollem Bewußtsein einordnen. Zu dieser Einordnung gehört, daß die verschiedenen Arbeitskreise, Stadt und Land, Landwirtschaft und Industrie, geistige Arbeiter und Handarbeiter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einander gegenseitig kennen und die Schwierigkeiten, die Verantwortung des andern achten lernen. Ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat seine Last. Das Wort Gottes sagt uns: einer trage des andern Last. Insbesondere ist es eine vornehme Pflicht aller irgendwie besser und höher Gestellten, sich um die Lebensbedingungen des andern zu kümmern, ihnen ohne jede Herablassung zu begegnen, an Napoleon denkend, der einer schwer beladenen einfachen Frau mit den Worten ehrerbietig auswich: Respekt vor der Last!

Natürlich tut es das Gefühl der Zusammengehörigkeit auf dem Gebiet der Arbeit für sich allein noch nicht. Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, daß die vielen, vielen Arbeitslosen wieder einen Arbeitsplatz bekommen. Es ist von einschneidender Bedeutung, daß die Arbeitsbedingungen so geregelt werden, daß jeder durch seine Arbeit nicht bloß Brot, sondern auch Befriedigung erhält, daß er etwas von dem in die Arbeit hineingelegten Gottessegen erfährt. Aber wir dürfen zu unserer neuen Regierung das Zutrauen haben, daß sie aus aller Kraft darnach ringt, dieses Ziel, zu erreichen. Aber eine Vorbedingung dafür ist eben auch das, daß die verschiedenen Stände und Berufsarten unseres Volks sich nicht als im Kampf mit einander stehend ansehen, sondern wissen, wir sind zusammengehörige Glieder eines Ganzen. Unsere Arbeit ist ein Einigungsband, das uns alle zusammenknüpfen soll.

Ein zweites Einigungsband ist unser Volkstum. Wir gehören als Deutsche zusammen. Unsere heutige Feier gilt der nationalen Arbeit. Unsere Arbeit soll helfen, daß das deutsche Volk Brot hat, daß sein Leben erhalten bleibt, daß es den von Gott ihm aufgetragenen Dienst in der Welt leisten kann.

Wenn ich eine persönliche Erinnerung einflechten darf: Ich war vor mehr als 40 Jahren in Berlin in einer Versammlung, in der ein bekannter Parteiführer sprach. Zufällig geriet ich in seine Nähe. Ich war erschrocken, als ich sein Gesicht sah; es machte den Eindruck, als ob aller Grimm, alle Bitterkeit, die in seinem ganzen Leben ihm durch die Seele gezogen war, in seinem Gesicht seinen Ausdruck gefunden habe. Er erzählte, vor wenigen Tagen sei er in Lyon gewesen in einer Versammlung französischer Arbeiter, die ebenso sorgenvoll und vergrämt ausgesehen haben wie die deutschen Arbeiter. Die französischen Arbeiter seien die Brüder der deutschen Arbeiter und ihr gemeinsamer Kampf gehe gegen die Unterbrüder, gegen die deutschen Unterbrüder und die französischen. Das Volkstum spiele seine Rolle. Sowohl das deutsche als das französische Volk sei ein Gemisch aus den verschiedensten Bestandteilen, die auf beiden Seiten zum Teil von der gleichen Art seien.

Wir sagen: unser Volk ist und bleibt der Mutterboden, in dem wir wurzeln. Wenn unser Volk auch zum Teil die gleichen Bestandteile hat wie ein anderes Volk, es ist durch die Geschichte, durch das gemeinsame Erleben im Laufe der Jahrhunderte zusammengewachsen und hat sein Gepräge erhalten. Es ist Gottes Ordnung, daß wir nicht bloß einer Familie angehören, sondern auch einem Volk, das durch Gottes Führung seine bestimmte Art erhalten hat.

Wenn wir das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit dem eigenen Volk rühmen, so reden wir damit nicht der blinden Vaterlandsliebe das Wort, die in Selbstüberhebung die Fehler des eigenen Volks und die Vorzüge der anderen übersieht. Näher als diese blinde Vaterlandsliebe liegen uns Deutschen zwei andere Fehler. Der eine ist die Eigenbrödelei, die vergißt, daß man nur der Teil eines großen Ganzen ist und daß nur ein einiges Volk auf die Dauer seine Bürger nähren und schützen kann und daß auch geistig der einzelne verkümmert ohne wurzelhaften Rückhalt am Volksganzen. Hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft, sagt auch unser Schiller. Der andre Fehler, dem wir Deutsche leicht verfallen, ist das Weltbürgertum, welches das eigene Volkstum mit seiner gottgegebenen Eigenart und Sendung unterschätzt und dafür die fremde Sprache als schöner, die fremde Sitte als feiner ansieht.

Ein Luther hat ausgerufen: Für meine Deutschen bin ich geboren, meinen Deutschen will ich dienen. Ernst Moritz Arndt hat geschrieben: Wo Dir Gottes Sonne zuerst schien, wo Dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten, wo seine Blitze zuerst Dir seine Allmacht offenbarten und seine Sturmwinde Dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brausten, da ist Deine Liebe, da ist Dein Vaterland. Doch wir brauchen kein weiteres Zeugnis von frommen und deutschen Männern. Wahrlich, die letzten 20 Jahre haben es uns mit unauslöschlichen Buchstaben in das Herz graben können: Unser Volk ist unsere Schicksalsgemeinschaft. Daß wir darum einig würden als Glieder unseres Volkes!

Was ist das dritte Einigungsband, das uns heute wichtig gemacht werden soll? Unser Glaube. „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch allen und durch euch alle und in euch allen.“

Wir sind nicht nur Arbeiter, wir sind nicht nur Deutsche, wir sind vor allem Menschen. Menschen mit einem Herzen, das nach Antwort verlangt auf die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens, das die Wahrheit darüber erfahren möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir sind Menschen mit einem Herzen voll Sehnsucht nach Glück und Friede, denn wir erfahren immer aufs neue: Wer den Durst seiner Seele mit Erdendingen, mit Geld, mit Genuß, stillen will, dem geht es wie dem Dürstenden, der Meerwasser trinkt, sein Durst wird immer größer. Wir sind Menschen, die eine Kraft haben möchten, um aus der Zwiespältigkeit ihres Wesens herauszukommen, um durch alle Versuchungen des Lebens als aufrechte, starke, dem Guten nachjagende Menschen hindurchzukommen. All dieses Sehnen unseres Herzens wird auf eine Weise am besten befriedigt: durch den Glauben. Der Gläubige besitzt den inneren Frieden, der allen Stürmen trotzt; der Gläubige hat die Kraft, alle Reizungen zum Bösen von außen und von innen siegreich zu überwinden.

Wir wissen wohl, wie in letzter Zeit mit aller Macht versucht worden ist, dem deutschen Volk den Glauben als einen bloßen Wahn hinzustellen, als Priesterbetrug, als Betäubungsmittel gegenüber den Nöten des Lebens. Aber wir wissen auch, wie die größten Männer aller Zeiten Männer des Glaubens gewesen sind. In den letzten Wochen ist eine Veröffentlichung darüber erschienen, wie Bismarck das Losungsbüchlein der Herrnhuter Brüdergemeine sich zur täglichen Wegleitung und zur Kraftquelle dienen ließ, am meisten in den Kampfseiten seines Lebens. Wir freuen uns, daß auch unsere neue Regierung den Glauben als die Grundlage des Lebens schätzt.

Der Glaube ist ein besonders starkes Einigungsband. Gott ist der Vater unser aller, der da ist über euch allen und durch euch alle und in euch allen. Durch Gott werden wir Brüder, die über alle Unterschiede des Rangs und des Standes hinweg sich als solche beweisen sollen mit der Tat. Allerdings der Glaube weiß, wir haben auch jenseits der deutschen Grenze Brüder; aber zunächst sind wir an die mit unserer Liebe gewiesen, die Gott uns an die Seite gestellt hat.

Das Einigungsband der Arbeit das Einigungsband des Volkstums, das Einigungsband des Glaubens, möge es recht kräftig bei uns werden! Mögen wir uns in Einigkeit unter unsere neue Regierung stellen bei dem Werk des Aufbaus unseres Volkslebens! Möge Gott zu dieser Arbeit seinen Segen geben, damit die Ketten unseres Volks gesprengt werden, damit Güte und Treue in unserem Volk sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich füllen, damit unserem Volke der ihm gebührende Platz in der Welt zuteil werde!

2: Aus dem Bericht des Dekans zum Kirchenbezirkstag 1935 (Abschnitt C, Die Gesamtlage der Kirche)

Quelle: DA Herrenberg, 401c

 

Das Jahr 1933 brachte ein Gericht über die Kirche, das nicht unverdient war. Versäumnisse, unter denen wir schon lange litten, und Fehler, die wir erst jetzt richtig erkannten, führten zu einem völligen Zusammenbruch des Kirchenregiments und zu weitgehendster Ratlosigkeit der Pfarrer und Gemeinden. Es ist wesentlich, daß wir die Schuld nicht in erster Linie bei den andern suchen, sondern bei uns, und daß wir Gottes gerechte, züchtigende Hand in dem Geschehen erkennen.

Zunächst erschien der großen Mehrzahl der Christen in Deutschland, auch in sehr ernsten Kreisen, das Gegebene für den Neubau der Kirche der Anschluß an die „Deutschen Christen“. Hier schien die Einigung der Kirche aus der Zersplitterung gewährleistet. Hier schienen im Zusammenhang mit der politischen Erneuerungsbewegung auch neue religiöse christliche Kräfte sich zu entfalten. Hier schienen neue Möglichkeiten, das Evangelium dem ganzen Volk zu bringen. Was viele für die Kirche ersehnt hatten und schon bisher unter Mühen fast erfolglos erstrebten, schien hier Erfüllung zu finden. Das Hineinströmen in die D. C. und die Ergebnisse der Kirchenwahlen 1933 sind ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß es der evangelischen Kirche in weitestem Umfang ernst war, sich in das Neue politisch und kirchlich hineinzustellen.

