Absolutismus, Pietismus und Aufklärung

Inhaltsverzeichnis
  1. 1: Was ist Pietismus?
  2. 2: Württembergische (Kirchen-)Geschichte im Zeitalter des Pietismus
  3. 3: Anfänge und Widerstände, Anhänger und Gegner
  4. 4: Eigenarten des Pietismus in Württemberg
  5. 5: „D’ Schtond“
  6. 6: Große Pietisten – und Pietistinnen
  7. 7: Landeskirchlicher Pietismus
  8. 8: Radikaler, separatistischer Pietismus
  9. 9: Württembergischer Pietismus und …
  10. … Bibel
  11. … Juden
  12. … Technik
  13. … Tiere
  14. … Mission
  15. 10: (Nach-)Wirkungen
  16. 11: Pietismusforschung
  17. Anhang

1: Was ist Pietismus?

Johann Arndt, Kupferstich 1621

Der Pietismus war eine Frömmigkeitsbewegung im deutschen Protestantismus, eine Bewegung also, deren erstes Anliegen die Förderung von Frömmigkeit war. Der Pietismus hatte zwar auch Folgen für die Theologie und die Diakonie, dennoch war er keine theologische Bewegung und keine diakonische Bewegung.

Pietismus kommt von „pietas“. Das lateinische Wort bedeutet Frömmigkeit. Die ersten Pietisten, in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts, führten es häufig im Munde und wurden deshalb von Außenstehenden, insbesondere von Kritikern und Gegnern „Pietisten“ genannt oder, korrekter, beschimpft. Doch wie häufig in der Kirchengeschichte wurde aus der pejorativ konnotierten Fremdbezeichnung eine Selbstbezeichnung. Schon nach kurzer Zeit nannten sich die als Pietisten beschimpften selbst Pietisten.

Der Pietismus begann um das Jahr 1670 in Frankfurt am Mai, und der Pietisten-Begriff tauchte wenig später erstmals in Leipzig auf, wurde aber vermutlich auch in Frankfurt schon gebraucht.

Heute ist der Begriff Pietismus ein Begriff der historischen und kirchenhistorischen Forschung. Sie unterscheidet vielfach einen Pietismus im engeren Sinn und im weiteren Sinn. Die Betonung der Frömmigkeit findet sich schon vor dem Jahre 1670. Sie findet sich schon um das Jahr 1600 bei dem lutherischen Theologen Johann Arndt, der Kirchen leitend in Braunschweig und in Lüneburg wirkte. Von den Pietisten wurden seine Werke eifrig gelesen. Der Pietismus im weiteren Sinn, der pietistische Frömmigkeitsstil, beginnt also um das Jahr 1600 mit Arndt. Die eigentliche pietistische Bewegung beginnt jedoch erst 1670. Sie endet im ausgehenden 18. Jahrhundert. Gleichwohl gab es pietistische Frömmigkeit auch noch im 19. und im 20. Jahrhundert, und es gibt sie noch heute. Pietismus im weiteren Sinn gibt es also bis in die Gegenwart, auch in der Form neuer, an den alten Pietismus anknüpfender Frömmigkeitsbewegungen.

2: Württembergische (Kirchen-)Geschichte im Zeitalter des Pietismus

Im Zeitalter des Pietismus, das um 1670 beginnt und um 1800 endet, war Württemberg ein Herzogtum, zunächst regiert von einem lutherischen Landesherrn, von 1733 an allerdings von einem katholischen Landesherrn. Als Hauptstadt (Residenz) diente zunächst Stuttgart, im 18. Jahrhundert aber zunehmend das 1704 gegründete Ludwigsburg.

Das 17. und 18. Jahrhundert waren für Württemberg keine leichte Zeit. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges, der 1648 geendet hatte, waren noch lange zu spüren. Aber auch neue Kriege fanden statt. Mehrfach wurde das Land von französischen Truppen heimgesucht, so in den Jahren 1688 und 1707.

Als der erste katholische Herzog an die Macht kam, Karl Alexander, fürchteten die evangelischen Württemberger, der Landesherr könnte das Land wieder katholisch machen. Als Berater des Herzogs wirkte damals ein mächtiger und reicher Jude, Joseph Süß Oppenheimer. Zusammen mit dem Herzog versuchte er das Wirtschaftsleben des Landes zu modernisieren. Als der Herzog 1737 plötzlich starb, entlud sich der Hass und die Wut der Bevölkerung an „Jud Süß“. Ihm wurde der Prozess gemacht, und 1738 wurde er vor den Toren Stuttgarts auf grausame Weise hingerichtet und sein Leichnam zur Schau gestellt.

1789 kam es in Frankreich zur Revolution. Sie wirkte sich auch auf Württemberg aus. Zunächst beobachteten die Intellektuellen aufmerksam das Geschehen in Frankreich, einige mit Sympathie. In kirchlichen, besonders in pietistischen Kreisen überwog die Abneigung gegen die Revolution, insbesondere gegen deren Gewaltexzesse. Als 1798 Napoleon an die Macht kam und sich 1804 selbst zum Kaiser krönte, sahen in ihm nicht wenige den Antichrist. Doch zunächst wurde Württemberg in Kriege verwickelt, da von 1792 an verschiedene europäische Mächte gegen das revolutionäre Frankreich militärisch vorgingen.1796 schloss Württemberg einen Sonderfrieden mit der Französischen Republik. 1799 nahm Württemberg aber erneut am Krieg teil. 1802 wurde wieder Friede geschlossen, und 1803 wurde der seit 1797 regierende Herzog Friedrich II. Kurfürst und aus Altwürttemberg wurde Neuwürttemberg, ein deutlich vergrößerter Staat, in den mit französischer Hilfe verschiedene kleinere Nachbarterritorien und mit ihnen eine große Zahl von Katholiken integriert wurden. Neuwürttemberg, das Württemberg des 19. Jahrhunderts war nicht mehr rein evangelisch, sondern ein gemischtkonfessioneller Staat. Die kirchlichen Verhältnisse mussten völlig neu organisiert werden, und evangelische und katholische Christen mussten lernen, miteinander zu kooperieren. 1806 machte Württemberg noch einmal einen Schritt nach vorne, wieder unter Friedrich und wieder protegiert von Frankreich, und wurde Königreich. Auf König Friedrich I. folgte 1816 König Wilhelm I., eine prägende Gestalt, die bis 1864 regierte.