Wenn es im Lauf der Entwicklung nicht zu der damals gewünschten und in der Kirchenverfassung 1933 vorgesehenen einen deutschen evangelischen Kirche kam, so waren dafür nicht politische Gründe ausschlaggebend (wiedererstandene Reaktion), sondern die aus schmerzlichster Erfahrung heraus geborene und sich immer mehr festigende Erkenntnis, daß die D. C. (nicht in allen ihren Anhängern und Mitläufern, unter denen genug bekenntnistreue Christen sind, wohl aber in ihrer maßgebenden Führung) dem Geist des Evangeliums zuwider handelten und das Evangelium selbst in unaufgebbaren Stücken preisgaben. Sie arbeiteten mit den Methoden der Gewalt und Unwahrheit. Ich erinnere an das Auftreten des Reichsbischofs und seines Rechtswalters in Württemberg und Bayern – April, September und Oktober 1934 – und an die ungeheuerlichen Verleumdungen unseres Landesbischofs, die später in aller Form zurückgenommen werden mussten. Wir dürfen das nicht vergessen, auch wenn wir jetzt äußere Ruhe haben, denn diese Methoden finden bis heute in andern Landeskirchen Anwendung. Noch wichtiger, ausschlaggebender ist das andere. Die christliche Verkündigung ist von den D. C. und dem Reichsbischof in ihrem Kern angetastet worden und wird bis auf den heutigen Tag angetastet, entweder im Wortlaut oder dem tatsächlichen Verhalten nach. Der Reichsbischof hat bei seinem neuesten Besuch in Württemberg gesagt, daß man ihn persönlich diffamiere. Wer ihm Vorwürfe über sein persönliches Leben machte, weiß ich nicht. Maßgebende Leute können es nicht getan haben, denn ich habe von diesen Dingen erst aus dem Mund des Reichsbischofs selbst gehört. Aber um persönliche Vorwürfe geht es in diesem Kampf gar nicht. Der Reichsbischof mag persönlich von den besten Absichten erfüllt sein. Wir machen ihm vielmehr den schärfsten sachlichen Vorwurf, den wir einem Führer der evangelischen Kirche machen können, nämlich den, daß er (und seine Anhänger) nicht weiß, was evangelische Kirche, Evangelium und Bibel ist. Damit ich das nicht nur behaupte, gebe ich drei Sätze wieder, die anläßlich des Besuchs in Württemberg vor kurzem gesprochen wurden. In seiner Begrüßungsrede in Crailsheim sagt der Landesleiter der D. C. Rehm: „Die neue Kirche wird aufgebaut auf dem Glauben der breiten Schichten des Volks, die etwas erlebt haben von der ewigen Sendung, zu der sie als Träger der deutschen Rasse berufen sind. Diese Kirche erwächst heraus aus dem Glauben, mit dem wir einst als braune Kämpfer gekämpft haben. Es ist der Glaube an die ewige Gerechtigkeit, die über allen Dingen steht, der Glaube, daß es einen Herrgott gibt, der das deutsche Volk nicht eine Beute der Schieber und Halunken werden lassen will. „[sic] Und der Reichsbischof selbst führt aus: „In einer Reichskirche muß Ordnung herrschen und ich habe den betreffenden staatlichen Stellen gesagt: Mit den Wahlen allein ist es noch nicht geschehen. ... Die alte Verbindung zwischen Kirche und Staat, wie sie seit der Reformation bestand, war durch die Revolution abgerissen. Die evangelische Kirche hat solche Dinge nie von sich aus in Ordnung bringen können, und so wird nun auch in Bälde der Staat dafür sorgen, daß in den äußeren Raum der Kirche Ordnung komme. „[sic] In diesen Worten haben wir eine unheilvolle, unklare, ja unmögliche Verquickung von Religion und Politik, von Kirche und Staat. Es fehlt das Verständnis dafür ganz, daß die Kirche Jesu nur vom Evangelium aus wahrhaft gebaut werden kann. Weiter sagt der R[eichs]B[ischof]: „Den aronitischen Segen habe ich nie mehr über meine deutschen Lippen gebracht, seit Rathenau am Grab seines Vaters sagte: Ich segne Dich mit dem Segen unserer Väter ...“. Hier zeigt sich eine grundlegende Verkennung des Alten Testaments. Es ist kein Judenbuch, sondern Geschichte des göttlichen Handelns an sündigen Menschen. Deshalb wird ein Wort des Alten Testaments nicht dadurch entwertet, daß es ein Jude unserer Tage auch betet. Ein Führer der Kirche, der das nicht weiß, ist als Führer untragbar.

Nur weil es in diesem Kampf nicht um ein Pfarrergezänk, sondern um ein innerstes Anliegen der Gemeinde geht: die Reinerhaltung des Evangeliums in der Kirche, darf der Kampf überhaupt geführt werden. Sonst wäre er ein großes Unrecht dem Volk gegenüber. Nur deshalb kam es zu einer Scheidung in der Kirche: neben dem R[eichs]B[ischof] steht die Vorläufige Leitung der deutschen evangelischen Kirche. Ich bin von Haus aus sehr zur Verständigung geneigt, und möchte auch heute nicht ablassen davon, das berechtigte Anliegen unserer Gegner zu sehen. Es liegt mir viel mehr am Aufbau als am Kampf. Aber ich bin um der Wahrheit willen verpflichtet, auch den Kampf zu führen, ob ich will oder nicht. In letzten Fragen gibt es keine Kompromisse. Auf uns liegt die Verantwortung, ob das Evangelium verfälscht wird, und wir haben Rechenschaft vor dem Herrn der Kirche darüber zu geben.

Der Kampf hat für die Kirche auch sein Gutes. Heute sehen wir deutlicher als 1933, daß er sein muß. Der Schaden lag viel tiefer, als wir damals allermeist meinten; nicht in der äußeren Zerspaltung der Kirche, nicht in ihrer Stellung zum Staat, sondern in einer innersten Fehlentwicklung. Die Volkskirche war trotz ungezählter edler Christen ein vielfach mit den weltlichen Mächten verbundenes Mischgebilde ohne Zug und Kraft. Heute wollen wir die Volkskirche mit dem Zugang zum ganzen Volk nicht lassen, ehe sie uns zerschlagen wird. Aber es bildet sich ein anders als früher ein Kern solcher, die von Christus ergriffen sind und sich in Wort und Tat zu ihm bekennen. Wir hatten viele kleine Kreise und Gemeinschaften, die reges christliches Leben und feine Innerlichkeit besaßen. Aber sie lebten großenteils für sich. Heute lernen wir neu, daß wir als lebendige Kreise dem Ganzen in seiner Unvollkommenheit missionarisch verpflichtet sind. Wir waren eine in weitem Umfange verbürgerlichte Kirche, wohl durch Ordnung und Sitte zusammengehalten, aber doch lahm und wenig kämpferisch. Heute werden wir aus unserer Sicherheit aufgeschreckt und von Gott gezwungen, Kampftruppen für Christus zu werden mit der Bereitschaft zum leiden. Wir stehen mitten im Ringen um diese werdende Kirche. Für die alte Kirche vor 1914 sich einzusetzen, ist kein Kampfziel. Das Schwanken und Suchen in der Kirche der Nachkriegsjahre hat seine Zeit gehabt; aber um diese werdende Kirche zu kämpfen und in ihr zu arbeiten, dazu werden wir nach meiner Überzeugung nicht von Menschen, sondern von Gott selbst gerufen und es ist nur gut, daß wir durcheinander geschüttelt und zur Besinnung gebracht werden, weit über die Kreise der eigentlichen Kirchenchristen hinaus.

Diese werdende Kirche ist, wenn sie ohne Vorurteil als ganzes betrachtet wird, nicht staats- und volksfeindlich. Die evangelische Kirche ist seit der Reformation eng mit den Geschicken des Staats verbunden. Die Vaterlandsliebe ist ihr ganz selbstverständlich. So freuen wir uns heute von ganzem Herzen über jeden Fortschritt, der in der Außenpolitik errungen wird, z.B. die Wiederherstellung der Wehrmacht und das Flottenabkommen, ebenso über jede Befestigung gesunder Ordnungen und Schaffung geregelter Arbeitsmöglichkeiten im Innern. Gerade wenn die Kirche ihren Auftrag im Unterschied von den staatlichen Aufgaben richtiger als seither erkennt wird sie dazu beitragen, daß es nicht zu Reibungen kommt, da sie ja etwas ganz anderes zu tun hat. Sie weiß gerade, wenn sie neu ernst macht mit Gottes Wort, darum, daß die Ordnungen im Volksleben auf Gott zurückgehen. Sie wird dem Staat gehorsam sein, nicht nur aus Gefühl und Begeisterung heraus, sondern weil sie aufgrund eines unverbrüchlichen Gebots zur Mitarbeit verpflichtet ist. Sie wird, um dem Evangelium die Bahn ins Volk hinein nicht zu erschweren, bis an die äußersten Grenzen des gewisssenmäßig Möglichen gehen und treu ihre staatlichen Pflichten erfüllen, ohne sich verbittern zu lassen. Da und dort schilt man über uns als volksfremde Pfarrer. Wir wollen hören, was daran berechtigt ist, und uns mühen, so zu reden, daß wir von den Kanzeln verstanden werden. Aber ich habe den Eindruck, neben den Pfarrern aus dem anderen Lager können wir uns mit unserer Volksverbundenheit ruhig sehen lassen. Dafür war mir neulich ein kleines Erlebnis bedeutsam. Ich bekam Besuch von einem Frankfurter Kaufmann, einem alten PG und SA-Mann. Er ist nach längerer Arbeitslosigkeit jetzt in der Volksmission tätig. Er tut seine Arbeit abseits von der Kirchenpolitik, unterschiedslos bei DC und Pfarrern der Bekenntnisfront. Als er von seinen Erlebnissen erzählte, bemerkte er ganz nebenbei: „Das muß ich sagen, die Bekenntnispfarrer sind die tüchtigeren. Sie stehen ganz anders in ihren Gemeinden und sind volksverbundener.“ Im ganzen wird das auch für Württemberg zutreffen.

Noch sind die Schwierigkeiten für diese neue Kirche groß. Sie kommen aus dreifacher Richtung. Einmal aus dem eigenen Lager. Den Weg im ganzen bejahe ich aus innerer Überzeugung. Aber im einzelnen machen wir unsere Fehler und leiden unter Ungeschicklichkeiten, die unsere Lage erschweren. Es sind stark verschiedenartige Gruppen in der bekennenden Kirche beieinander. Das erzeugt nicht geringe Spannungen. Aber es besteht kein Grund zur Besorgnis, sie könnte auseinanderfallen. Im Gegenteil: alles, was in den vergangenen Monaten geschah, zuletzt die Arbeit auf der Synode in Augsburg, hat sie nur zusammengeschweißt. Manche Schwierigkeit ist schon überwunden und zwar nicht durch Vertuschen der Gegensätze, sondern in offener Aussprache. Noch nie haben in der Geschichte Lutheraner und Reformierte innerlich so zusammengearbeitet. Darüber möchte ich keinen Zweifel lassen, daß ich einem Wiederaufleben des Gegensatzes zwischen beiden ganz verständnislos gegenüberstünde. Die Zeit ist wirklich darüber hinweggeschritten. Wir sind soweit, daß beide sich gegenseitig fördern und befruchten können.

Trotzdem etwa 80 % des Kirchenvolks, das lebendigen Anteil an der Kirche nimmt, den Rücktritt des R[eichs]B[ischofs] wünscht, trotzdem er unter den sachverständigen maßgebenden Männern und Frauen in der Kirche, in den Freien Verbänden (Äußere und Innere Mission) keinen nennenswerten Anhang hat, besteht keine rechtliche Möglichkeit, ihn abzusetzen und so zum Frieden zu kommen. Das ist ein zweite Schwierigkeit. Menschlich wollten wir, daß der seit vielen Monaten fortgehende Stellungskrieg endlich aufhöre. Aber Gott wird wissen, wann er die Bahn frei macht. Wir dürfen nicht völlig außer acht lassen, daß es noch eine Möglichkeit der Bereinigung mit dem R[eichs]B[ischof] zusammen gäbe, so wenig wahrscheinlich sie ist; dann, wenn der R[eichs]B[ischof] von seinen alten Methoden ließe und anfinge, wirklich unzweideutig Evangelium zu verkündigen und praktisch mit den zur Arbeit Berufenen zu arbeiten. Verheißungsvolle Worte haben wir in der Richtung manche gehört bis in die jüngste Zeit. Aber Worte helfen nichts mehr. Das ist das Furchtbare, an das ich mich immer neu gewöhnen muß, daß in der Kirche nach vielen schmerzlichen Erfahrungen heute das Wort eines Mannes nicht mehr unbedingt gilt. Nur schlichtes praktisches Arbeiten Monate hindurch könnte einen Weg ebnen und die Getrennten, denen es ums Evangelium geht, zusammenbringen.

Die ernstesten Schwierigkeiten entstehen heute im Verhältnis zum Staat. Bei ihm liegt die Entscheidung über die Beendigung des Kirchenstreits. Es ist schmerzlich zu sehen, daß der Staat und diese werdende Kirche bisher nicht zusammenkommen. An zwei Punkten wollen die Auseinandersetzungen nicht enden. Zum ersten in der Frage der politischen Zuverlässigkeit der bekennenden Kirche. Es wäre sehr töricht zu leugnen, daß im Jahr 1933 beim Verhalten der maßgebenden  Führer der Kirche und bei vielen Pfarrern nicht auch das Politische mit herein spielte, vielleicht ganz unbewußt. Wie könnte es anders sein bei der engen Jahrhunderte alten Verbindung zwischen Staat und Kirche. Aber das scheint mir das Bedeutsame, daß dies Politische auch in seinen Resten im Lauf der Monate mehr und mehr abgestreift wurde. Heute geht es bei allen Maßgebenden bis weit hinein in die Anhängerschaft wirklich um Evangelium und Kirche, nur darum. Es ist fast tragisch, daß die Kirche, welche die Forderung des Staats nach der Scheidung von Politik und Religion radikal durchführen will, immer wieder angegriffen wird in der Meinung, sie arbeite gegen den Staat. Wir können nichts tun als warten, bis die Mißverständnisse sich klären.

Zum andern führt der Staat einen unerbittlichen Kampf gegen den Konfessionalismus, der das deutsche Volk zerreißt. Unter dem Wort wird etwas anderes verstanden als früher. Wir waren gewohnt bei Konfessionalismus an den Kampf zwischen Evangelischen und Katholischen zu denken. Dieser Kampf ruht in der Gegenwart fast ganz. Von den Konfessionen selbst wird heute kein trennender Graben gezogen. Sie leben friedlich nebeneinander. Wohl aber empfindet der Staat das Vorhandensein zweier Konfessionen, auf die er in der Schule, bei der Erziehung überhaupt, bei religiösen Feiern in den Frauenverbänden, der Krankenpflege u. a. beständig Rücksicht nehmen soll, als etwas, was überwunden werden muß. Deshalb ersehnt er eine einige deutsche Nationalkirche. Deshalb möchte er das Konfessionelle, ob es evangelisch oder katholisch ist, möglichst zurückdrängen zugunsten des gemeinsamen Deutschen und des allgemein Christlichen oder Göttlichen. Wir verstehen diese Sehnsucht nach Einigkeit im Glauben nur zu gut, leiden wir doch selbst unter der Trennung immer wieder. Wir billigen dem Staat gerne zu, daß er das Recht und die Pflicht hat, das Volk, da wo es möglich ist, zu einigen, und wollen ihn nach Kräften darin unterstützen. Aber ich fürchte, der heutige Kampf gegen die Konfessionen bewirkt genau das Gegenteil der Einigung. Es könnte dahin kommen, daß in der Gegenwart das Volk zwar nicht mehr durch den Kampf zwischen evangelischer und katholischer Kirche zerspalten wird, wohl aber durch den Kampf der beiden christlichen Konfessionen gegen das, was der Staat zur Einigung fordert, aber von beiden Kirchen als dem christlichen Glauben widersprechend nicht anerkannt werden kann. Wir können z. B. nicht zufrieden sein damit, daß allgemein von Gott oder von positivem Christentum geredet wird. Das mach die Verständigung schwer, daß wir etwas ganz verschiedenes meinen, wenn wir Gott oder Christentum sagen. Wir Christen meinen den Vater unseres Herrn Jesus Christus, nicht irgend einen unbestimmten, unfaßbaren Weltgeist oder etwas Göttliches in der eigenen Brust. Wir wissen nicht nur von Nächstenliebe und Wohlfahrt, sondern von ganz bestimmten, das Leben bis in die Tiefen erfassenden Geboten des Christus. Wir dürfen nicht davon lassen, von Gott im ganz bestimmten Sinn des Neuen Testaments und von seinem allumfassenden Herrschaftsanspruch an die Menschen zu zeugen. Wir können nur bitten, der Staat möge zum Heil des Volkes im Kampf gegen den Konfessionalismus die Grenzen wahren, die, jedenfalls zunächst, ehe ein Reformator kommt, durch die deutsche Geschichte gezogen sind. Sonst wird der Kampf gegen den Konfessionalismus zum Kampf gegen die christlichen Kirchen und gegen Christus selbst. In ihm darf die gläubige Christenheit nicht nachgeben.

Besonders deutlich wurde die Auseinandersetzung über den Konfessionalismus bisher in der Jugendfrage. Das hat uns im vergangenen Kampfmonat der J.J. viel beschäftigt. Daß der Staat gegen die katholischen Jugendorganisationen vorgeht, weil sie noch ihr Eigenleben neben der H.J. führen, werden wir als Evangelische wohl verstehen. Wir haben besondere Organisationen der Jugend unter 18 Jahren nicht mehr, sondern freie Kreise ohne Mitgliedschaft, zu denen alle Getauften gleicherweise eingeladen sind. Sie gehen nach dem Jugendvertrag vom Dezember 1933 ausdrücklich mit der Arbeit in der J.J. zusammen. Deshalb empfingen wir den Kampf gegen die evang. Jugendarbeit als unrichtig und wehren uns dafür, daß wir sie im Rahmen des Vertrags tun dürfen. Wir wollen nicht mehr als dies, daß die Jugend, die in der J.J. körperlich ertüchtigt und politisch geschult wird, christliche Unterweisung in unsern Kreisen empfängt und christliche Gemeinschaft in ihnen erlebt. Davon können wir nicht weichen.

Ich habe offen über das geredet, was uns heute in der Kirche besonders beschwert, in der Überzeugung, daß das der erste Schritt zur Annäherung und wahren Bereinigung ist. Weil diese Schwierigkeiten zur Zeit so groß sind, sehen ungezählte Christen mit Sorge in die Zukunft. Wir dürfen diese Schwierigkeiten nicht verkleinern. Es geht um eine tiefgreifende Wandlung der Dinge. Aber auf der andern Seite wollen wir uns immer vor Augen halten, daß in einer Wende der Zeiten wie heute vieles durcheinander geht und wir Geduld haben müssen, bis sich die Lage mehr klärt. Über vieles ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nicht wenige Christen halten im Blick auf die gesamte Weltlage das Ende für nahe und warten auf die Wiederkunft Jesu. Sie haben daher Neigung, sich von allem Weltgeschehen zurückzuziehen. Auch diesen Ausgang haben wir als Menschen der Bibel ernsthaft ins Auge zu fassen. Einen Kampf der Geister wie den heutigen, wo mit dem letzten Einsatz gerungen wird, haben wir Lebende noch nicht gesehen. Manches stimmt mit den Weissagungen der Bibel überraschend zusammen. Aber so verschieden wir im Blick auf die Zukunft des Volkes und die Weltlage denken mögen, über die Grundhaltung der Christen heute muß Einigkeit bestehen, wenn wir den neutestamentlichen Gemeinden gleichen wollen. Sie konnten wahrlich um die Zukunft der Kirche besorgt sein, als kleine Schar im großen römischen Weltreich. Sie erlebten einen ungeheuren Kampf der Geister und rechneten mit dem baldigen Kommen Jesu. Und doch legten sie die Hände nicht in den Schoß. Sie blieben nicht bei tiefsinnigen Betrachtungen, sondern waren treu in ihrem Beruf und gingen gerade, weil sie nicht mehr viel Zeit vor sich sahen, mit ungeheurer Tatkraft an die Arbeit, um möglichst viel für ihren Herrn zu wirken.

Damit ist auch uns unsere Haltung vorgeschrieben. Sie kann nur in einem doppelten bestehen: beten und arbeiten. Es ist ein großes Vorrecht der Christen, daß wir beten dürfen. Das heißt in unserem besonderen Zusammenhang besonders: beten für Volk und Staat und seinen Führer. Gerade Sorgen und ernsthafte Anliegen sollen uns ins Gebet treiben. Es hängt ungeheuer viel davon ab, daß die heutige Regierung stark bleibt und in all ihrem guten Wollen durchdringt. Dafür laßt uns beten, sonst werden wir mit schuldig, wenn dämonische Kräfte die Oberhand gewinnen. Und beten wollen wir für die Erneuerung der Kirche und das Kommen des Reiches Gottes.

Zum Beten kommt das Arbeiten. Wir wollen mit ganzer Treue an unserem Platz stehen, damit aus unsern Taten sichtbar werde, wie uns das Wohl des Volkes am Herzen liegt. Es ist immer in der Geschichte so gewesen, daß die Christen sich in aller Stille durch ausdauerndes Mitarbeiten auszeichneten. Gott stellt uns nicht nur an die irdische Arbeit. Er sucht Mitarbeiter für sein Reich. Lebendige Kirche wird nur da, wo wir in seinem Dienst tun, was wir können.

3: Stadtpfarrer Richter: Die Gehorsamspflicht der Christen im nationalsozialistischen Staat

Quelle: Pfarrkonferenz Herrenberg vom 11. Juli 1938.

 

Es seien nur einige persönliche Vorbemerkungen zum Thema gestattet.

 

Das Thema entspringt aus seelsorgerlichen Anliegen, die mir in der Gemeinde aufs stärkste entgegen getreten sind u[nd] aus persönlichen Unsicherheiten, die noch Jahr u[nd] Tag umtreiben. Mein Interesse gehört seit Jahren der Frage „Kirche und Staat“. Ich habe es aber nicht gewagt, das Thema so zu formulieren, um der endlosen u[nd] unlösbaren, freilich immer wieder neu zu stellenden Frage des Kirchenbegriffs, dem Problem der ecclesia visibilis oder invisibilis zu entgehen. Vielmehr ist nun hier der Versuch gemacht aufzuzeigen, wie der einzelne Christ sich im Staat zu verhalten habe – also ein praktisches, ethisches, eben für unsseelsorgerisches Problem zu lösen, freilich nicht ohne Dogmatik, ohne die es gewiß keine Ethik gibt u[nd] mit dem unausgesprochenen Hintergedanken, daß eben der einzelne Christ sich doch nicht anders im Staat verhalten könne als die Kirche sich zum St[aat] verhalten müsse.

Um nicht ins Leere zu reden versuche ich die Voraussetzungen der Frage(1) möglichst eindeutig festzulegen.

I.

1. Es handelt sich heute um diesen Staat, der uns täglich begegnet. Er ist natürlich auch grundsätzlich nichts anderes als eine historische Erscheinungsform des Staates überhaupt u[nd]er ist vielleicht nicht so sehr anders u[nd] „Niedagewesen“ wie man geneigt ist, anzunehmen. Immerhin zeigt der nat[ional] soz[ialistische] Staat so bestimmte Wesenszüge, die nicht erst gedeutet werden müssen, sondern faktisch eindeutig vorhanden sind, daß es zwecklos erscheint, darüber hinwegzusehen.(2)

1)    der nat[ional] soz[ialistische] St[aat] beruht auf dem persönlichen Vertrauen zu A[dolf] H[itler] dem Führer und Staatsoberhaupt. Eine Tatsache, über die sich nicht diskutieren läßt. Persönliches Vertrauen hat man oder hat man nicht.

Die Staatsauffassung A[dolf] H[itlers] aber ist bekannt aus seinem Buch „Mein K[am]pf“.

2)    Der politische Prozeß unseres Staates entspricht diesem Buch u[nd] dem Parteiprogramm. Daraus geht eindeutig der Totalitätsanspruch hervor, der an der täglichen Praxis des öffentl[ichen] Lebens durchgeführt wird, indem sämtliche Lebensäußerungen des deutschen Staatsbürgers unter eine einheitliche Maxime gestellt werden.