Im 19. Jahrhundert wandelte Württemberg also nachhaltig sein Gesicht. Aus dem Kleinstaat wurde ein großes Territorium, aus dem Herzogtum wurde ein Königtum, aus einem evangelischen wurde ein gemischtkonfessionelles Land. Und allmählich wandelte sich der Agrar- zum Industriestaat. Die württembergischen Pietisten begleiteten diese Entwicklung, konstruktiv, aber auch kritisch.

3: Anfänge und Widerstände, Anhänger und Gegner

Philipp Jakob Spener, Kupferstich

Die Anfänge des Pietismus verbinden sich mit dem Jahre 1670, sie verbinden sich mit Frankfurt am Main und sie verbinden sich mit dem jungen Pfarrer in Kirchen leitender Position Philipp Jakob Spener, der aus dem Elsass stammte und 1666 nach Frankfurt berufen worden war. Zunächst bildeten sich in Frankfurt pietistische Zirkel, in denen anfangs Erbauungsbücher und später die Bibel gelesen wurden. 1675 verfasste und veröffentlichte Spener einen Text, der zur Programmschrift des Pietismus werden sollte, die Pia desideria. Der Titel der Schrift war lateinisch, der Text selbst aber deutsch. Er enthielt ein kirchliches Reformprogramm, das rasch Resonanz fand. Spener forderte die stärkere Verbreitung des göttlichen Wortes durch biblische Lesungen in Gottesdiensten, durch privates Bibelstudium und durch Bibelgespräche in neu einzurichtenden Gemeindekreisen. Er forderte ferner die Verwirklichung des von Luther gewollten „allgemeinen Priestertums“, die praktische Ausrichtung des Christentums, vor allem auf die Nächstenliebe, den Abbau der innerchristlichen Streitigkeiten, Praxisorientierung im Theologiestudium sowie Predigten, die auf Gelehrsamkeit verzichten, aber den Glauben fördern.


Philipp Jakob Speners Schrift von 1675 "pia desideria" oder "herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche"

Spener fand rasch Anhänger in Württemberg. Einige Württemberger kannten ihn bereits, denn Spener hatte 1662 Tübingen besucht.

Zu den frühen Spener-Anhängern in Württemberg gehörten Johann Jakob Zimmermann in Bietigheim, Johann Andreas Hochstetter in Tübingen und Adam Gottlieb Weigen in Leonberg.

Uns heute muten die pietistischen Forderungen und die pietistischen Maßnahmen harmlos an. Im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert stifteten sie jedoch Unruhe. Es gab damals keine Meinungs- und keine Versammlungsfreiheit. Pietistische Versammlungen wurden vielerorts ebenso verboten wie pietistische Schriften und polizeilich verfolgt. Unter obrigkeitlichem Druck verließen viele Pietisten ihre Heimat und wanderten aus.

In Württemberg reagierten Kirche und Staat zunächst 1694 mit einem so genannten Pietistenedikt auf die „Pietisterey“, wie die neue Frömmigkeitsbewegung despektierlich genannt wurde. Es nahm vor allem das Theologiestudium in Tübingen in den Blick und gebot allen Studenten und Professoren, die Lehre weiterhin an der Heiligen Schrift und den evangelischen Bekenntnissen auszureichen. Verboten wurden „die Lehre von dem tausendjährigen Reich Christi hie auff Erden“ sowie die Lektüre der Bücher des Laientheologen Jakob Böhme. Deutlicher wurde ein weiteres Edikt im Jahre 1706. Es verlangte, pietistischen Separatisten Einhalt zu gebieten und untersagte das Abhalten von „conventicula“, also Erbauungsstunden, in Privathäusern.

Zu den württembergischen Pietisten, die ihre Heimat verließen, gehörte neben Zimmermann der Lehrer David Wendelin Spindler.


Johann Reinhard Hedinger, Kupferstich

Doch in der württembergischen Kirchenleitung gab es schon früh nicht nur Gegner des Pietismus, sondern auch vorsichtige Anhänger und Befürworter. Zu Letzteren zählten der schon erwähnte Hochstetter sowie Johann Reinhard Hedinger.

Allmählich gelang es dem Pietismus in der württembergischen Landeskirche Fuß zu fassen. 1743 regelte ein neues Edikt, das Pietistenreskript, den Status des Pietismus innerhalb der Kirche. Es erlaubte ausdrücklich pietistische Versammlungen, sofern sie nicht mehr als fünfzehn Personen umfassten und nicht nachts stattfänden.

4: Eigenarten des Pietismus in Württemberg

Der Pietismus in Württemberg hatte einen ausgesprochen kirchlichen, einen ausgesprochen biblischen und einen ausgesprochen eschatologischen Charakter.

Spener war ein Mann der Kirche und blieb ein Mann der Kirche. Die Anfänge des Pietismus waren kirchlich, innerkirchlich, aber schon früh separierten sich Männer und Frauen aus dem Umfeld Speners von der Kirche und bildeten eigene, selbstständige Gemeinden, Vorläufermodelle von Freikirchen, die es im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht geben konnte und durfte. In manchen Orten und Regionen gewann der Pietismus eine mehrheitlich separatistische Orientierung. Auch in Württemberg separierten sich einige von der Kirche, doch insgesamt blieb der Pietismus hier kirchlich. Die Pietisten hielten Verbindung mit der Kirche, und die Kirche hielt Verbindung mit dem Pietismus. In der Kirchenleitung waren Männer des Pietismus aktiv und traten in der Kirche für pietistische Interessen ein. Diese kirchliche Prägung gewann der württembergische Pietismus schon im frühen 18. Jahrhundert, und sie blieb ihm dauerhaft, bis heute, eigen.