3)    der Totalitätsanspruch hat seinen Ursprung im Rassegedanken. Dabei sprechen wir nicht von der im Rosenberger Mythos entwickelten Rassetheorie, noch weniger von Julius Streichers Antisemitismus; auch Günther´s(3)Rassenlehre möchte ich nicht als entscheidend wichtig in diesem Zusammenhang nennen. Sondern ich behaupte, daß für das politisch maßgebende u[nd] praktisch durchgeführte Rassedenken des Nationalsozialismus eine Art primitiver Glaube an den naturbestimmten Vorzug einer (nordischen oder dinarischen) Herrenrasse ursprüngliche Quelle ist. Der Glaube an den Auftrag, an den göttlichen Auftrag, zum wahren Wohl des deutschen Volkes als Blutsgemeinschaft eine Herrschaft der Besten aufzurichten. Diese Elite, dieser Orden muß seiner Natur nach das ganze Volk so beherrschen, daß andersartige, gar andersrassige Einflüsse total ausgeschieden oder unterdrückt werden. Es handelt sich nicht um historisches, sondern um biologisches Denken – daher die große u[nd] maßgebliche Beteiligung der Ärzte am Regierungsapparat. Jede Rassemischung wird in bewußt ungeschichtlichem Denken von vornherein als verderblich abgelehnt. Mag auch dieser dogmatische Rassestandpunkt nicht überall endgültig geteilt werden, so ist er doch mindestens eine Arbeitshypothese, mit der tatsächlich regiert wird. 

2. Um einen sicheren Standort, festen Boden zu gewinnen, müssen wir nun ebenso eindeutig den Ort des Christen zu bestimmen suchen. Seine überweltliche Bindung ist so orthodox als möglich auszusprechen.

Freilich meinen wir hier wiederum mehr eine ethisch-persönliche Bindung, also eine ebenfalls vitale -- existentielle -- Haltung, als ein starres Leergebäude. Der Christ ist an die Bibel gebunden, die ihm das Zeugnis, ja die verpflichtende Kundgebung des göttlichen Willens ist. Es soll damit nicht das altprotest[antische] Dogma der Verbalinspiration wieder aufgerichtet sein, aber es soll allen Ernstes behauptet werden, daß der Gehorsam fordernde Geist Gottes sich in der einheitlich zusammengeschartenH[ei]l[igen] Schrift offenbare, deren letzterer Sinn sich in dem fleischgewordenen Wort, in Jesus Christus zusammenfasst. So wird Christus zum Kyrios, an den der Christ in persönlichem Vertrauen(4) gebunden ist, so daß hier ebenfalls ein Totalitätsanspruch vorhanden ist.

Es ist das Geschick unserer Lage, der heutigen Weltlage, die in Deutschland am deutlichsten sichtbar wird, daß die Gegensätze nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum liegen, daß sich der Kampf um Religion u[nd] Weltanschauung in den Kampf um Christus zuspitzt. Wir werden so zur Klarheit genötigt. Der deutsch-christl[iche] Kritik an der Schrift z.B. wird notwendig zur Kritik an Christus – so sehr sich ihre populären Verfechter bemühen „nur“ die Ordnung, nur die Finanzen, nur die Formen der Kirche anzugreifen. 

3. Der Christenglaube entsteht in der Begegnung mit Jesus als dem Christus. Das ist das Evangelium. Ihm glauben heißt an Gott, Vater Sohn u[nd] Geist glauben.

Die dogmatische Formeln der Präexistenz u[nd] Trinität haben ihre volle Gültigkeit. Der Schöpfungsglaube ist in den Glauben an Christus eingeschlossen. Der 1. Artikel gewinnt seine Exegese, ja Gültigkeit, vom 2. her. „Gott kann nur die Welt erlösen, die er geschaffen hat – die Menschen sollen sein Eigentum werden, die sein Eigentum sind“ (1.Kor. 12,3.) Der 2. Artikel darf nie ohne den 3. gelehrt werden: „Wieso Christus meinHerr ist u[nd] der Vater Jesu Christi mein Schöpfer, das lehrt mich der H[ei]l[ige]. Geist u[nd] die vom Geist berufene u[nd]erleuchtete communio, die Kirche. Er lehrt auch, die einzelnen für unsere Frage in Betracht kommenden Stellen der Schrift auf den einheitlichen Nenner zu bringen:

Der nach Gottes Bild geschaffene, zur Herrschaft über die(5) Geschöpfe Gottes ermächtigte Mensch ist derselbe, der durch den Sündenfall erlösungsbedürftig geworden ist u[nd] durch Christus erlöst ist.

Gen. 1.-3.

Das in der von Gott abgefallenen Welt einen irdischen Regenten begehrende Volk (1.Sam. 8.) ist dasselbe, das für Gottes durch nichts aufzuhebende Weltregierung zeugen muß (Daniel).

Der in der Bergpredigt zum radikalen Gehorsam verpflichtete Christ ist derselbe, der Römer 13 zu bejahen hat.

Der 1.Petr. 2,13 zur Untertänigkeit gegenüber dem Basileus mahnende Apostel ist derselbe, der Acta 5,29 ausspricht. usw.

Zu Daniel: Ich folge dem Deutungsversuch Luthers, ohne die textkritische Frage zu verachten, zu der Hartenstein (Einleitung in BibelS.255ff. (nach Schlatter) wesentliches gesagt hat. Ich vermute, daß zum in Rede stehenden Fragenkomplex überhaupt Daniel mehr ausgewertet werden muß. Dazu hat er der Kirche vielleicht mehr zu sagen als zur speziellen Eschatologie. 

II.

Satz 4 versucht die Probleme der Individual- u[nd] Sozialethik von vornherein in eins zu sehen: Die durch den Schöpfer empfangene Gabe der menschl[ichen] Gemeinschaft verpflichtet zur Weitergabe, zur Teilnahme an der gegebenen Gemeinschaft, also an Volk u[nd] Staat vonschon auf früherer Stufe an Familie u[nd] Sippe. Der Christ ist nicht in irgend einem privaten oder einem innerlichen Sinn erlöstes Gotteskind u[nd] dann im Äußeren „Weltlicher“ auch noch --Volksgenosse oder-- Staatsbürger. Er ist immer eine einheitliche Person. Deshalb erkennt(6) er die göttliche Satzung von Bluts-, Rasse-, Volks-, Staatsgemeinschaft u[nd] gesteht diesen „Ordnungen“ ihr göttliches Recht zu. Dies „Eigengesetzlichkeit“ zu nennen, scheint freilich gefährlich. Denn wenn wir dem Staats z.B. ein Eigenrecht zugestehen, so verleugnen wir doch wohl den biblischen Schöpfungsglauben. Gott ist immer der Gebende; wir sind immer die Nehmenden! Gefolgschaft, Führerschaft, Nation, Staat sind seine Gaben. Unsere Beteiligung daran folgt aus der Dankbarkeit, die den Geber nicht vergißt.

Das bedeutet nicht, daß es unsere Aufgabe wäre, den Staat nach christlichen Regeln aufzubauen. Wohl aber daß unsere Mitarbeit in jedem Staat, in jeder gottgesetzen Ordnung unter dem 1. Gebot steht. 

5. Wenn der Mensch die ihm Gen 1,28 gestellte Aufgabe erfüllen soll, bedarf es der Organisation u[nd] Technik.

  1. Wenn der Staat dabei vorgehen muß, ist 1.Sam. 8. realpolitisch gesehen.

Ordnung ist unmöglich ohne Zwang.

Der Christ fügt sich bloß in die Ordnung, er fördert sie im Bewußtsein, daß die gefallene Menschheit mit ihren gebrochenen Mitteln die ursprüngliche Gottesabsicht zu erfüllen sucht: echte Gemeinschaft, auch echte Volksgemeinschaft. (Schwerlich kann er die unechte, durch gewaltsame Umformierung erzwungene Gemeinschaft billigen.)

  1. die Rechtspflege des Staates hat ihren Sinn im Schutz der Gemeinschaft; die Strafe in der Abschreckung ihrer Zerbrecher u[nd] im Besserungsversuch. Ob der Strafzweck auch in der Vergeltung gesehen werden darf (Todesstrafe) scheint nur eine ersteFrage.

Über den Krieg siehe Satz 13.

Wenn der Christ die staatl[iche] Zwangsgewalt respektiert, so bedeutet dies die Ablehnung des schwärmerischen Versuchs, durch sog[enannte] Lebensreform oder politische Revolution einen christlich-sozialen Staat herzustellen. Die Ablehnung der tolstoi‘schen Auslegung der Bergpredigt. Die Ablehnung des Quäkerprotestes gegen jegliche Gewalt; die Ablehnung der naiven Idee mit christlichen Morallehren die „Welt“ verbessern zu können. Es bedeutet aber nicht die ebenso naive Meinung der Bergpredigt habe schlechthin nichts mit dem sozialen, öffentl[ichen], staatl[ichen] Leben zu tun.

Zur Bergpredigt (Thurneysen(7)):

Sie ist nicht Gesetz, das ich anderen auflegen darf „als christliche Regel“; sie ist Evangelium, das mir u[nd] den anderen gegeben ist – also Gabe Jesu an den Seinen u[nd] darum, nur darum Gesetz der Gemeinde Christi u[nd] Verpflichtung der Kirche, damit die „Kräfte u[nd] Lichter des kommenden Reichs“ in diesen Äonleuchten. 

6. Vielmehr richtet sich die Mitarbeit des Christen an u[nd] in der staatl[ichen] Ordnung streng nach der christlichen Lebensregel, die immer auf die unter Gott gebundene Gemeinschaft zielt. Schlatter sagt mir Recht (S. 63), die dogmatisch strenge Trennung des Luthertums der iustitia civilis von der vor Gott geltenden Gerechtigkeit zerstöre ähnlich wie die katholische Lehre von den consiliis evangdie untrennbare Einheit des christlichen Handelns. Aber für Luther selbst darf wohl mit Recht behauptet werden, daß eines seiner Hauptanliegen gerade die Abwehr einer solchen Abwertung der bürgerlichen Pflichten gewesen ist. Die praktische Nächstenliebe ist wirklich Christenpflicht ohne allen Zweifel.

Aber auch wirklich die Nächstenliebe! Niedie Sprache davon, die ein Deckmantel sein kann, um sich selbst beliebt zu machen.

Der Christ macht also von den staatl[ichen] Ordnungen Gebrauch, wieLuther sagt „im fremden Dienst“, um andern, eben seinen Nächsten damit zu helfen. Wiederum um ihnen wirklich zu helfen, nicht um ihre Wünsche zu erfüllen.

Der Nächststehende ist immer auf Gott bezogen – eine durch Christus gebotene Liebe, kann also nie mit widergöttl[ichen], antichristl[ichen] Mittelnhelfen. Vielleicht liegt in der Fürbitte, in der Bitte um den Gottesbeitrag für die anderen, die entscheidenste Hilfe.

Aber es darf auch an die fast naiv klingenden Mahnungen der Sprüche oder des Prediger (cap.9) erinnert werden, einfach das Nächstliegende zu tun, wenn klar ist, daß diese Moral-Lehren in der Bibel stehen, d.h. nur für den sinnvoll sind, der Gen. 1-3 glaubt oder Pred. 1 versteht. (Barth S. 52) 

Satz 7. möchte wieder zur konkreten Situation vorstoßen. Glauben wir im Ernst an Gottes Weltregierung, so müssen wir über Sympathie oder Antipathie hinweg anerkennen, daß dem deutschen Volk das 3. Reich von Gott bestimmt ist wie der gesamte Geschichtsgang. Die Zusammenballung der nationalen Kraft, die möglicherweise zwar ihre Befugnis überschreitet, weil es sich auch hier eben wieder um eine gefallene Menschheit handelt, ist die Gegebenheit, die unsere Situation realiter bestimmt.

Es ist uns keine Ausflucht, kein Wenn u[nd] Aber erlaubt.

Hier haben wir unseren Beruf, der immer zugleich bürgerlich-weltlicher(8) Alltag, welcher Handwerk und göttlicher Ruf, von Gott gesetzte Verpflichtung ist.

Der Gehorsam, den wir schuldig sind, zerfällt nie in zweierlei Gebiete, sowenig Seele und Leib, geistliche und weltliche Fraktion am Einzelmenschen zu trennen sind. Matth 22, 21 sieht die Jünger des Meisters gerade in der Einheit: Der treue Gottesdiener ist der treue Staatsbürger; der Christ, der Gott die Ehre gibt, die allerhöchste Stelle ehrfürchtig u[nd] dankbar läßt, gibt auch dem Kaiser die ihm gebührende 2. Stelle, läßt sich an echter Staatsgesinnung von niemand übertreffen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich gesagt, daß damit niemand berechtigt wäre, sich bei der schönen Formel „Thron u[nd] Altar“ zu beruhigen. Sondern es möchte damit nur mit nüchternster Sachlichkeit festgestellt sein, daß der Christ wirklich zu Gehorsam gegenüber dem Staat verpflichtet ist „um Gottes willen“, weil Gott dies gebietet. 

III.

8. Alles Vergängliche ist das Gleichnis des Ewigen:

Das Urbild schlägt durch – das ist das Recht, das göttl[iche] Recht der Schöpfungsordnungen um dessentwillen sie unsere Bejahung, unsere Liebe fordern.

Aber alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis! Bei aller Bemühung zur Positivität kommen wir um Spannung, um Antithese nicht herum. Die Paradoxa des ursprüngl[ichen] Glaubenserlebnisses, jener Begegnung mit Christus, worin ich armer Sünder die überwältigende Gnade meines Erlösers erfahren durfte, wirkt sich auch in der christl[ichen] Ethik aus. Diese weite Welt Gottes ist erlösungsbedürftig.

Der Sündenfall ist nicht zu vergessen, nicht zu überbrücken, nicht zu übersehen als objektives Faktum.

Das schlechthin Andersartige der göttlichen Ewigkeit, die Transzendenz Gottes erlaubt nie u[nd] nimmer die ungebrochennaive Schätzung der irdischen Güter u[nd] menschl[ichen] Ordnungen. Gott bleibt der Verborgene. Wer nach ihm fragt Einschub: wer ihm glaubt für den kann auch das herrlichste geliebte irdische Vaterland nur ein armes Abbild der ewigen Heimat sein. Er weiß, daß der Staat unter der göttl[ichen] Krisis steht u[nd] darum auch der christl[ichen] Kritik unterliegt. Der Christ muß sich immer in der Doppelstellung des Bürgers 2 Reiche, des Wanderers zwischen beiden Welten befinden. (Act.6,33 zeigt eindeutig, welchem Reich der Vorrang gebührt) das begrenzt notwendig seine Liebe, seine Mitarbeit, seine Bejahung, seinen Gehorsam dem Staat g[e]g[en]üb[er], der restlosen Gehorsam fordert. Der absolute Herr, der totalen Gehorsam verlangen kann, ist immer nurGott als der ta eschata Bestimmende u[nd] das letzte Reich Aufrichtende (Dan. 2 u[nd] 7.) 

9. Es ist unverdiente Güte Gottes, wenn die Welt weiterexistiert – das weiß der Christ, der in seinem subjektiven Erleben die Gnade Gottes als das Letzte u[nd] Höchste erfahren hat. Darinist das göttliche Recht allem menschlichen übergeordnet. Gottes Gabe geht tatsächlich voran (Ps 127). Alles liegt nun daran, daß diese scheinbar platte Erkenntnis des Vorsehungsglaubens zur unumstößlichen Glaubenswahrheit wird: Christus ist da, er ist das Wort, das Gott gesprochen hat, also geht Gottes Recht, Gottes Liebe über alles.

Die strenge Souveränität Gottes (im Calvinischen Sinn) soll damit ausgesprochen sein.

Deshalb gebührt Gott Einschub: wirklich die höchste Ehre: mit anbetenden Worten, die mit Gesinnungen u[nd] Taten übereinstimmen.

(Kundgebungen, Losungen fürs ganze Volk sind sehr ernst zu nehmen, so sehr sie vielleicht als polit[isches] Propagandamittel belastet sein mögen).

Deshalb darf nie Volksdienst-Gottesdienst gesagt werden.

Deshalb möchten wir auch nicht wieder die veralteten Ausdrücke vom „ewigen Reich“ u[nd] „heiligen Vaterland“ unwidersprochen gelten lassen. Nie kann für den Christen das Volk den 1. Akzent haben. Matth. 22, 21 scheint eindeutig davor zu warnen.

Daniel 3 „die bekennende Kirche“ u[nd] 6 „die kämpfende Kirche“ ist hier heranzuziehen. Auch die Geschichte Israels. Die Weltgeschichte lehrt ja wohl deutlich den Fluch der Staatsvergötzung: Nebukadnezar.Röm[ischer] Kaiserkult. Frankreich. (Japan?)

Aus Liebe zum Nächsten, zum eigenen Volk lehrt der ans Evang[elium] gewieseneChrist solche Wege ab. 

10. Der Christ muß vielmehr aus Gehorsam gegen seinen Herrn, als der um das wahreWohl des Staates besorgte u[nd] darum im rechten Sinn gehorsame Staatsbürger, die unbehinderte Verkündigung des Ev[angeliums] in der Öffentlichkeit fordern. Genau wie er einen etwaigen Zwang zum Christentum ablehnt, fordert er auf der anderen Seite Glaubensfreiheit. Die Staatsmacht redet vom Glauben. Das wird nicht mit dem liberalen Grundsatz der Toleranz (jeder nach seiner facon!), sondern aus dem Glauben an die Souveränität Gottes begründet. Nicht die Souveränität des freien Ich entscheidet, sondern das 1. Gebot. Man mag das kalvinisch nennen oder protestantisch – die luther[ischen] Fürsten haben 1529 in Speyer ihren echten Protest aus solcher Bindung heraus getan. Luther sagt nicht nur „die Gedanken sind zollfrei“, sondern auch „die Seele steht nicht unter des Kaisers Gewalt“ – ja „es gebührt Luzifer nicht neben Gott zu sitzen“. Er scheut sich nicht zur Gehorsamsverweigerung aufzurufen, wenn Herzog Georg das N.T. beschlagnahmen läßt: „nicht ein Blettlin“ darf der Christ hergeben.

Oder „sein Henker mag der Christ gnädigen Herrn heißen, sofern sie ihr Handwerk nicht zu weit treiben u[nd] aus Henkern Christen werden wollen.“

Die Staatskirche im strengen Sinndes Begriffs ist unannehmbar; mit der nach protestantischen, nachlutherischen Entwicklung können wir nicht einig sein. Die Staatskirche Louis XIV. ist das erschütterndste Beispiel dieser inneren Unmöglichkeit.

Am Protest, Kampf u[nd] Leiden der Hugenottenkirche läßt sich zugleich die freie Unterscheidungsliniedes rechten u[nd] des falschen christlichen Widerstands gegen staatl[ichen] Druck aufzeigen.

Nach der ausgezeichneten Schilderung Gambos ballt sich das in einer entscheidenden Nacht im Schlosse Chatillon 1562 im Hause des Admirals Coligny zusammen, wo der Hugenottenführer nicht mehr die genaue christliche Frage stellt, ob Selbsthilfe, Revolution erlaubt sei, sondern wie die Chancen des Krieges erwogen werden.

Daraus folgen die Religionskriege, die Frankreichs bestes Blut kosteten 1562-1598 – 36 Jahre lang.

Calwin hatte kurz vorher geschrieben „der 1. Tropfen Blut, den unsere Leute vergießen, werden Ströme Bluts hervorrufen, die ganz Europa überschwemmen.“

In der letzten Ausgabe der Institutio 1536 wurde den Protest[anten] erlaubt pro efficio intercedere; die französische Übertragung 1560 sagt s’opposer et résister. Freilich darf man nicht übersehen, daß die Hugenottennicht mehr nur selbst überzeugt waren, sondern auch juristischeGründe hatten, ihren Kampf als „legitim pour le roi contre les Gnises“ anzusehen. Doch muß man mit Chambon sagen (S. 58): „Die Protest[anten] verlassen mit ihrer blutigen Selbsthilfe das christl[iche] Terrain des Sieges. Sie verzichteten auf die wenigen christl[ichen] Kampfmittel des Bekenntnisses u[nd] der Lebensbereitschaft.“

Kampf durch Protest, Verkündigung, Bekenntnis, Zeugnis, Leiden – das sind die Wege des Christen (nach Acta 4 u[nd] 5) um Gottes u[nd] des Volkes willen „wenn Luzifer sich neben Gott setzen will“, wenn der Staat seine säkulare Religion neben oder über Gottes Recht setzt, wenn er im Ernst seine Absolutheit(9) auszusprechen wagt. 

Der 11. Satz scheint eine für den Bibelgläubigen selbstverständliche Wahrheit auszusprechen. Doch liegt uns daran, daß diese Wahrheit nicht abstrakt bleibe, der Universalismusnicht nur eine Theoriesei:

  1. Tatsächlich beschränkt die gemeinhinausgesprochene Vaterlandsliebe oft genug den Blick des Christen allzu sehr. Wiederum weiß die rechte Liebe zum eigenen Volk um seine Schranken, Fehler, Verwirrungen. Die Grenze ist peinlich zu beachten, wo der berechtigte Nationalstolz zum Nationaldünklwird („am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“) die erschütternde Ahnungslosigkeit u[nd] Lieblosigkeit gegenüber den anderen Völkern ist gewiß nicht christlich. So gewißGal 3,28 u[nd] Eph. 4,6 die Kirche nennen(u[nd] nicht die Welt), so sicher scheint nur, daß der Christ das auf seine Mitchristen in anderen Rassen, anderen Völkern anzuwenden hat. Das Gleichnis vom Brückenbau mag hier seine Stelle haben u[nd] die unité chrétienne evang[elischer] Pastor Rambauds(Verdun7.-9.II.1938) ist ein eminentchristl[iches] Anliegen. Das praktische Interesse an der „Freundschaftsarbeit der Kirchen“ die Mitarbeit an ökumenischen Bestrebungen wollen wir lieber nicht verachten.
  2. Rassenhaß im Sinn des Antisemitismus ist ausgeschlossen. Die Gefährlichkeit der Verallgemeinerung des Arierparagraphen darf nicht übersehen werden. Man mag um des gesunden Widerstandes gegen zersetzende Einflüsse des Judentums willen solche Warnung eine Zeitlang zurückstellen; gerade um des Volkes willen aber darf sie nicht vergessen werden, auf daß nicht Wahrheit u[nd] Gerechtigkeit not leide.

 

IV.

Damit soll nun die Grenze der Gehorsamspflicht des Christen gerade im nat[ional] soz[ialistischen] Staat gezeigt sein u[nd] der ernste Konflikt, der für den Christen entsteht, in gar keiner Weise beschönigt oder verhüllt sein. Der Konflikt entsteht eben nicht nur in gewissen Auswüchsenoder Überspanntheiten, sondern am Grundansatz der nat[ional] soz[ialistischen] Weltanschauung u[nd] an ihrem Totalitätsanspruch.