Spener war ein biblisch orientierter Theologe, und der Pietismus war in seinen Anfängen bibelorientiert und bibelverbunden. Gleichwohl entwickelten sich auch Strömungen mit einer enthusiastischen Prägung. Männer und Frauen traten auf, die sich auf unmittelbare Eingebungen des göttlichen Geistes beriefen. Luther hätte sie „Schwärmer“ genannt. In Württemberg waren es der Sattler Johann Friedrich Rock und (zeitweise) der Arzt Johann Kayser. Aber in Württemberg waren solche Erscheinungen, anders als andernorts, eine Ausnahme. Der württembergische Pietismus war und blieb biblisch, und auch diese Eigenart ist ihm bis heute eigen.

Spener hatte auch eine eschatologische Orientierung, das heißt, er interessierte sich für und äußerte sich auch über Zukunftsfragen, wenn auch relativ verhalten. Was wird aus der Welt? Auch diese Frage beschäftigte die Pietisten. Die Theologen des 17. Jahrhunderts rechneten mit einem baldigen und dramatischen Ende der Welt und hatten keine Hoffnung, dass sich diese Welt der Sünde noch einmal ändern könne. Doch Spener hegte eine Hoffnung „besserer Zeiten“ – für die Kirche und die Welt. Daran knüpften die württembergischen Pietisten an, wenn sie eine besondere, und vergleichsweise lebhafte Reich-Gottes-Erwartung entwickelten, den Glauben an eine gute Zukunft dieser Welt, an eine Zeit des Glaubens, des Friedens und der Gerechtigkeit. In Anlehnung an die Johannesoffenbarung sprachen sie von dem tausendjährigen Reich, das Gott auf der Erde errichten werde und auf das man sich vorbereiten könne und müsse. Der württembergische Pietismus des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts hatte eine ganz besonders intensive eschatologische Prägung.

5: „D’ Schtond“

Zu den zentralen Reformforderungen Speners gehörte die Bildung von Gemeindekreisen zum Bibelstudium. Er sprach von Erbauungsstunden – Zusammenkünfte, die der geistlichen Stärkung dienen sollten –, Privatversammlungen – private Versammlungen neben den öffentlichen Gottesdiensten – oder lateinisch von Collegia pietatis, von Kollegien zur Frömmigkeitspflege. Die Gegner nannten die Zusammenkünfte Konventikel.

Solche Versammlungen fanden früh auch schon in Württemberg statt und prägten den württembergischen Pietismus ebenfalls in besonderem Maße, bis heute. Kurz und bündig sprachen die Württemberger von der „Stunde“, was aber nicht bedeutete, dass die Versammlungen nur eine Stunde dauerten.

In den pietistischen Versammlungen wurzeln die heute so selbstverständlichen Gemeindekreise ebenso wie die heutigen Hauskreise und Hauskirchen. Erstmals nach anderthalb Jahrtausenden wurde das Haus wieder zu einem Zentrum des christlichen Lebens, wie es in der Anfangs- und Verfolgungszeit des Christentums, bis in das frühe 4. Jahrhundert, gewesen war.

6: Große Pietisten – und Pietistinnen

Johann Albrecht Bengel, Erklärte Offenbarung Johannis..., 1746,Titelblatt

Landeskirchliche Zentralbibliothek Stuttgart

Die bedeutendste Gestalt unter den württembergischen Pietisten war Johann Albrecht Bengel (1687–1752). Zu Recht trägt ein bekanntes Studienhaus in Tübingen seinen Namen, denn Bengel war, obwohl nie Theologieprofessor, ein ausgesprochen gelehrter Theologe. Geboren in Winnenden, aufgewachsen in Marbach, Schorndorf und Stuttgart, wurde er in seiner Jugend durch seinen Pflegevater David Wendelin Spindler radikalpietistisch geprägt. Bengel studierte Theologie in Tübingen und besuchte auf einer Studienreise das pietistische Zentrum Halle an der Saale. Von 1713 an wirkte er als Lehrer an der Internatsschule Denkendorf und bereitete angehende Theologen auf ihr Studium vor. Gleichzeitig verfasste er wissenschaftliche Arbeiten. 1741 wurde Bengel Prälat von Herbrechtingen, 1749 Konsistorialrat in Stuttgart. Bengel starb in Stuttgart und wurde in Stuttgart bestattet. Sein Grab ist leider nicht mehr erhalten. Sein Geburtshaus jedoch steht noch, und seine zahlreichen Briefe werden zurzeit wissenschaftlich ediert.


Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), Ölgemälde von Georg Adam Eger von 1775 in der Stadtkirche Murrhardt

Die theologisch originellste Gestalt unter den württembergischen Pietisten war Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). Der in Göppingen geborene Theologe, der bei Bengel in die Schule gegangen war, wollte eigentlich Judenmissionar werden, schlug dann aber doch in Württemberg die kirchliche Laufbahn ein und wirkte am Schluss in hohen Kirchen leitenden Positionen. Als Pfarrer wirkte er in Hirsau, Schnaitheim und Waldorf, als Dekan in Weinsberg und in Herrenberg, und zuletzt war er Prälat in Murrhardt. Oetinger war ein ausgesprochener Theoretiker. Als einer von nur wenigen pietistischen Theologen verfasste er ein Lehrbuch der Theologie, das allerdings nicht erfolgreich war und nirgends in der Lehre eingesetzt wurde. Sein Leitbegriff war „Leben“. Viel zitiert, weil die Weltzugewandtheit des Christentums unterstreichend, ist sein Satz: „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“. Oetinger interessierte sich auch für die Naturwissenschaften und machte Experimente.


Tabula Chronologica. Weltenziffernblatt von 1823 in der Johanneskirche in Nabern, das auf den Studien zum Weltenende von Philipp Matthäus Hahn beruht.