Darum kann die praktische Betätigung des deutschen Christen heute nicht ohne ernste Hemmungen, nicht ohne kritischen Protest geschehen u[nd] es wird die Frage sein, ob der Staat auf einen so ungeschränkten Gehorsam Wert legt. Doch möchten wir uns leidenschaftlich dagegen verwehren, daß solche Kritik aus politischem Ressentiment oder gar aus Lieblosigkeit gegenüber den einzelnen Trägern der Staatsgewalt stamme. Vielmehr kommt sie aus der Sorge um das wahre Wohl der Nation. 

12. Die Gefahr allzu stark passiver Haltung mag unter solchen Umständen groß sein, für noch größer halte ich die Gefahr unerlaubter Aktivität, die den einzelnen Christen aus Gedankenlosigkeit oder Feigheit in Dinge hineinschlittern läßt, die er nicht mitmachen darf. Freilich ist es eine ernste Verantwortung, was zu tun sei, wenn der seinen Beruf u[nd] sein Amt christlich begründende Bürger nicht gehört, nicht beachtet wird. Soll er zum grollenden Rückzug sich entschließen oder soll er der physischen Gewalt sich eben schließlich doch fügen?

Es scheint nur, der Christ müsse das politische Mißtrauen, das seinem aus Glaubensgründen gewonnenen Standpunkt entgegengebracht wird, tapfer tragen. Der Beweis für seine Glaubwürdigkeit liegt nicht in einem Widerstand, der eine Zeit lang dauert u[nd] dann doch zerbricht, sondern allen Ernstes in der Bereitschaft zum Äußersten. Wir wollen gewiß vorsichtig davon reden. Gewiß nicht anderen zumuten, was wir selbst nicht leisten können. Aber wir müßten doch wohl festbleiben,auch gegenüber drohenden Folgen, z.B. in der Abwehr der Zumutung als „Amtsverwalter“ die sog[enannte] nat[ional]-soz[ialistische] Weltanschauung zu tragen, in der Sonntagsfrage, in der Jugendfrage.

Die Mitarbeit „um der Liebe zum Volk willen“ besteht hier wohl in entschlossener Nichtbeteiligung. 

13. Zur schwersten Not wird für den Christen die Teilnahme am Krieg. Sie wird ihm erleichtert, wenn er das Bewußtsein haben kann, „zur Wiederherstellung der zerbrochenen Gemeinschaft unter den Völkern“ zum Kampf „um den Frieden“ in den Dienst seiner Nächsten (Volk) gestellt zu sein. Ob die innere Not, die ihm die Beteiligung am Zerstörungswerk bereitet, durch die Freude an den außerordentlichen Gelegenheiten, seine Opferbereitschaft u[nd] Dienstwilligkeit mit schlichter Freude zu beweisen, die der Kriegs- und Wehrdienst zweifellos bringt, vollständig überdeckt werden darf, scheint mir fraglich. Doch muß gerade hier das Urteil über anderer Gewissen streng verboten bleiben.

Andererseits sollte die Christenheit 1. nie vergessen zu sagen, daß die „ultima ratio der Kriege“ eine Folge des Abfalls der Menschheit von Gott ist. Und 2. immer ihre 1. Aufgabe im „Friedenstiften“ erblicken. (Mth.5,9) 

14. Die Wahrheit ist göttliche Gabe u[nd] göttliche Forderung. Wir sind deshalb nicht von der Wahrheitsfrage im Volksleben dispensiert oder desinteressiert. Der Christ kann deshalb nicht zur öffentlichen Lüge, Rechtsverdrehung, Übertreibung, Verschweigung schweigen, auch nicht um des Einschub: angebl[ichen völkischen Nutzens willen: Das Volk oder der Staats ist nie Quelle des Rechts u[nd] der Wahrheit. Historische Verzeichnungen sind so unerlaubt u[nd] gefährlich Einschub: wie einst die Unterdrückungder naturwissenschaftlichen Forschung Gegenüber dem Kultritual weiß der Christ um die Nachtseiteder Technik, gegenüber allem neuen Fortschrittsglauben muß er einfachen Tatsachen der menschlichen Unvollkommenheit u[nd] Vergänglichkeit bezeugen.(10) 

15. Zur Eidesfrage: Der Untertanen- oder Huldigungseid im früheren Sinn ist auch heute möglich, da der König wie der Führer seine Macht von „Gottes Gnaden“ hat. Wenn er das freilich nicht weiß oder nicht wissen will, muß er deutlich gefragt werden. Wenn ein Treuegelöbnis von christlichen Amtsträgern als freiwillige Bekundung erwartet wird, ist der Begrenzung jeder irdischenBindung vollends deutlich zu bezeugen. (Röm. 13; Mth. 22,21). Die B[erg]pr[edigt] bleibt hier außer Betracht, da es sich Mt.5, 33-34 in der Tat um den Privatverkehr der Christen untereinander handelt. Auf die Einschub: relative „Berechtigung“ des Eids könnte sogar Mt5,32 hinweisen (parallel Mt 19,8). Vom Mißbrauch her kommt das Recht zur Ablehnung (trotz Bengel) nicht.

Der Dienst, den der Christ als seinem Volk verbundener, gehorsamer Staatsbürger leisten kann, aber leisten soll u[nd] muß ist die Bezeugung des Evangeliums.

 

4: Nach dem Krieg

LKA, A 29, Pfarramt Breitenholz: Pfarrbericht zur Visitation im Juni 1948 (18. und 20.6.1948)

 

Es war der 1. Mobilmachungstag, als ich i[m] J[ahr] 1939 hier aufzog. Auf dem Bahnhof angekommen, sah ich dort den ergreifenden Abschied eines jungen Ehemanns von seiner noch jüngeren Frau und ihrem 3jährigen Söhnchen. – Der Schatten des Krieges, der vor allem über allem und nach allem Tränen und Leid bedeutet – das war mein erster Eindruck von Breitenholz. Und hatte doch in China (meine Ankunft dort i[m] Jahr der chines[ischen] Revolution) Unruhe und Kriege aller Art schon genug und übergenug kennen gelernt.

Wir machten hier in den ersten Wochen unsere Antrittsbesuche. Auch beim Bürgermeister und Zellenleiter. Diese beiden haben jedoch den Besuch nicht erwidert. Bald wurde klar, dass die Spannung zwischen Partei und Kirche die Ursache war. Die Kirche war damals schon nur geduldet. Geschätzt nur noch insoweit, als sie sich vor den Wagen des herrschenden Regimes spannen ließ. So legte sich über den Schatten des Krieges der noch dunklere Schatten einer Tyrannis. Und ich hatte doch Kopf und Herz noch voll von dem Einpartei-System der chines[ischen] Kuomintang und ihrer nationalistischen Ideologie.

Parteiideologie hier oder in China. Nationalsozialismus dort oder hier –: Die Krankheit heißt Nationalsozialismus – es ist eine Weltkrankheit. Wußte ich das schon von China her, so kam hier die neue Erkenntnis dazu: der deutsche Nationalsozialismus ist eine Krankheit zum Tod. Und die Virulenz seiner Erreger ist so stark, dass nicht nur der Patient dran sterben, sondern alles krank werden muß, was in ihren Wirkungskreis hineinkommt. So krankte und litt ich denn die ganze Zeit über unter diesem Gift. Und mein Leben in China, selbst der halbjährige Aufenthalt unter den Räubern, scheint mir ein Ferienaufenthalt gewesen zu sein gegenüber dem Leben in der heimatlichen kranken Umwelt. 

Doch das Ernsteste und Schwerste war nicht der Eifer oder Fanatismus oder Totalitarismus oder Tyrannis des Regimes. Das alles läßt sich ja irgendwie begreifen unter der Kategorie des Dämonischen, oder schon mit Hilfe der einfachen Losung, die Göbbels liebte: „Bist du eine Hure, so sei’s auch recht!“ Viel unbegreiflicher, viel erstaunlicher, bedrückender und erschreckender war die passive Willigkeit die gefügige Passivität, mit der die nazistische Ideologie aufgenommen wurde. Unter der bezaubernden Wirkung der Propaganda, unter der bedrohenden Wucht der Terroristen, unter der verführerischen Utopie eines zu erhoffenden Enderfolgs. Die ethisch-religiösen Maxime früherer Zeit waren dadurch außer Kurs gesetzt. Humanitär-kirchliche Ideale der Verachtung preisgegeben. Und wer dem nicht freudig zustimmen wollte, der schwieg und fügte sich, weil das Schweigen und Sichfügen und der Kompromiß von dem herrschenden Regime akzeptiert wurde. Zwar eingestandenermaßen nur bis zur Erreichung des vollen Erfolgs; haargenau so wie in China vom J[ahr] 1918 an. Dort unter national-kommunistisch-weltbürgerlichen, hier unter nazistisch-nationalen Vorzeichen, aber man konnte sich damit vor vielen Unannehmlichkeiten schützen. Der Schluß liegt nahe: Das alles konnte nur geschehen, weil die Leute politisch, wirtschaftlich, sozial sowohl als ethisch, religiös, christlich, kirchlich, Kindern gleichen, die kein eigenes Urteil hatten und nicht haben konnten. Es fehlt nicht nur der Weitblick sondern auch der Einblick, nicht nur der Einblick sondern der Durchblick und der Fernblick. Es ist da kein zum Bewußtsein gekommenes Denken und Wollen, ist ein passiv-dumpfes Dahinleben. Nur da, wo religiöse Motivkräfte mit im Spiele sind, fehlt es nicht ganz an einigem Fernblick. Doch überspringt dieser Fernblick nur allzu oft die Wirklichkeit durch eine kurzschlüssige Sehnsucht nach dem besseren Jenseits, od[er] durch eine vereinfachte Hoffnung auf d[ie] Wiederkunft Jesu.

Unter diesen Umständen bot sich der Kompromiß immer wieder als die beste Lösung und der sicherste Weg an. Mein Kirchenpfleger, Leiter der Hahn’schen Gemeinschaft und langjähriger Bezirksabgeordneter beim Landeskirchentag, ging diesen Weg und führte andre mit sich auf diesem Weg. Der Zellenleiter offerierte: Sie sagen nichts gegen die Politik – gegen unsre Politik, und ich sage und tue nichts gegen Kirche und Gemeinschaft. Mein Kirchenpfleger lehnte es tapfer ab, in die Partei einzutreten – das ist ein kleiner Schönheitsfehler in seinem Kompromiß; der Zellenleiter enthielt sich auch nicht ganz etwaiger Eingriffe – das schien eine berechtigte Kompensation zu sein. So funktionierte der Kompromiß nicht schlecht: Der Kirchenpfleger ermunterte zu reichlichen Gaben für die Sammlungen, weil das einen guten Eindruck mache; der Zellenleiter schickte seine Gemahlin in die Trauergottesdienste, und diese Teilnahme (keineswegs nur eine Bespitzelung) machte auch einen guten Eindruck. So wurde dieser Kompromiß zu einem modus vivendi – : der Weg zum Leben. Und, das lag in der Konsequenz dieses Kompromisses, nach dem Zusammenbruch sammelte mein Kirchenpfleger Unterschriften für den Zellenleiter, die zum Beweis seiner Unschuld helfen durften.