Landeskirchliches Archiv, Inventarisation

Als Mechaniker-Pfarrer ist Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) in die Geschichte eingegangen. Geboren in Scharnhausen, wirkte er nach seinem Theologiestudium als Pfarrer in Onstmettingen, Kornwestheim und Echterdingen. Seine Freizeit und sein Geld investierte er in den Bau von Uhren und Rechenmaschinen und gab zusammen mit Philipp Gottfried Schaudt der Onstmettinger Feinmechanik kräftige, fördernde Impulse. Besonders spektakulär waren seine Himmelsmaschinen, die er für den württembergischen Herzog baute: astronomische Maschinen, die den Gang der Erde, der Sonne, der Planeten und der Sterne simulierten. An Hahn erinnern Museen in Onstmettingen und Leinfelden-Echterdingen und seine im Württembergischen Landesmuseum ausgestellten mechanischen Arbeiten. Neben ihnen gibt es von Hahn natürlich auch einige theologische Bücher und Predigtsammlungen, und in einer modernen Edition zugänglich sind seit 1979 und 1983 auch die beiden von ihm verfassten Tagebücher, die manche intime Einblicke in sein Geistes- und sein Privatleben ermöglichen und zeigen, dass auch in frommen Familien nicht immer alles zum Besten stand.


Fünf-Brüder-Bild. Michael Hahn (rechts) legt mit einigen Brüdern in der "Stunde" die Bibel aus. Idealisierte Zusammenschau der geistlichen Väter des Hahn´schen Pietismus. Um 1920

Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung, 88.008

Nicht mit Philipp Matthäus Hahn verwandt ist Johann Michael Hahn (1758–1819), ein origineller Laientheologe, auf die die Hahn’schen Gemeinschaften zurückgehen. Geboren in Altdorf bei Böblingen in einer Bauernfamilie, arbeitete er selbst als Bauernknecht und lebte aus religiöser Überzeugung ehelos. Hahn erwarb sich eine erstaunliche Bildung und verfasste zahlreiche Schriften. In Erbauungsstunden scharte er Anhänger und Anhängerinnen um sich. Zu seinen Förderern gehörte auch die Witwe von Herzog Carl Eugen, Franziska von Hohenheim. Sie bot ihm Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten auf ihrem Gut Sindlingen, wo „Michel“ auch starb.


Magdalena Rieger, Kupferstich

Unter den Frauen des württembergischen Pietismus ragt Magdalena Sibylla Rieger (1707–1786) hervor. Sie stammte aus einer pietistischen Pfarrersfamilie und wurde in Maulbronn geboren. Als Fünfzehnjährige heiratete sie in Blaubeuren den Vogt Immanuel Rieger, mit dem sie später nach Calw und weiter nach Stuttgart ging. Nun begann sie pietistische Lieder zu dichten, und zwar in großer Zahl, die von 1743 an auch veröffentlicht wurden. Nach dem Tod ihres Mannes 1758 lebte sie 28 Jahre lang als Witwe in der Landeshauptstadt. Prominent geworden ist Rieger durch Lion Feuchtwangers Roman „Jud Süß“. Hier begegnet sie als „Magdalen Sibylle“ als heimliche Geliebte des Hofjuden Süß Oppenheimer und als Mätresse des Herzogs. Beides entbehrt jedoch jeder historischen Grundlage.


Beata Sturm, Kupferstich

Zu Lebzeiten sehr bekannt und angesehen war Beata Sturm (1682–1730). Sie stammte aus einem gebildeten und wohlhabenden Stuttgarter Elternhaus, musste aber in früher Kindheit harte Schicksalsschläge hinnehmen. Zunächst erkrankten ihre Augen und sie wurde beinahe blind, dann starben beide Eltern. Bei und mit Verwandten wuchs sie auf und lebte sie, zeitweise in Blaubeuren, überwiegend aber in Stuttgart. Sie blieb ehelos und lebte ärmlich. Ihr Vermögen setzte sie für Witwen, Waisen, Arme und Kranke ein. Wegen ihrer Wohltätigkeit nannten sie befreundete Pietisten Tabea, unter Anspielung auf die Tabea/Tabita der Apostelgeschichte, die Jesus-Jüngerin aus Joppe, die gute Werke tat (Apg 9,36). Leidenschaftlich widmete sich Sturm auch dem Gebet. Sie betete privat und öffentlich, leise und laut. Und sie betätigte sich als Seelsorgerin, persönlich und brieflich. In ihren letzten Lebenswochen begann sie eine Auslegung des Matthäusevangeliums niederzuschreiben. Sie blieb unvollendet. Nach Sturms Tod verfasste der Stuttgarter Pfarrer Georg Konrad Rieger eine Lebensbeschreibung der „Sturmin“, die drei Auflagen erlebte.

7: Landeskirchlicher Pietismus

Ansicht von Korntal in den Jahren nach der Gründung, 1820

Stadtmuseum Ludwigsburg

Zu den Besonderheiten des württembergischen Pietismus gehört seine starke Verwurzelung in der Landeskirche. Sowohl die Repräsentanten des Pietismus waren in der Landeskirche verwurzelt, zum Beispiel als Inhaber leitender Ämter, als auch die institutionellen Strukturen, die der württembergische Pietismus herausbildete. Die württembergischen pietistischen Organisationen sehen sich auch heute noch als Teil der Landeskirche, nicht als Alternative und Konkurrenz zur Landeskirche.

Auf den Pietismus des 18. Jahrhunderts zurück geht der Altpietismus, heute organisiert im „Evangelischen Gemeinschaftsverband Württemberg“. Die „Apis“, so die kurze moderne Selbstbezeichnung der Altpietisten, ist an 500 Orten aktiv.

Wurzeln in der Zeit des späten Pietismus hat die Hahn’sche Gemeinschaft. Sie knüpft an an Michael Hahn und ehrt ihn bis heute. Auch die Bezeichnung der Gemeinschaft als „Michelianer“ war und ist gebräuchlich. Etwa 3500 Menschen halten sich zu ihr und besuchen ihre „Stunden“.

Einen pietistischen Kontext hat auch die „Evangelische Brüdergemeinde Korntal“, obwohl sie erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die 1819 in Korntal gegründete pietistische Gemeinschaftssiedlung lebt heute noch in Form einer eigenständigen Kirchengemeinde in Korntal-Münchingen. Die Grundordnung der Brüdergemeinde drückt ihre geistlichen Ziele so aus: „Es ist das Bestreben der Brüdergemeinde, eine brüderliche und tätige Gemeinschaft zu sein, die der Urgemeinde möglichst ähnlich ist, zu einer persönlichen Entscheidung für Christus ruft, das Priestertum aller Gläubigen verwirklicht, die anvertrauten Werke der Liebe verwaltet und fördert und für den wiederkommenden Herrn bereit ist. Sie weiß sich mit allen im Glauben verbunden, die sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn bekennen.“


Pietistenreskript von 1743

In Württemberg beheimatet, aber deutschlandweit tätig ist der „Liebenzeller Gemeinschaftsverband“. Der Verband geht auf die 1906 in Bad Liebenzell gegründete „Liebenzeller Mission“ zurück. Dort hatte sich bereits 1902 der aus Hamburg stammende Pfarrer Heinrich-Wilhelm Coerper angesiedelt, um Missionare auf ihren Dienst vorzubereiten. Schon 1910 begannen die Liebenzeller aber auch im Inland evangelistisch tätig zu werden, und 1932 entstand auf dieser Grundlage der Liebenzeller Gemeinschaftsverband.

Einen festen Platz im württembergischen Pietismus der Gegenwart haben auch „Die Aidlinger“, wie die Aidlinger Schwestern, die als Diakonissen in den Kirchengemeinden nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch evangelistisch tätig waren und sind. Das Mutterhaus, wie die Zentrale klassisch genannt wird, steht in Aidlingen bei Böblingen. Der Gemeinschaft gehören noch 280 Frauen an. In Aidlingen betreiben sie auch eine Bibelschule. 

Aus Anlass des 250. Jubiläums des geschichtsträchtigen Pietistenreskripts von 1743 haben Landeskirche und Pietismus 1993 eine Vereinbarung getroffen („Pietisten-Reskript 1993“), die die Stellung des Pietismus in der Landeskirche und das Miteinander näher regelt.

8: Radikaler, separatistischer Pietismus

Die Rappistensiedlung New Harmony, USA, Stahlgravur von Karl Bodmer 1832 oder 1833

Wie überall im Pietismus gab es auch in Württemberg radikale, separatistisch gestimmte Geister, die früher oder später mit der Landeskirche brachen und aus ihren pietistischen Gruppen eigene Kirchen machten.

Zu ihnen gehörte der Weber Johann Georg Rapp aus Iptingen. Schon vor 1790 sammelte er eine Schar von Pietisten um sich, die ihre Kinder nicht mehr tauften und nicht mehr zur Schule schickten. Die Teilnahme am Abendmahl wurde verweigert, ebenso die Ablegung von Eiden. Die Obrigkeit schritt gegen Rapp und seine Anhänger, die auf 10.000 Personen geschätzt wurden, ein. 1803 wanderte Rapp nach Amerika aus, etwa 700 Anhänger folgten ihm. In Pennsylvanien entstanden religiös und wirtschaftlich blühende Siedlungen, die aber zum Untergang verurteilt waren, weil Rapp und seine Anhänger ehelos lebten und alle Eheschließungen verboten. Die letzten Rappisten starben um 1850.


Gemeindesaal der Temepelgesellschaft auf dem Kirschenhardthof, Aufnahme von 1866

Archiv der Tempelgesellschaft

Mehr Aufsehen als der Weber Rapp erregte und vor allem größere Wirkungen erzielte der Theologe Christoph Hoffmann. Geboren in Leonberg und Sohn des späteren Korntal-Gründers Gottlieb Wilhelm Hoffmann, wirkte er nach seinem Studium in Tübingen zunächst als Lehrer in Ludwigsburg. 1848/49 war er Abgeordneter im Frankfurter Parlament, der „Paulskirche“. In einer letztlich in Bengels und Oetingers Zukunftsvisionen gründenden Endzeitstimmung, richtete er seinen Blick nach Osten und erwartete eine Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem. 1859 wurden Hoffmann und seine Anhänger als Sektierer aus der Landeskirche ausgeschlossen. 1861 gründete er eine eigene religiöse Gemeinschaft unter dem Titel „Deutscher Tempel“. 1868 erfolgte die Auswanderung nach Palästina, wo die „Templer“ eine wichtige Aufbauarbeit leisteten, an die die zionistische Bewegung anknüpfen konnte. Siedlungen gab es in Haifa, Jaffa und Jerusalem. Als Folge des Zweiten Weltkriegs deportierten die Palästina beherrschenden Englänger die Templer nach Australien. Heute zählt die Gemeinschaft noch einige hundert Mitglieder.

9: Württembergischer Pietismus und …

… Bibel

Losungskästchen, um 1880

Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung

Die pietistische Bewegung war eine Bibelbewegung. Im Zentrum der pietistischen Frömmigkeit standen Jesus Christus und die Bibel, und zwar die Bibel in beiden Teilen, Altes und Neues Testament, und die ganze Bibel, jedes Buch, jeder Satz – ohne Abstriche.

Obwohl alle Pietisten, von wenigen Enthusiasten und Mystikern abgesehen, die Bibel ins Zentrum ihrer Frömmigkeit stellten, bekam die Bibel im württembergischen Pietismus noch einmal eine besondere Stellung und Bedeutung. Hierfür war der Bibeltheologe und Vater des württembergischen Pietismus Johann Albrecht Bengel von prägender Wirkung, der sich in seiner gelehrten Arbeit intensiv der Bibel zuwandte.