Mir selbst stand der Weg in den Abgrund von Anfang an deutlich vor Augen, und schon dies allein wäre ein hinlänglicher Grund gewesen, den Kompromiß zu meiden. aber wie hätte ich gar Botschafter an Christi Statt sein können, wenn ich diesen Weg gegangen wäre? Und so kam es denn, dass ich im Bewußtsein einer höheren Verantwortlichkeit zur Ablehnung des Kompromisses geführt wurde. Und das konnte nicht verborgen bleiben. Vor allem bei den Festgottesdiensten und Bußtagen (diesen Kulminationspunkten des kirchlichen Lebens), auch bei den Trauergottesdiensten und anderer Gelegenheiten, mußte das deutlich zum Ausdruck kommen. Und als nach dem Zusammenbruch unsere Aktivisten, Terroristen und Nutznießer noch nicht kurz treten wollen, wurde aus meiner Ablehnung des Kompromisses eine Auflehnung und Empörung gegen den verstockten Nazismus. Mit dem bedauerlichen Ergebnis, dass ich darob mit meinem Kirchenpfleger, der Politik und Kirche säuberlich getrennt halten wollte, in einen chronischen Konflikt kam, der zuweilen in ein akutes Stadium eintrat.

Einige Beispiele, an denen meine Haltung offenbar wurde: Die jeweiligen Erlasse des Oberkirchenrats zu den aktuellen Zeitfragen waren nicht beliebt und führten vonseiten sic der politischen Führung zu mehr oder weniger scharfen Gegenreaktionen. Es wurde mir nahe gelegt, diese Erlasse nicht vorzulesen. Dazu konnte ich mich jedoch nicht entschließen. – Gebete für den Führer habe ich selten gesprochen, wo es unumgänglich nötig zu sein schien, nur in einer irgendwie modifizierten, gebrochenen Form. – Gelegentlich wurde gefordert, in Trauergottesdiensten nicht von unsern Sünden zu sprechen, aber ich war nicht wendig genug, das ganz zu vermeiden. – Bei einem der Trauergottesdienste, für den der Denkspruch des Gefallenen „betet ohne Unterlaß“ als Text gewünscht wurde, erwähnte ich den Brief Mölders an seinen Bischof. Die Folge war neben anderem ein Verhör durch die Gestapo. Solches alles war für die friedeliebenden Bürger und Kirchenmitglieder irgendwie beunruhigend. Und nach dem Zusammenbruch, als die Frage auftauchte: „Kann man denn jetzt noch einen Trauergottesdienst halten?“ antwortete ich beim ersten Anlaß: Warum nicht? Trotzdem! Nun erst recht!“ Ich gab mich dabei der Hoffnung hin, unser Volk wäre nun bereit, sich über die Vergangenheit einer gründlichen Selbstprüfung zu unterwerfen. Aber vor allem bei den Trauergottesdiensten zeigte es sich, dass das Volk, auch die christliche Gemeinde, sich nur schwer lösen konnte von dem nazistischen Wahn der vorhergehenden Jahre. Die Leute wollten und wollen in ihrer Trauer irgendwie gehätschelt und gestreichelt werden für den Heldentod ihrer Söhne. Der Blick in die Tiefen des Wahnsinns und der Gottlosigkeit dieser Kriege ist für sie etwas Schreckliches, das einem deshalb nicht zugemutet werden darf. Es wird vom Pfarrer erwartet, dass er seinem evangelischen Trostwort auch einige Tropfen jenes Opiums beimischt, das aus der nationalistisch-religiösen Apotheke stammt. Bezeichnend dafür ist das Eiserne Kreuz, verbunden mit dem Bibelwort „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“, das nach dem Vorbild einer anderen Gemeinde auch für unsre hiesige Gedenktafel gefordert wurde. Natürlich darf und soll das christliche Trostwort nicht fehlen. Vor allem darf die beseligende Aussicht auf ein Wiedersehen nicht fehlen. „Sehn wir uns wohl einmal wieder? ... Ja gewiss, wir sehn uns wieder“ (Dölker) ist eines der beliebtesten Trauer- und Trostlieder. Dass die Krone des Lebens und ein seliges Wiedersehen nur von bussfertigen, begnadeten, erlösten Christenmenschen erhofft werden kann, dass somit das Kreuz Jesu die Quelle des Trostes und der Hoffnung ist – das wird wohl auch bejaht und geglaubt, wie irgend eine andere angelernte Katechismuswahrheit; aber die Prämissen und Konsequenzen dieser Wahrheit werden neutralisiert durch einen politisch-nationalistisch-religiösen Synkretismus, der in seinen konstitutiven Elementen ganz und gar dieser Welt angehört – dieser unserer machtgläubigen, kriegslustigen, annektionslüsternen deutschen Welt, die keine Reue kennt und keine Buße und keine Umkehr, sondern nur Bedauern über den mißlungenen Versuch und die den Versuch wiederholen würde, wenn sie nicht von den (gewiss auch nicht schuldlosen) Siegern an unzerreißbare Ketten gelegt würde.

Gewiss: das gilt nicht von allen Deutschen, auch keineswegs von allen Christen. Es ist jedoch eine erschreckliche hohe Zahl von Christen, die nicht etwa nur in der Vorkriegszeit (wo man das Ende vielleicht noch nicht so deutlich sehen konnte), auch nicht nur während der Kriegszeit (in der es zugegebenermaßen nicht leicht war, umzuschalten), sondern auch noch nach dem Zusammenbruch versagt haben. Und dieses Versagen ist wohl schlimmer als der militärische Zusammenbruch – : dieses Hängenbleiben, an unsrem vermeintlichen Recht. Diese hellen Augen für Splitter der andern. Diese Blindheit für seine eignen Balken. Dieses Verharren in der Ungerechtigkeit. Und nun auch schon die Drohung mit Vergeltung gegen diejenigen, die den Irrweg erkennen, die umkehren und den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit gehen wollen. Davon wurden die rechtlich denkenden Leute schwer getroffen, sowohl kirchliche als außerkirchliche Kreise. Das Vertrauen in die Gerechtigkeit wurde ihnen erschüttert. Ernst Wiechert hat das in einem weit bekannt gewordenen Brief ausgesprochen: „Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Seine Frage ist in ihrem ganzen Ernst vielleicht noch nicht recht erkannt. Sie ist jedoch nicht weniger als der Ausdruck einer konkreten Wirklichkeit. Auch in unsrem Dorf hätte es genügt, die wenigen wirklichen Schuldigen kalt zu stellen – man hätte diese weder um ihr täglich Brot bringen, noch irgend eine schwere Strafe ihnen auferlegen müssen. Sie waren ja selbst auch irgendwie gezwungen – verführt und gewalttätig, herrschsüchtig und gewinnsüchtig nur, weil die ihnen übergeordneten Amts- und Würdenträger, das alles vormachten, und es hätte genügt, diese armen verführten Menschen kalt zu stellen – : außer Funktion zu setzen, sie nötigenfalls für einige Zeit in ein Arbeitlager zu stecken. Damit schon wäre aller Gerechtigkeit Genüge getan gewesen. Und nach wenigen Wochen oder Monaten wären sie ernüchtert zurückgekehrt – falls das nicht eine allzu optimistische Hoffnung ist. Aber: mehr als optimistisch war das, was faktisch geschah, dass nämlich wohlmeinende Christenmenschen und Kirchengemeinderäte und Stundenleute sich für die Unschuld notorischer Aktivisten, Terroristen und Nutznießer eingesetzt haben, dass auch mein eigner Vorgänger (also ein Pfarrer) sich daran beteiligte, das ist es, was bei denen, die in all den Jahren durchgehalten haben und die sich unter der Zeit der Regime-Herrschaft alle Schande gefallen lassen mußten und sich gefallen ließen, in der Hoffnung, der Krug werde auf dem Weg zum Brunnen doch eines Tags zerbrechen – das ist es, was die Frage weckt: „Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Und i[n] d[er] T[at] ist das Ausbleiben dieser allgemein bürgerlichen Gerechtigkeit der Anfang des moralischen Bankrotts. Einer unsrer chines. Pfarrer hat einmal von einer unväterlichen Vatergüte, von einer würdelosen Väterlichkeit geredet und davor gewarnt: dass der Vater (des Gleichnisses) seine Vergebung und Barmherzigkeit und Liebe dem verlornen Sohn nachträgt – hinaus an den Schweinetrog, so dass also der Sohn nicht in sich gehen und nicht heimkehren muß. Luther ist wohl auch dieser Meinung gewesen: „Zu der brüderlichen Vergebung gehört auch, dass der Bruder, dem ich vergeben will, seine Fehler bekenne, denn die Sünde, welche nicht bekannt wird, kann nicht vergeben werden“. Und auch das ist offenkundig, dass selbst Jesu Bitte: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ nicht verwirklicht werden konnte, will sagen, dass Gott diese Bitte nicht erhören konnte – deshalb, weil das Volk, für das Jesus seine Bitte gesprochen hatte, nicht Buße tat. Und das Christentum ist deshalb eine ethische Religion, weil es keine Vergebung kennt, ohne Reue und Buße, ohne Sündenerkenntnis, Sündenbekenntnis. Es sind ganz und gar zweierlei Dinge: bereit sein zu geben – etwa auch bereit sein zu einer Zeit, da die Schuld noch nicht bekannt ist, oder aber die Vergebung zusagen, bevor die Schuld erkannt und bereut ist. Hier droht die Gefahr einer moralischen Knochenerweichung, die aus irgend welchen Erwägungen heraus, dem Kranken erspart, sich in die Behandlung des Arztes zu begeben. Mit dem Ergebnis, dass der Patient krank bleibt und kränker wird und schließlich an seiner Krankheit stirbt. Wenn hier Vergebung und Gnade nicht einfach den Säuen vor die Füße geworfen wird, so handelt es sich dabei keineswegs um Vergeltung und gar um Rache. Das ist eine bequeme Ausrede und fußt bestenfalls auf einer sentimentalen  Frömmigkeit oder oberflächlichen Theologie. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Die offenkundige Folge eines solchen Angebots ist die, dass die Schuldigen meinen, sie bräuchten nicht umzukehren, im Gegenteil es wagen, den Stil umzukehren, und ihrerseits zu Drohungen greifen, nach der Weise der sattsam bekannten Einschüchterungsversuche. Und die weitere Folge ist die, dass die moralisch denkenden, die rechtlich empfindenden Menschen das Vertrauen zur Gerechtigkeit verlieren und irre werden an dem ethischen Gehalt und Willen der christlichen Botschaft. Ein schlimmerer Schaden konnte dem Volk und der Kirche nicht zugefügt werden. Und, wie ich beifüge, die Anti-Entnazifizierungsaktionen, von denen man zwar ruhig zugeben kann und muß und soll, dass sie oftmals berechtigt, ja nötig sein mögen, somit sehr wohl christlich-kirchliche Pflicht sein können, werden sich nur allzu leicht in diese Richtung auswirken, wenn nicht viel öfter und deutlicher gesagt wird, um was es dabei geht und um was es nicht geht. Es ist offenkundig, dass sich die „Dolchstoßlegende“ in allen denkbaren Variationen und schlauesten Tarnungen sich diese Oma-Opa-Theologie zunutze macht, ohne dass die Leute nach Gott und nach Gerechtigkeit fragen, und dass sie, auch wenn sie der Kirche sich irgendwie nähern, das nur aus konjunkturellen Erwägungen heraus tun. So aber kann es zu keiner Erneuerung des Volkes kommen. Was das für unser Volk an Folgen nach sich ziehen muß, ist in der „Wandlung“ 1948, Heft 2, S. 106 ff. S. 152 ff, in der „Neuen Zeitung“ vom 6. Juni 1948, S. 5 gesagt, früher schon von Karl Barth in fast prophetischer Weise, gesagt worden. Die konkreten Beispiele und Beweise dafür liefert das alltägliche Leben für jeden, der Ohren hat zu hören. Es ist jedoch eine fürchterliche Tragik, dass auch die evangelische Botschaft so mißdeutet werden kann, dass daraus eine Watte wird, die mithelfen kann, die Ohren zu verstopfen. Freilich: es ist ein Gebot der Wahrhaftigkeit, beizufügen, dass ich es als eine ebenso schwere Tragik empfinde, dass es mir nicht gelungen ist, den Ruf zur Umkehr und die Botschaft der Vergebung so zu verkünden, dass die Gewissen erweckt und die Hörer bereit wurden, den neuen Weg zu beschreiten. Ich versuche mich damit zu trösten, dass das auch einem Jeremia oder Jesus oder Stephanus und in der Folgezeit noch vielen anderen nicht oder nicht immer oder nur selten gelungen ist. Doch tröstlich ist das ja auch nicht.