Bengel forschte nach dem Urtext des Neuen Testaments, er schuf eine wissenschaftliche, für studierte Theologen gedachte Auslegung des Neuen Testaments (Titel: Gnomon) und er hielt und publizierte erbauliche Auslegungen für den Gemeindegebrauch. Als Urtext-Forscher war Bengel seiner Zeit weit voraus und antizipierte ein Anliegen der späteren Aufklärungstheologie. Konkret ging es um das Problem, dass wir das Neue Testament nicht im Original besitzen, sondern nur in verschiedenen älteren Abschriften aus der Frühzeit des Christentums, die sich in ihrer Textgestalt an manchen Stellen nicht unerheblich unterscheiden. Bengel und schon vor ihm Erasmus von Rotterdam, der große Humanist, und nach ihm die Theologen der Aufklärung versuchten, durch einen Vergleich der verschiedenen Handschriften mit ihren verschiedenen „Lesarten“ zu erschließen und zu entscheiden, wie – zum Beispiel – Paulus’ Römerbrief ursprünglich, im Original lautete. Um zu entscheiden, brauchte man Leitgedanken wie der, dass meistens die schwieriger zu verstehende Variante die bessere, die ursprüngliche ist. Manche der Leitsätze, die Bengel vor beinahe 300 Jahren aufstellte, gelten noch heute. Die moderne Textforschung am Neuen Testament, sie hat ihren Sitz in Münster, verwendet als Grundlage allerdings ungleich mehr Handschriften als Bengel zur Verfügung hatte.

Bengel war Bibeltheologe – und Biblizist. Der Begriff Biblizismus für eine besonders bibeltreue Haltung ist zwar erst im 19. Jahrhundert im Umfeld Tholucks aufgekommen, aber auch Bengel glaubte an die göttliche Inspiration der Bibel, und alles in der Bibel Mitgeteilte war für ihn wichtig und richtig. Bibelkritik, Sachkritik an der Bibel, wie sie vor Bengel schon der Jude Spinoza und nach Bengel die Theologen der Aufklärung geübt hatten, war aus seiner Sicht nicht erlaubt. Bengel gab dem württembergischen Pietismus seine bis heute fortbestehende strenge biblizistische Prägung.

Die starke biblische Prägung des württembergischen Pietismus und der württembergischen Landeskirche zeigt sich in vielen Dingen bis heute, auch darin, dass in Stuttgart die Deutsche Bibelgesellschaft ihren Sitz fand. Ihre Wurzeln liegen in der 1812 gegründeten Württembergischen Bibelanstalt. Heute verbreitet sie 500.000 Bibeln jährlich.

… Juden

Pietisten interessierten sich für das Judentum und die Juden, auch für die Juden, die in sogenannten Judenorten Seite an Seite mit Christen lebten. Im Württemberg des 18. Jahrhunderts gab es, zumindest zeitweise, Juden in Affaltrach, Besigheim, Derdingen, Freudental, Hochberg, Horkheim, Ludwigsburg, Stuttgart, Talheim (bei Heilbronn), Zaberfeld. Bengel und Oetinger hatten Kontakte mit Juden und glaubten, dass Gott seinem ersten und eigentlichen Volk eine herrliche Zukunft ausersehen habe. Als 1728 von Halle aus mit einer organisierten Judenmission begonnen wurde, war ein württembergischer Pietist, der Theologe Johann Georg Widmann aus Weilheim an der Teck, einer der Ersten unter den aktiven Missionaren.

Der Judenhass war im 18. Jahrhundert groß. Viele einflussreiche Württemberger hätten am liebsten alle Juden aus Württemberg vertrieben. Die Pietisten wirkten in dieser aufgeladenen Stimmung vielfach mäßigend. Bei Oetinger finden sich sogar ansatzweise Toleranzforderungen. Er forderte die Regenten schon 1759 dazu auf, „die Verordnungen zu zernichten, welche die Juden bey den Christen verächtlich machen“ und drohte: „GOtt wird die Herrschaften zu seiner Zeit zur Rechenschaft ziehen um alles Uebel, das sie den Juden angethan“. Als Dekan von Weinsberg, in den fünfziger Jahren, stellte er das zuvor übliche Lamentieren über die Horkheimer Juden ein.

… Technik

Der Pietismus entstand und etablierte sich im Zeitalter der Aufklärung. Während Pietisten nach neuen Formen christlicher Frömmigkeit fragten, begannen Aufklärer damit, die Natur mit empirischen Methoden zu erforschen und der Industrialisierung den Weg zu bereiten. Einzelne Pietisten interessierten sich auch für Naturwissenschaft und Technik, und auch in diesem Bereich hat Württemberg eine Besonderheit zu bieten, den pietistischen Mechaniker-Pfarrer Philipp Matthäus Hahn.

Er ist als der „Mechanikerpfarrer“ in die Geschichte eingegangen. Hahn, 1739 in Scharnhausen südlich von Stuttgart geboren, war ein Schüler und Anhänger Bengels und wirkte als Pfarrer in Onstmettingen, Kornwestheim und Echterdingen. Schon früh interessierte er sich außer für Theologie auch für die Technik. Er richtete Werkstätten ein und baute Waagen, Uhren und Rechenmaschinen. In einigen Bereichen machte er innovative Erfindungen, außerdem förderte sein Engagement den wirtschaftlichen Aufschwung der armen, zuvor nur landwirtschaftlich geprägten Region auf der Südwestalb, wo Onstmettingen liegt. Noch heute gibt es dort feinmechanische Industrie.