Nun möchte ich versuchen, dieses schier endlose Thema zu verlassen und zunächst nur noch das sagen:

 

  1. Dass wir, nolens volens, Volkskirche sind, zeigt sich bei kirchlichen Handlungen, wie etwa bei der Konfirmation, bei Beerdigungen und Trauergottesdiensten besonders deutlich. Dabei ist klar, dass sehr wohl auch allerlei Gutes damit verbunden sein kann, ja soll und muß. Bieten solche gottesdienstliche Handlungen doch Anlaß genug, weiteste Volkskreise zu erreichen, nicht nur mit allgemein kirchlich gefärbten Reden, sondern mit der Botschaft des Evangeliums. Und ich möchte hoffe, es sei mir doch in den meisten Fällen möglich gewesen und gegeben worden, wirklich auch Evangelium zu verkünden, trotz all den Hemmungen, die sich bei mir einstellten.
  2. Meine Hemmungen wurden dort offenbar, wo Evangelium erwartet wurde, ohne den Ruf: „Tut Buße!“. Wo die Botschaft der Vergebung und Gnade erwartet wurde, ohne Erkenntnis der Sünde, ohne Reue und ohne Heimkehr zu dem Gott, den wir verlassen haben. Wo man sich dessen getröstet wollte, das die andern auch nicht besser seien, und wo man die Schuld der andern so genau kannte, jedoch seine eigne Schuld und Schande schon vergessen hatte.
  3. Meine Hoffnung, die christl[iche] Gemeinde könnte doch noch zur Erkenntnis, zur Umkehr und auf den neuen Weg kommen, erfüllte sich nicht in der Weise und Tiefe, wie ich es erwartet habe. Immer deutlicher wurde es, dass die Leute womöglich nichts mehr von diesen Irrwegen hören wollten. Und es entwickelte sich ein Gedächtnisschwund gegenüber den Tagen der Vergangenheit, der vielleicht für einen Psychologen halbwegs erklärlich, für mich als einen gewöhnlichen Menschen unfaßlich ist. Je und dann wurde auch gesagt, es sei heute leicht und ungefährlich gewesen. Da brach mir beim letzten Trauergottesdienst der Damm: ... „Man kann keinen Trauergottesdienst halten, ohne vom Krieg zu reden. Wenn man aber vom Krieg redet, dann muß man als Christenmensch gegen den Krieg reden. Doch wenn ich gegen den Krieg und was sonst damit zusammenhängt rede, dann gibt es Leute, die sagen, jetzt sei das ungefährlich. Und damit hat Ihr recht. Doch habe ich auch zu jener Zeit, da es gefährlich war, nicht anders geredet. Deshalb wurde ich doch angeklagt. Wurde vom Zellenleiter auf sein Amtszimmer zitiert. Wurde von dem Kriminalkommissar der Geheimen Staatspolizei verhört –: doch nur, weil es damals schon bekannt war, wo ich stehe, wie ich denke. Und somit müßte ich doch berechtigt sein, auch heute noch zu sagen, was nicht recht war und was anders werden muß, und müßte das sagen dürfen, obwohl es heute tatsächlich nicht mehr gefährlich ist ...“. Das war wie eine Explosion, wie eine Eruption, bei der alles das zusammenwirkte, was ich in all diesen Jahren erlitten habe, und mit dem ich innerlich nicht fertig war, auch der Kampf um und gegen die oben erwähnte Gedenktafel mag mitgewirkt haben, obwohl ich das nicht erwähnte. Aber – bei aller subjektiven Berechtigung – es war kein gutes Wort, kein Wort für diese Stunde. Es verstopfte den Leuten die Ohren für das, was ich auf Grund des Evangeliums und Textes den Trauernden sagen wollte; es verärgerte die Nazis und wurde auch von den Anti-Nazis als ungeschickt empfunden; auch ich selbst war unbefriedigt und kann nur sagen, es sei das eine mißglückte Ansprache gewesen, die nicht heidnische als christliche Freude daran hatten, und dass ich mich selbst nachträglich mehr schuldig als befriedigt fühlte.- Stephanus ist fast zu beneiden, dass ihn seine Hörer steinigten. Damit war seine Schuld gesühnt.
  4. Die Immoralität der Regimezeit, der ungerechte Krieg, die verbrecherischen Taten, der Zusammenbruch, die heutige Volksnot, die Fehler und Mißgriffe der Besatzungsmächte, der Nihilismus der Enttäuschten, die religiöse Krisis, in der auch die Kirche steht und was sonst noch alles dazu gehört, stellen uns im Religionsunterricht und in der Wortverkündigung vor Aufgaben, die schwerer zu sein scheinen als alles, was die Propheten des Alten Bundes oder die Prediger des Dreißigjährigen Krieges, oder die chines[ische] Kirche zur Zeit der antichristlichen Bewegung vor sich hatten. Der Kernpunkt des ganzen Problems scheint mir die Unbußfertigkeit des Volkes zu sein. Ich zweifle manchmal, ob Gott uns wieder eine Zeit schenken kann, in der die Grundforderungen unsres christlichen Glaubens: Wahrheit, Gerechtigkeit und Agape wieder gehört und aufgenommen werden, und ob wir als Volk, und wenn das schon ganz unmöglich sein sollte, wenigstens als christliche Kirche wieder zu echter Gottesfurcht zurückfinden und im Raum der Kirche wieder Gemeinde werden, die ihre gliedhafte Verbundenheit mit dem Herrn der Kirche erkennt und entsprechend lebt? Ohne das scheint mir die ganze Reichsgotteshoffnung in der Luft zu hängen und die Verkündigung der Reichsgotteshoffnung ein mehr oder weniger frommer Betrieb zu sein. Oder werden wir von der Reichsgotteshoffnung her den Weg zu einem neuen Leben finden? So wars wohl bei der ersten Christenheit. Aber auch dieser Reichsgotteshoffnung, die damals vorhanden war, ist die Skepsis dieser letzten bösen Zeit hineingezogen, nur wird man kaum sagen dürfen, dies gehe alles aufs Konto des Nationalsozialismus.
  5. Die Re-Nazifizierung zählt auch zu den Faktoren, die unsre heutige geistig-ungeistige Lage mitbestimmen. Was immer auch ihre Ursachen sein mögen, so wird man sich doch fragen müssen, ob die Kirche daran irgendwie mitbeteiligt also mitschuldig ist. Ich wage das nicht zu behaupten, bin jedoch auch nicht ganz frei von der Furcht, wir hätten als Kirche vielleicht doch nicht das getan, was wir hätten tun können und sollen. Ich denke vor allem an das Stuttgarter Schuldbekenntnis. So sehr ich ihm inhaltlich auch zustimme, so scheint es mir doch, es sei für die einfachen Leute zu allgemein, zu summarisch gehalten, stehe auf einem geistig-geistlichen Niveau, das den gewöhnlichen Christenmenschen nicht deutlich genug anspricht. Es scheint mir zuweilen, die Kirche hätte einen begründeten, erklärenden Kommentar dazu geben müssen und dies in ganz volkstümlicher Form. Darin hätten die Hauptursachen, die zum Krieg führten, die Hauptverbrechen, von den Wortbrüchen an bis zu den Vernichtungsplänen und Weltbeherrschungszielen genannt werden können – immer mit einfachen konkreten Belegen. Vielleicht hätten auch die Mißgriffe, Fehler und Vergehen der Sieger, vor allem während und nach der Besetzung genannt werden können. Wenn nur deutlich gemacht worden wäre, dass die primären Ursachen wesentlich bei uns liegen. Aber unsre Schuld und Schande hätte ausgesprochen werden müssen, zumal ja weite Kreise des Volkes, wenigstens der Bauernbevölkerung, die wichtigsten Tatsachen nicht oder nicht genügend kennt. Man muß vor allem bedenken, dass die vielen Radiogeräte, die sich auch die Bauern angeschafft hatten und die einst mithalfen, die nazistische Ideologie dem Volk einzupauken, von der Besatzungsmacht und von mehr oder weniger räuberischen Horden, dem Volk weggenommen wurden; dass man dann lange Zeit keine Tageszeitung mehr hatte, dass das Volk schließlich den Zeitungen keinen Glauben schenkte; dass dann in den Zeitungen die Parteien-Propaganda wichtiger wurde als sachliche Aufklärung; dass schließlich fast niemand mehr Lust hatte, den „Parteienquatsch“ zu lesen – : woher sollten da die Leute erfahren, was geschehen war und wie sollten sie zur Einsicht über das kommen, was nötig ist? Ein Beispiel für viele: Es wird heute jener Flüsterpropaganda weithin Glauben geschenkt, die Amerikaner und Engländer hätten verbrecherische Handlungen begangen, damit, dass sie unsre Städte zusammenschlugen, aber von der Drohung des damaligen Führers: „Ich werde ihre Städte ausradieren!“ wissen die Leute nichts, habens entweder vergessen, oder stecken sie noch in dem Wahn jeder Zeit, das wäre für uns irgendwie berechtigt gewesen. Sollte nun die Immoralität unsres Volkes wirklich so ganz hoffnungslos sein, dass nicht wenigstens der bessere Teil für sachliche Aufklärung zu haben wäre? Trotz allem Pessimismus wird man das doch nicht annehmen müssen! Ich glaube, es war eines der großen Versäumnisse der Kirche, aller Kirchen, dass sie nicht zuallererst darauf bedacht waren, ihre Mitglieder aufzuklären und für eine christliche Beurteilung der Vergangenheit und der Gegenwart zu erziehen. Sie hätte dazu einer Tages- oder Wochenzeitung bedurft, die allem andern selbst den Sonntagsblättern und Bibeln hätte vorangehen müssen. Mindestens hätte der oben angedeutete Kommentar und einige nachfolgende Kleinschriften als leitendes und führendes Wort der Kirche in Massenauflagen ins Volks geworfen werden müssen. Das, was faktisch getan wurde, kam, wenigstens auf dem Land, nicht zur Wirkung, reichte auch inhaltlich nicht an das heran, was nötig war. Statt dessen haben wir jetzt einen verwirrenden Blätterwald, der kirchlich oder außerkirchlich oder unkirchlich oder antikirchlich, weit-weit von dem entfernt ist, was erforderlich wäre. Das meine ich, sollte man sagen dürfen, auch wenn man keineswegs der Meinung ist, das gedruckte Wort sei ein, sei das Heilmittel für all unsre Not. – Unaufgeklärt, fürchte ich, schlittre das Volk in eine Re-Nazifizierungspsychose hinein, die sich aus solch trüben Quellen nährt, die einst die Dolchstoßlegende und alles, was dazu gehört, gespeist hat.

 

 

Aktualisiert am: 15.04.2021