Hahns Arbeiten waren in ganz Deutschland, ja über Deutschland hinaus geschätzt. Eine Spezialität des Erfinders und Konstrukteurs waren so genannte Weltmaschinen. Das waren große, mehrteilige, in verschiedenen Gehäusen untergebrachte Uhren, die nicht nur Stunden, Minuten und Sekunden anzeigten, sondern auch Tage, Monate und Jahre, und außerdem: die Sternkonstellationen und den Verlauf der Weltgeschichte. Bei der Darstellung des Laufs der Planeten und der Sternbilder stellte Hahn die damals noch miteinander konkurrierenden Weltbilder nebeneinander, das geozentrische und das heliozentrische. Hahn war, trotz aller Modernität, von der Richtigkeit des traditionellen geozentrischen Weltbildes überzeugt, das er als allein mit der Bibel vereinbar ansah. Gleichwohl präsentierte er in seinen Weltmaschinen auch das von Nikolaus Kopernikus (1473–1543) vertretene heliozentrische Weltbild, das sich mehr und mehr als zutreffend erweisen sollte. Bei der Darstellung des Verlaufs der Weltgeschichte folgte Hahn der Bibelexegese und Zeitberechnung Bengels. Ein großer Zeiger schritt auf den Uhren der Weltmaschinen den Gang der Weltgeschichte ab, wobei auf den Zifferblättern sowohl die Schöpfung als auch die Geburt Jesu und der erwartete Beginn des Gottesreichs auf Erden im Jahre 1836 dargestellt wurden. Hier wirkte sich die pietistische Theologie in den Werken des Mechanikerpfarrers ganz konkret auf die Gestaltung seiner technischen Bauwerke aus.

… Tiere

Titelblatt der Schrift von Christian Adam Dann, Bitte der armen Tiere, 1822

Landeskirchliche Zentralbibliothek

Mit größter Selbstverständlichkeit sprechen Christen heute von ihrer Verantwortung für die Schöpfung. Umweltethik ist ein Thema der Theologie geworden. Das war noch nicht immer so. Von Einzelnen wie Franz von Assisi einmal abgesehen interessierten sich die Christen früherer Zeiten nur für den Menschen und sein Verhältnis zu Gott, aber nicht für Tiere und Pflanzen und nicht für das Klima. Das Umdenken auch in dieser Frage begann im Pietismus und auch hier kam dem württembergischen Pietismus eine besondere Bedeutung zu. Im Jahre 1711 schrieb der Leonberger Pfarrer Adam Gottlieb Weigen, ein Pietist, ein bahnbrechendes, aber wenig beachtetes Buch über die Rechte und Pflichten des Menschen im Umgang mit den Kreaturen. Auch andernorts wurden Stimmen laut, die in Anlehnung an Spr 12,10 und andere Bibelstellen einen barmherzigen Umgang der Menschen mit den Tieren, insbesondere mit den Nutztieren forderten. Im Jahre 1822 veröffentlichte der Mössinger Pfarrer Christian Adam Dann eine „Bitte der armen Tiere“, in der er die von ihm beobachtete Grausamkeit vieler Menschen Tieren gegenüber anprangerte, und im Jahre 1832 ließ er einen „Aufruf“ folgen, in dem er praktische Maßnahmen zum Schutz der Tiere anregte und die Gründung eines darauf ausgerichteten Vereins, nach englischem Vorbild, erwog. Im Jahre 1837 gründete Danns Schüler und Freund, der württembergische Pfarrer und Hymnologie Albert Knapp, wie Dann ein Pietist, in Stuttgart den allerersten Tierschutzverein Deutschlands.

… Mission

Missionstraktate

Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung

Im Neuen Testament gibt es den Missionsbefehl Jesu, aber die Christen waren nicht zu allen Zeiten missionarisch. Gerade die evangelischen Kirchen hatten anfangs kein Interesse an der Mission, da sie meinten, gemäß Mt 28,16–20 habe Jesus den Missionsbefehl den Jüngern, also den Aposteln gegeben, nicht allen Christen. Die Apostel hätten diesen Auftrag, wie das Neue Testament bezeuge, eingelöst. Das Evangelium sei bereits allen Völkern gepredigt worden. Für die heutige Christenheit gebe es deswegen keinen Missionsauftrag mehr, wie es ja auch keine Apostel mehr gebe.

Auch diese Haltung zur Mission änderte sich im Pietismus, zunächst bei August Hermann Francke in Halle und bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf in Herrnhut.

Von den württembergischen Pietisten erwarb sich Johann August Urlsperger Verdienste um die Missionsbewegung, aber auf verschlungenen Wegen. Urlsperger war Pietist, aber kein wirklicher Württemberger, denn er wurde 1728 in Augsburg geboren, wo sein Vater Samuel Urlsperger, ein prominenter württembergischer Theologe, 1723 Pfarrer geworden war, nachdem er in seiner Heimat wegen seiner Kritik am Lebensstil des Herzogs in Ungnade gefallen war. Johann August studierte Theologie zwar auch in Tübingen, trat aber auch in den Augsburger Kirchendienst ein. Seit 1775 verfolgte er den Plan, eine „Christentumsgesellschaft“ zu gründen, die dem Geist der Aufklärung wehren und das praktische Christentum fördern sollte. Die Gesellschaft wurde 1780 in Basel gegründet. Als leitende „Sekretäre“ wirkten Württemberger wie Karl Friedrich Adolf Steinkopf (geb. in Ludwigsburg), Christian Gottlieb Blumhardt (geb. in Stuttgart) und Christian Friedrich Spittler (geb. in Wimsheim). 1815 ging aus der Gesellschaft die „Basler Missionsgesellschaft“ hervor, eine pietistisch-missionarische Missionsanstalt, deren erster Leiter ebenfalls ein Württemberger war, der eben erwähnte Blumhardt. Weitere, im Schoße der Christentumsgesellschaft entstandene Missionsorganisationen waren die 1820 gegründete „Basler Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden“ und die 1840 gegründete „Pilgermission auf St. Chrischona“. Als Missionare wirkten ebenfalls viele Württemberger, viele württembergische Pietisten.

Mit der Basler Mission entstand eine wichtige und prominente evangelische Missionseinrichtung, die heute allerdings keine pietistische Prägung mehr hat.

10: (Nach-)Wirkungen

Die Wirkungen und Nachwirkungen des Pietismus, gerade auch des württembergischen Pietismus, sind zahlreich.

Der insbesondere von Bengel entwickelte Reich-Gottes-Gedanke wurde, in gewandelter, mehr diesseitiger Form, im 19. Jahrhundert zum Gemeingut des deutschen Protestantismus. Insbesondere Albrecht Ritschl, der in Tübingen Theologie studiert hatte, verbreitete und propagierte den Gedanken. Er verglich das Christentum mit einer Ellipse, die anders als der Kreis nicht einen, sondern zwei Brennpunkte hat. Die zwei Brennpunkte oder Kerngedanken des Christentums seien die Erlösungsbotschaft und die Reich-Gottes-Idee. Das Reich Gottes verstand Ritschl aber, etwas anders als Bengel, als eine von dem Menschen selbst zu schaffende sittliche Gemeinschaft, die in Familie, Beruf und Staat zu verwirklichen sei.

Der Reich-Gottes-Gedanke findet sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert ferner bei Johann Christoph Blumhardt und seinem Sohn Christoph Friedrich Blumhardt und entfaltete dort ganz eigene Wirkungen. Der Vater steht für eine spektakuläre Krankenheilung in Möttlingen, an seinem Gemeindeglied Gottliebin Dittus, und für den Ausbau von Bad Boll zu einem christlichen Heilungs- und Lebenszentrum. Sein Sohn führte die Arbeit fort, entfernte sich aber vom kirchlichen Pietismus und verband seinen Reich-Gottes-Gedanken mit der sozialistischen Arbeiterbewegung. Mehrere Jahre lang vertrat er die SPD im württembergischen Landtag.


Blick zum Bad Boller Kurhaus, Fotografie von A. von der Trappen, 1910

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 5526

In Möttlingen gibt es eine Blumhardt-Ausstellung zu sehen im ehemaligen Haus der Gottliebin Dittus, und Bad Boll beherbergt eine Evangelische Akademie, die im Nachkriegsdeutschland von sich reden gemacht hat. Das Kurbad wird seit 1920 von der Herrnhuter Brüdergemeine betreut. Sehenswert ist auch der Historische Blumhardt-Friedhof in Bad Boll.

Über Albert Schweitzer fand die neue Tierethik als Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ Verbreitung. Schweitzer hatte nachweislich Schriften Danns gelesen und war von ihnen beeindruckt, als er, in nicht-pietistischem Gewand, seine Ethik entwickelte. 

Auch die Keime der Judenfreundschaft trugen später Wirkung. In Stuttgart gab es seit 1926 ein „Jüdisches Lehrhaus“, eine Art jüdische Volkshochschule. Hier kam es am 14. Januar 1933, am Vorabend der „Machtergreifung“ Hitlers, zu einem bemerkenswerten jüdisch-christlichen Dialog. Der sehr bekannte jüdische Kulturphilosoph Martin Buber sprach in Stuttgart mit dem weniger bekannten, aber zum Dialog mit Juden bereiten Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt über „Kirche, Staat, Volk, Judentum“ und löste in Schmidt, der von 1934 an, aus Deutschland vertrieben, in Basel lehre, einen Lernprozess aus, der ihn zu einem ausgesprochenen Israel-Freund werden ließ. An das Lehrhaus, das 1935 geschlossen werden musste, knüpft seit 2010 das „Stuttgarter Lehrhaus – Stiftung für interreligiösen Dialog“ an. 

Viele württembergische Christen leisteten Hilfe in der NS-Zeit. In Württemberg wurden viele Juden versteckt und vielen Juden wurde zur Flucht in die Schweiz verholfen. Nach 1945 waren württembergische Theologen führend im Aufbau eines christlich-jüdischen Dialogs und unterstützten die Israelarbeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Aber auch in der – heute sehr umstrittenen, weil von vielen Christen verworfenen – Judenmission sind, pietistisch motiviert, viele württembergische Christen engagiert. Der Evangeliumsdienst für Israel hat seinen Sitz in Ostfildern-Kemnat. 

Auch im württembergischen Unternehmertum lebt der der Welt zugewandte Geist des württembergischen Pietismus weiter. Es ist kein Zufall, dass es unter den württembergischen Mittelständlern viele Pietisten gibt.

Auch die Demokratie hat in Württemberg kräftigere Wurzeln als in anderen Regionen Deutschlands. Württemberg war einmal das Land des Liberalismus. Demokratische und freiheitliche Ideale wurden von Männern und Frauen vertreten, die zunächst in ihren Kirchen und in ihren kirchlichen Gemeinschaften gelernt hatten, den Mund aufzumachen, Verantwortung zu übernehmen, in die Hände zu spucken. Pietistische Gemeinschaften waren eine Schule der Demokratie.

Und nicht zuletzt ist an die theologisch und praktisch vergleichsweise stabile Landeskirche Württembergs zu erinnern. Dass sie im Konzert der Landes- und Freikirchen so gut dasteht, dass sie einen noch immer guten Gottesdienstbesuch und eine noch immer intensive Jugendarbeit vorweisen kann, ist nicht zuletzt ihrer pietistischen Tradition und dem Engagement des heutigen Pietismus zu verdanken, der sich allen Drohungen zum Trotz in seiner Mehrheit nie von seiner Kirche getrennt, sondern in ihr – mit Erfolg – gestaltend gewirkt hat.

11: Pietismusforschung

Die Erforschung der Geschichte des Pietismus und seiner Wirkungen hat heute zwei feste Standbeine, zum einen das Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung in Halle an der Saale, gegründet 1993 am Wirkungsort August Hermann Franckes, zum andern die von der Union Evangelischer Kirchen (UEK) und den Evangelischen Landeskirchen sowie evangelischen Freikirchen getragene Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus, gegründet 1964, in der württembergische Kirchenhistoriker, darunter Gerhard Schäfer und Martin Brecht, eine maßgebliche Rolle spielten.

Aktualisiert am: 24.05.2022